Kardels Tagebuch: 1915-1918

Einträge von März bis Juni 1915

Einträge von März bis Juni 1915

Einträge von März bis Juni 1915

Harboe Kardel
Frankreich
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Kardels Tochter Elsbeth Kardel Knutz hat unserer Zeitung die eigenhändig abgetippten Tagebücher zur Verfügung gestellt, sodass Der Nordschleswiger bis zum Ende der Aufzeichnungen bis 2018 Kardels Tagebucheintragungen abdrucken kann. Die Einträge sind immer am 1. eines Monats 100 Jahre später abrufbar.

März 1915

9. März 1915
„Ich wurde  feldmarschmäßig  ausgerüstet Und zum Transportführer ernannt: „Sie sind morgen Transportführer. Führen Sie ihre Leute  (ca. 30) 5 Uhr 15 hinauf zur Abteilung“.  Ich freute mich sehr, das lange Warten war zu Ende. Ich sollte also 30 Leute nach Noyon (Fr. Picardie) führen, zum Stab der Munitionskolonne des Reservekorps. Endlich, langsam wurde es 4 Uhr. Da wurde alles zusammengepackt. Ich sollte den ganzen Transport führen. Beim Marsch zum Bahnhof kam ich zum ersten mal  – vor die Front. Die Last war mir fast zu schwer. Der Schweiß lief mir in hellen Tropfen von der Stirn. Außerdem war es so glatt, dass ich oft ausglitt. Wachtmeister Staack sagte: „Ich glaube unser Transportführer ist besoffen“.  Überall wurde unser Zug mit Begeisterung begrüßt. Die Fahrt ging über Hamburg-Harburg und Rotenburg.  Unterwegs gab´s Erbsensuppe und Kaffee. Weiter nach Osnabrück. Wir freuen uns dass es nach Frankreich geht und nicht nach Russland.“

10. März 1915
Osnabrück erreichten wir eben vor dunkelwerden. Nachts um 10.30 wurden wir auf irgendeiner Station heraus getrommelt. Wir bekamen ein halbes Schwarzbrot, ein Stück Blutwurst und einen Becher dünnen Kaffe. In einigen Abständen schlief ich auf dem Fußboden. Da konnte ich mich ausstrecken. Den Rhein und Köln hatte ich leider verschlafen, aber ich bewunderte die großen Industrieanlagen um Aachen.
Nachdem wir in Herbesthal einen einfachen Imbiss eingenommen hatten, überschritten wir mit Hurra die belgische Grenze. Kein freundlicher Gruß klang aus den Häusern. Es war, als wenn sie unbewohnt wären, und zeigten sich Belgier, so sahen sie uns in ihrer unterdrückten Wut mit verschlossenen Gesichtern an. In einzelnen Ortschaften sahen wir zerschossene Häuser – die traurigen Spuren des gewaltigen Weltkrieges.  Unsere Fahrt ging von Lüttich nach Namur und Charleroi
Schneller als wir es gedacht haben, kamen wir in Chauny (Fr.) an. 
Dort wurden wir in ein verlassenes Haus untergebracht. Es war doch ein eigenartiges Gefühl, als wir durch die stillen Straßen Frankreichs gingen, dessen Truppen gegen unsere feste Front anrannten. Am nächsten Morgen fuhren wir bis nahe vor Noyon (Picardie, Fr.) Dann begann die größte Strapaze, die ich bisher durchgemacht habe – der Marsch mit dem zentnerschweren Rucksack nach Guiscard – wir machten alle Stunde Pause. Ich weiß nicht, wie es gegangen wäre, wenn nicht 3 km vor Guiscard ein Lastauto unsere Rücksäcke und 20 Mann mitgenommen hätte.
Ich bekam zunächst einen Verweis von dem Wachtmeister, weil ich die Leute hatte mitfahren lassen. Ich meldete die Kolonne dem Adjutanten und dem Oberst von Stubenrauch. Er schickte uns mit der Kleinbahn weiter nach Noyon zur Res. Mun. Kol. Abt. 18 zum Major Kelbling.  Als er jedoch nirgends zu finden war wiesen mich 3  Leutnants zu der Wohnung des Majors, ein freundlicher alter Herr. Er brachte uns in der Dragoner Kaserne unter. Ich war sehr müde und schlief auf meinem Strohlager großartig.
Der weg von Noyon nach Villeselve wurde fast noch saurer als der nach Guiscard gestern. 20 Km. in drückender Schwüle mit dem schweren Gewehr, Brotbeutel und Seitengewehr ist wahrhaftig keine Kleinigkeit. Doch wir kamen hin – wie immer – es muss gehen und es geht auch. Oberleutnant Meyer begrüßte uns, und der Etatmäßige schrieb uns auf und teilte uns ein. Ich kam in den 4. Zug, den ein Kanonier Bruch führt. Von allen Landwehrleuten wurde ich freundlich aufgenommen. Abends bekam ich 2 Zigarren und 2 Zigaretten. Überhaupt lebt man hier viel besser als in der Garnison. Sonnabendmorgen ging ich zum Dreschen. Dort wurde bis 12 Uhr wacker gearbeitet. Die weiblichen Bewohner des Dorfes mussten auch feste mit anfassen. Ja, die Engländer denken uns auszuhungern und wir Dreschen den Franzosen das Korn aus und machen es uns nutzbar. Also mitten im Kriege Friedensarbeit um auf alle Fälle vorbereitet zu sein und sicher zu gehen. Als ich mit meiner Forke nach Hause ging, schien die Sonne warm und Hell.

13. März 1915
Am Sonntag, nach dem Appell spielte ich auf dem Klavier im Kasino. Abends leerte ich mit dem „Camarade á la Batterie” 2 Flaschen Franz. Wein.
Montag taucht das Gerücht auf, dass unsere Kolonne nach Russland kommt. Heute Nachmittag ist Impfung gegen Cholera. Abends spielte ich wieder Klavier im Kasino und wurde von Oberstleutnant eingeladen mich zu ihnen zu setzen. In diesem gemütlichen Kreise verlebte ich ein paar schöne Stunden. Wachtmeister Brack bot mir an, bei ihm Reitstunden zu nehmen, was ich dankend annahm. Die erste Reitstunde gab´s gleich am nächsten Tage nach dem Kirchgang, bei dem ich in der Kirche die Orgel spielte.
Heute erhielt ich Grüße aus der Heimat.

21. März 1915
Bruder Andreas wird heute konfirmiert!
Heute Abend ritt ich um 6 Uhr mit Sattelkissen und Trense. ”Bega” wollte keinen Trab gehen, sondern setzte sich immer im Galopp und brach aus in dem Apfelgarten!!

22. März 1915
Ich ließ mir meine Hand vom Sanitäter verbinden und ging dann zum Dreschen. Hansen und Stieger spielten eine Partie Skat.
Am nächsten Morgen lobte eine Französin mich beim Dreschen. Nachmittags gings nach der mütterlichen Freundin der kleinen schielenden Madeleine. Wieder verleugnete die gute Frau nicht ihre große Gastfreundschaft. Das Reiten ging großartig. ”Bega” ging sehr ruhig. Zuletzt nahm ich Graben und Hürde!

26. März 1915
Von Grete Harmsen erhalte ich ein Paket, über das ich mich sehr freute. Wie viel mehr würde ich mich freuen, wenn sie jetzt bei mir wäre.
An meiner rechten Hand entwickelt sich eine Entzündung die von einem Splitter herrührt, so bin ich denn glücklich an beiden Händen verwundet. Das Reiten viel leider aus, wegen der Pferderevision morgen.

27. März 1915
Heute morgen bei der Pferderevision musste ich Thiessens Pferde vorführen. Der Fuchs, der zurück bleiben sollte, schlug vorne und hinten aus, wahrscheinlich weil er von seinen „Genossen” getrennt war. Zuletzt setzte ich mich drauf.
Als ich später mit meinen Kameraden in der Schlafkammer lag, fuhr Wachtmeister Maas vor und bestellte mich um 7 Uhr ins Kasino.

28. März 1915
Gottseidank, heute ist die Maschine kaputt. Habe auch nach dem feuchten Bierabend gar keine Lust zum Arbeiten.

Montag, 29. März 1915
Heute Nachmittag beendeten wir das Dreschen bei der guten, freigebigen Madame Alice. Nachher hoben wir unter Anführung des Etatmäßigen und des Gefr. Möller eine Miete aus, die eine schöne Menge von Kartoffeln barg. 
Das Reiten viel aus, weil ”Bega” gerade am Fressen war. 
Morgen Nachmittag soll ich mit Wachtmeister Brack einen Geländeritt in den Wald südlich des Dorfes machen. Nach Mittag ritt ich Bracks Fuchs auf der grünen Koppel. 
Um halb sechs Abendmahl. Ich musste wieder auf der Orgel begleiten.

Dienstag, 30. März 1915
Gestern fing das Streichen der Munitionswagen an. Abends das Reiten bei Brack. Galopp ging nicht besonders gut. Ich konnte den rechten Sitz nicht herausbekommen.
Über ein Paket, das mir die Herstellung von Thepunsch ermöglicht, von Prof. Dr. Clausen (Sepp), freute ich mich sehr.

 

April 1915

Dienstag nach Ostern 6. April 1915
Heute Munition von Anrilly  geholt. Herrliche Fahrt---Endlich mal etwas anderes!

Mittwoch 7. April 1915
Heute morgen wurden in dem schönsten Dreck die Munitions Wagen gewaschen. Ich hatte mir einen Eimer geholt und ging neben Brack. Der Etatmäßige sagte zu mir: Nun, kommen Sie auch schon?”  Ich gab ihm die nötige Erklärung. Doch musste ich unwillkürlich an meine militärische Gemeinheit denken. Was nützt es mir, wenn ich mit meinen Vorgesetzten fast als Kamerad verkehre und mit ihnen esse. Am nächsten Tag muss ich doch wieder mein schmutziges Arbeitszeug anziehen und mich anschnauzen lassen genau wie jeder andere Kanonier.

8. April 1915
Gestern bekam ich eine Kiste Cigarren von „Itje“ (Prof. Knüppel). In ddem gestrengen, pedantischen Prof. steckt doch ein gutes, mitfühlendes Herz. Heute Nachmittag wurde Muni-Wagen gestrichen. Einmal überraschte mich der Etatmäßige, als ich im Stall mit 2 Fahrern sprach. – Das Reiten ging ganz großartig. Zuletzt ging „Bega“ sogar einen feinen, langsamen Dauergalopp.

15. April 1915
Nachmittags, etwa um viertel vor drei, wurden Kanonier Putzieha und ich zum Etatmäßigen befohlen. Wir hörten es schon auf dem Wege – wir sollten in Ham Russen bewachen. Ich sagte nichts dagegen, fügte mich still in das Unvermeidliche, hoffte aber immer noch, dass meine Freunde die Wachtmeister oder der Oberleutnant, sich für mich ins Mittel legen würden, doch keine meiner Hoffnungen erfüllte sich. Der Abschied vom 4. Zug und meinem gemütlichen Stübchen wurde mir sehr schwer.
Wie gerne wäre ich in Villeselve geblieben! Wir wurden auf einen Wagen geladen und fort ging´s. Zum Schluss ermahnte der Oberleutnant noch: „besonders die Kriegsfreiwilligen sich ordentlich zu benehmen“–, wie man es wohl so zu einem Schulknaben sagt, wenn er sich allein überlassen ist.  Dann sagte er: „So, dann fahrt nur los.“ – Damit war ich in „Ehren“ von Kolonne 29 verabschiedet, in der ich so viel zu bedeuten glaubte. Und so kam ich auch bei der Russenwache an, genauso hundsgemein wie die, die schon da waren und die, die mit mir kamen. So wird´s auch bleiben. Von einer Abteilung  zur anderen geschmissen. Die Leute lernen mich kennen, fassen mehr oder weniger Interesse für mich und lassen mich so wieder laufen wie ich gekommen bin. Und dabei möchte ich so gern weiter! Was nützt mir das, wenn man mich zum Abendbrot einlädt, mich durch wohlwollen auszeichnet und nachher wegschickt, um russische Gefangene zu bewachen? Was jeder in der Kolonne besser kann als ich! Dazu musste ich noch die Regimentsmusik im Kasino so wunderschön spielen, und die Offiziere sangen so begeistert. Ich sah sie sitzen beim Wein unter lustigen Scherzen in froher Geselligkeit. Und ich – Russenwache – es war grässlich. Ach, wäre der Krieg doch erst aus, dann hätte das alles ein Ende! Ich habe keine Begeisterung mehr. Und dazu die Selbstanklage: „Warum bist du nicht zur Ring-Kanonen-Batterie gegangen? Du hofftest, in der Kolonne eher befördert zu werden, als vorn.“
Es war eine qualvolle lange Nacht!! 
Die abgelösten Mannschaften fahren heute zu ihrer Kolonne zurück, und ich muss hier bleiben. Das ist eine (verzeih´ das Wort) Schweinerei!!!

Freitag 16. April 1915
Als ich von 12-24 Uhr Posten stand, exerzierte auf der Wiese vor mir Infanterie, junge Kriegsfreiwillige kommandierten. Aber will ich nicht in mir selbst Genüge und Zufriedenheit suchen? –Werde ich sie nicht ebenso gut in dem Kanonier Kardel wie in dem Lt. Kardel finden? Ich ließ mir von einem russischen Feldwebel ein Aluminiumring schmieden.

19. April 1915
Sonnabend sagte mir Wachtmeister Stegemann, der Leiter der Kleinbahnstation in Ham, dass ich sein Ordonanz werden solle. Ich war froh – 10 Stunden Wache zu stehen, das war zu langweilig. 
Sonntag trat ich meinen Dienst als Schreiber an. Wenn ich auch immer beschäftigt war, gefiel es mir in der kleinen gemütlichen Holz-Bude besser als draußen auf Posten.
Rudolf  Suhren (mein Vetter), wünscht, dass ich ihn in Guiscard besuche, wo  er an einen Kursus teilnimmt.

Dienstag, 20. April 1915
Mittags hielt Wachtmeister Brack mit Bader vor unserer Tür. Gar zu gern wäre ich mit ihm zurück nach Villeselve gefahren. Von dem Bahnpersonal gefällt mir am besten der lange Bäumer aus Köln, vom dem der alte Stieger sagte: ”Du bist so´n großer Kerl, und bist an der Kleinbahn?” – Es sieht auch köstlich aus, wenn der lange Kerl zwischen den Kleinbahnwagen umherspringt.

Was ist der Zweck des unendlichen Pioniermaterials, dass sie hier hindurch schaffen? Sie wollen die Front befestigen und ausbauen, bis sie nicht mehr zu durchbrechen ist. Umso weniger Leute brauchen sie in Frankreich, um so mehr werden frei des Niederkämpfens Russlands. Lass´Sie nur kommen! An dieser Festung werden sie sich die Köpfe einrennen.

22. April 1915
Heute Nachmittag besuchte uns der dicke Feldwebel der E.B.K. 18 in unserem Blockhaus. Ihm ging das Essen über alles, doch gestand er diese seine Leidenschaft mit solchem Humor, dass ihm keiner zürnen konnte. 

24. April 1915
Schöne bunte Lieder singt man voller Lust, schöne bunte Blumen steckt man an die Brust. Volle würz`ge Flasche leert man bis zum Grund. Schöne holde Mädchen küsst man auf den Mund!
Dieses schöne „Lebenslied“ habe ich vom Gefreiten Putzieha gelernt.
Bei Verdun wieder viele schöne Erfolge. – Sollte es wirklich wieder vorwärts gehen?

26. April 1915
Am Sonntagmorgen fasste ich den löblichen Entschluss, meinen Vetter Suhren in Guiscard zu besuchen. Die Fahrt auf den Puffern der Kleinbahn war nicht schön. Nach dem Halt stieg ich auf die Plattform der Lokomotive. In G. traf ich Vetter Rudi und Chr. Brautlecht. –
Viele alte Erinnerungen wurden in der gemütlichen Klause ausgekramt.
Schöner taufrischer Morgen am nächsten Tag! Über Golancourt ging ich nah Ham zurück und kam, zuletzt per Auto, um halb acht im Russenlager an.
Abends wollte mich ein Oberleutnant aus Guiscard bestrafen, weil ich 3 Kartoffelwagen anstatt ans Etappen-Kommando ans Korpsproviantamt Guiscard geschickt hatte. Feldwebel Czaska machte mir viel Mut und sagte: „Uns kann  keiner!“
Wachtmann Wollburg, der mit Maaß zusammen hier war, soll gesagt haben, wir würden am Sonntag  abgelöst werden, da die jüngeren nach vorne in die Batterie sollen. Ich werde auch nicht eher zufrieden und ruhig sein, als bis ich da bin. Mag es gehen wie es will. Der Gefr. Bäumer tritt gleich seinen Arrest an, der ihm unschuldigerweise aufgebrummt ist.
Kaum jemals fühlte ich das machtvolle Heranreifen des Frühlings so wie heut, wo die Luft so frisch, rein und warm mich umflutet, die Obstbäume in ihrer weißen Blütenpracht dastehen, wo die Wiesen von tiefem Grün überflutet sind, und der Wald und die Pappeln an der Landstraße sich färben mit dem ersten scheuen Grün. Ach, könnte ich doch in Deutschland sein – wie wollte ich den Lenz da genießen!


 

Mai 1915

1. Mai 1915
Heute ist der 1. Mai und das Wetter warm und sonnig, und der Himmel, tiefblau, ist seiner würdig. Schade, dass ich nicht mit lieben Kameraden, wie in Husum eine Maifeier veranstalten kann! Nun, ich hoffe auf später, da soll es nicht fehlen, bei schäumendem Glas unter frisch ergrünenden Bäumen: „Der Mai ist gekommen...“

2. Mai 1915
Wachtm. Stegmann wird zu seiner Kolonne versetzt. 
Lt. Menck kritisiert die Buchführung.

6. Mai 1915
Der Wachtmeister Klenz ist ein guter Kerl, aber furchtbar beschränkt. Die Buchführung hat er noch nicht verstanden. In allen Dingen ist er ängstlich und ist gleich unruhig, wenn einmal etwas nicht „klappt“. 
Vorgestern war ich mit Wilhelm Bäumer und dem Gefr. Giesen im „Hessischen Löwen“, wo es voll war. Gestern Abend war ich mit Stieger und Hansen- Röm in der kleinen Gastwirtschaft mitten im Feld, wo es guten Cidre gibt.---
Es wird in diesen Tagen viel gesprochen von dem Sieg in Westgalizien. In St. Quentin soll es schon Amtlich sein, in Deutschland soll ein Stationsvorsteher es gesagt haben; ich glaube nur, was amtlich bekannt gemacht wird, und das sind: 31.000 Gefangene und 60 erbeutete Geschütze. Auch das ist ein Erfolg, der hoffentlich noch manche gute Folgen nach sich ziehen wird. 
Gestern bekam ich von Hannes Rienau eine Karte mit der Aufschrift : „Wer sein Leben nicht auf der Basis der Religion stellt, der ist verloren“. Ja, ich erkenne es, ich muss zu meinem Gott zu zurückkehren, nur mit ihm kann ich Taten tun, ohne ihn bin ich auch verloren. Darum habe ich nichts geleistet, seit ich Soldat bin und daher ist mir nichts geglückt, weil ich ihn verlassen hatte. 

13. Mai Himmelfahrt 1915
Gestern nach Flavy le Martel Rüben gefahren. Ich sang inmitten der Landschaft „Der maj ist gekommen“. Jetzt bin ich in Cuy, 6 km von der Front entfernt, beim Schanzen Kommando.

14.Mai 1915
Heute Nacht erhielt ich beim Schanzen die Feuertaufe, nordwestl. Lassigny. Nach dem ersten Schuss stürzte alles in Deckung. 20 Granaten schickten uns die Franzosen, die teils vor, teils hinter unserm Graben krepierten und den Erdboden erzittern ließen. Leider verlor ich mein Seitengewehr und suchte es vergeblich – Malheur –! Heute Morgen traf ich Präparandenlehrer Wischmann, der sehr elend aussah. Was uns wohl die kommende Zeit bringt? – Hoffentlich bald die Rückkehr zur Kolonne.

15. Mai 1915
Gestern Nachmittag besuchte ich Herrn Wischmann im Schloss   Les Essarts. Ich verstehe seine Sehnsucht, in andere Verhältnisse zu kommen. Wie er so an seinem Stock humpelte – ein Jammerbild. Bei Feldwebel Hansen aus Tondern tranken wir beide eine Tasse Kaffee. Nachher traf ich Joseph Wienberg, mit dem ich einen kleinen Spaziergang machte. Wir besahen die Kirche, in die zwei Volltreffer hineingegangen waren. Von 11 Uhr abends an ging’s wieder zum Buddeln.
Leider hab ich mein Seitengewehr noch nicht wiedergefunden. Um 4 Uhr morgens kamen wir wieder nach Haus. Ich schlief bis halb zwölf.

16. Mai 1915
Am Nachmittag ging ich im schönsten Sonnenschein mit dem Unteroffizier und Stieger nach Dives. Dort traf ich Reese, den Fahrradreparateur aus Husum, als Waffenmeister. Er gab mir ein Koppel (Leibriemen). Schloss und Säbeltasche bekam ich von dem Schneider aus Scherrebek, ebenso ein schwarzes Band für meine Mütze.
Abends buddelten wir jenseits der Steinbrücke. Als wir im Deckungsgraben gingen, funkten die Franzosen nach Lassigny hinein.

21. Mai 1915
Gestern Abend legten wir einen Schützengraben durch ein Kleefeld hinter Lassigny. Von halb elf bis drei Uhr schanzten wir – eine lange Zeit  – und dazu hatten wir noch den ganzen Tag im Holz gearbeitet. Die wollen uns hier wohl bewegen.

22. Mai 1915
Heute erzählte der Unteroffizier vom Holzkommando, dass in der italienischen Kammer 400 für den Krieg seien und nur 86 dagegen. Sollte Italien wirklich den frevelhaften (forbryderisk) Bruch begehen? Wo wird mich dann die ungeheure Umwälzung hinschleudern? Hoffentlich nicht zur Infanterie!

Sonnabend vor Pfingsten 1915
Eine Karte ging an Prof. Seidel – das hätte ich längst tun müssen. – Hat er mir doch damals die Teilnahme an der Hebbelfeier in Heide ermöglicht. Es ist ein guter, edler! Mensch. Leider habe ich mich ja nicht mit der Mathematik befreunden können. Doch soll sich meine Abneigung gegen die Mathematik nicht auf den Mathematiklehrer übertragen.
„Das deutsche Volk ist achtbar im einzelnen, aber miserabel im ganzen“, sagt Goethe. In der Nacht wurde der Graben hinter Lassigny weitergeführt. Eine Gewehrkugel pfiff durch unsere Reihen. Durch so eine blinde Kugel ist mein Freund Lorenz Andresen getötet worden. Wie dünn ist doch der Lebensfaden des Menschen im Kriege! Wie leicht reißt er ab! Fast will es einem scheinen, als ob das Schicksal in vollkommener Willkür schaltet und den blinden Zufall walten lässt.
Und doch, in meinem Leben erkenne ich deutlich die Fügungen und Wege Gottes, dessen Gedanken höher sind als unsere. 
Er hat´s bis jetzt alles wohl gemacht, er wird mich auch ferner in seiner großen Weisheit so führen, wie es für mich am besten ist. Vor allem schenke mir, du gnädiger Gott die Heimkehr und, wenn es sein darf, gesund an Leib und Seele. Ich möchte so gern nach Hause zu meinen Lieben, zu meiner Arbeit, zu meinen Freunden. Es ist ja die schönste Zeit, die für mich vor der Tür steht. Du lieber Gott nimm` sie mir nicht, erhalte mir das Leben – Amen.

Pfingsten 1915
Als ich morgens vom Buddeln wiederkam, zog der junge Morgen herauf, der Pfingstmorgen. 
Die Luft war so frisch und rein und die Vögel zwitscherten so vergnügt – ich setzte mich vor unsere Höhlenwohnung hin und trank meinen Kaffee draußen. 
Butter war Vexier-Bild, Brot und Wurst tut`s auch. Dann legte ich mich schlafen. Um halb elf wachte ich auf, suchte vergebens den Barbier und setzte mich darauf auf die Bank im Schatten des Wäldchens und schrieb, umspielt von frischen, kühlen Winden diese Zeilen.

25. Mai 1915
Heute Abend müssen wir leider wieder aus unserem gemütlichen Bunker ausziehen, da die 8. Komp. wiederkommt.
In aller Eile wurde umgezogen. Da fehlt es nun an allem, Tische, Stühle, Es Gefäßen—ach, ich bin des ewigen Herumziehens und Abkommandierens müde . Nirgends hat man Ruhe. Überall ist man ein Anhängsel. Ich möchte in eine Abteilung wo ich bleibe, und wo ich dauernd hingehöre. Die 2 Tage, die ich nach Ham in der Kolonne war, waren so schön, und Wachtmeister Brack sagte: „Ich freue mich, dass  Sie wieder da sind.“  Ich freute mich auf den Abend des Himmelfahrtstages, wo meine Wache zu Ende ging. Den Tag wollte ich genießen. Da kam Brennecke als Schicksalsbote, ich musste mich bis 2 Uhr fertigmachen. Ich ging ungern!

26. Mai 1915
Eben machte ich eine kleine Orientierungsreise. Als ich den Hügel südlich Cuy überstiegen hatte, bot sich mir ein wunderschöner Anblick da; im Sonnenglanz ein grünes Tal, durch bewaldete Hügel abgeschlossen, mittendrin das Dörfchen Cannectancourt, mit seinem schönen Kirchlein, ein Bild des Friedens! Aber es ist Krieg, den das friedliche Tal hallt wider, von Geschützdonner und dort hinten steigen dichte  Rauchwolken auf. Lassigny brennt!
Ich habe hier ein stilles Plätzchen im Walde gefunden. Als Tisch dient mir ein großer Baumstumpf, und als Stuhl ein Polster, das ich in einer Scheune fand.

27. Mai 1915
Gestern Nachmittag gegen sechs Uhr, wurde Cuy beschossen. Ein dumpfer Schall, das Abfeuern – ein Zischen und Surren, die Durchquerung der Luft – und dann unter Krachen und Poltern die Explosion. Die ersten sieben Schüsse waren Schrapnell-Brennzünder. Die drei letzten Aufschläge aber Blindgänger. Die Herren Offiziere waren gerade beim Baden. Die Geschosse krepierten in unmittelbarer Nähe der Badeanstalt.
Die Herren sprangen nackt heraus auf die Straße und suchten eiligst Deckung. 
Kurz vorher hatten unsere „Schweren“, die in der Nähe von Noyon aufgestellt sein sollen, drei  Schüsse abgegeben. Die Franzosen antworteten darauf mit einer Beschießung von Cuy. Vor dem Buddeln ging ich noch zur großen Bagage, wo ich Herrn Wischmann wohlbehalten  antraf. Auf dem Rückweg vom Buddeln erfasste mich ein bitteres Gefühl gegen meine bisherigen militärischen Vorgesetzten, die nicht einen Finger gerührt haben, um mir vorwärts zu helfen. Ich kann mich in den Kreisen nicht wohlfühlen, in denen ich mich befinde. Schlimmer als Strapazen ist das peinigende Gefühl, von den Menschen getrennt zu sein, die ihrer Geistes- und Herzensbildung nach – zu mir gehören.
Du lieber Gott, wie lange soll dieser Zustand noch dauern? Er wird mir schier unerträglich. Führe doch bitte, bitte bald eine Wendung herbei.

28. Mai 1915
Gestern musste ich leider einen religiösen Absagebrief an meinen lieben Vater schreiben. In seinem letzten, von heißer Liebe und heiligen Willen, mich auf seine Seite zu ziehen, durchwehten Brief, stellte er mir so viele Gewissensfragen auf die ich notwendig antworten musste. Wie sollte das anders für meinen Vater ausfallen als sehr enttäuschend, betrübend und niederschmetternd, denn ich bin in dieser Zeit beinahe indifferent. Was ist das für ein Jammer! Ich weiß, mein Vater ringt im Gebet um meine Seele und doch ist ihm jeder Hoffnungsstrahl versagt, denn ich konnte nicht anders schreiben als wie ich geschrieben habe. Gott, vergib‘ du mir diesen Schmerz, den ich dem besten Vaterherzen zugefügt habe.
„Wär nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne könnt‘ es nie erblicken;
Läg‘ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt‘  uns Göttliches entzücken?“
Goethe

29. Mai 1915
Gestern erzählte Sergeant Hoppe mit strahlendem Gesicht, dass wir am 30. Mai, also Sonntag, zurückkämen. Das erweckte allgemeine Freude. Aber auf wie lange? Vielleicht steckt man mich schon in den nächsten Tagen zur Infanterie. Sollten meine Freunde in der Kolonne dies Unglück nicht abwenden können? Hoffentlich wird mein Vertrauen, das ich in ihre Hilfe setze, nicht getäuscht.
Abends traf ich beim Schloss Les Essarts Peter Toft aus Quernholt, Küchenchef der 13. Komp.  
Am nächsten Tag warteten wir auf den Wagen. Endlich um halb fünf  kam er. Ich setzte mich hinten in den Korb – das war der beste Platz im Wagen. Wieder bewunderte ich die entzückende Lage von Noyon, die Kathedrale und die weiße Dragonerkaserne und dahinter aufsteigend bewaldete Hügel – Herrlich –!
In Noyon trank man Bier und in Guiscard ebenso. Dort sagte mir Brennecke, dass ich zum Offiziers Aspiranten Kursus eingereicht sei. Sollte ich doch endlich weiterkommen? Trotz meiner Ermahnungen zur Ruhe zog der Wagen mit einem erbärmlichen Höllenlärm in Villesselve ein. Einige erwiesen Wachtm. Maaß und dem Veterinär, die in der Tür des Kasinos standen, keine Ehrenbezeugung – und da war das Unglück da. – Der Oberleutnant rannte hinter uns her und schimpfte, von einem Wutanfall ergriffen, ich habe doch nie einen Menschen in solcher Aufregung gesehen.
Alle Insassen des Wagens sollen nachexerzieren. Ich bin mir keiner Schuld bewusst, habe nicht an dem Lärm teilgenommen und habe meine Ehrenbezeugung richtig gemacht. Werde doch wohl mitmachen müssen. mitgefangen – mitgehangen – !

 

Juni 1915

11. Juni 1915
Am Abend sprach Stieger von 30 Mann, die wieder zum Schanzen sollten. Immer mehr sprechen davon, sodass ich es zuletzt auch glaube. Donnerstag Mittag ging es dann endlich los, auf drei Wagen. Wir fuhren über Berlancourt – Tierlancourt – (Generalkommando des IX. R. K.) – Fréniche – Frétoy-Beaulieu –  nach Roiglise. Dort wurden die angekommenen, ca. 200 Mann verteilt. Mit all dem Gepäck mussten wir dann in schwerem Gewitterschauer nach St. Georges gehen, einer Vorstadt von Roye. Dort fand ich mit Uff. Stüff und 3 Kameraden ein gutes Quartier.
Abends gab’s noch Bohnensuppe und Kaffee. Nachts um 3 Uhr wurden wir geweckt und gingen auf’s Feld, südlich von Roye, wo wir einen Schützengraben aushoben. Um 9 Uhr morgens waren wir wieder zu Haus. Wenn ich bloß nicht zur Infanterie komme –  die Artillerie hat’s doch viel leichter!

12. Juni 1915
Die schöne Kirche von Roye ist vollständig zerschossen, das Mittelschiff ganz eingestürzt, sie zeigte einem so recht die Schrecklichkeit und, wie Herr Wischmann so schön sagte: „Die Unkultur des Krieges“.
Abends, als ich gerade zu Bett gegangen war, schossen die Franzosen etwa 10 Schüsse in die Stadt hinein. Am nächsten Morgen vollendeten wir den Graben, den wir am vorigen Abend angefangen hatten. Er führt von dem Schützengraben zum „Artilleriegehöft“. Ein Generalmajor besichtigte ihn. Ich bin mit meiner Stellung und Umgebung nicht zufrieden. Möchte doch bald Friede werden.
Ich muss trockenes Brot essen, da ich kein Geld habe, mir Butter, Marmelade oder Belag kaufen kann, und Post gibt’s auch nicht. Das ist hier ein ganz trauriger Betrieb, obgleich der urwüchsige Feldwebel gut für uns sorgt.

13. Juni 1915
Nachmittags ging ich mit 3 Kameraden zur Zuckerfabrik.
Abends fingen wir einen neuen Laufgraben an, der von einem Schützengraben südöstlich Roye nach der Landstraße bei Verpillières führt. Da mein Auge noch immer geschwollen ist, gehe ich heute Morgen ins Revier zur Behandlung.

14. Juni 1915
Gestern Abend war ich bei der Ringkanonenbatterie im Hohlweg. Heute Morgen von 4-7 Uhr machten wir einen Stacheldrahtverhau vor dem Schützengraben. Heute Nachmittag geht’s wieder zur Kolonne.
Welche Schweinerei! Bis halb 6 Uhr warten wir auf unseren Wagen, da kommt der Feldwebel an und sagt: „Das Kommando ist bis zum 16. Einschließlich verlängert.“ Wer das nur wohl wieder ausgedacht hat! Ich hatte mich schon so sehr auf die Heimfahrt gefreut. Dabei habe ich weder Geld noch Pakete. Das ist ein Jammer. Eben hab‘ ich mir von Putzicha 1 M. gepumpt und mir dafür Marmelade gekauft.
Gestern Abend gingen wir um 9 Uhr zum Buddeln, auf den Weg traf ich den Laufburschen von Onkel Willy (Kellinghusen), Fritz Polenz, der beim reg. 17 steht. Ich beneidete ihn im Stillen, und schämte mich, dass ich, viel früher eingetreten als er, jetzt als Mitglied eines Arbeitskommandos herumlief. Die Sehnsucht zur Batterie zu kommen, ist bei mir stärker denn je.

15. Juni 1915
Wir führten von Verpillières einen Laufgraben auf die Landstrasse Roye-Verpillières zu. Der Boden war hart und kalkig. Ich war müde, so dass ich einer der letzten war, der fertig wurde. Heute Morgen schlief ich bis 12 Uhr mittags.
„Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann.“
Weshalb mache ich mir so viele Gedanken über meine Zukunft? Ich will es glauben, zuversichtlich und fest, dass Gott auch mich so führen wird, wie es für mich am besten ist. 
Ich habe in diesen Tagen den „Wallenstein“ gelesen und mich wieder an der eigentümlichen Größe dieses Mannes gefreut.

16. Juni 1915
Gestern Nachmittag gingen die Alten, gestern Nacht die jungen zum Graben. Als wir schon auf den Heimweg waren, wurden wir zurückgeholt, weil der Graben an einigen Stellen nicht tief genug war. 
Kommen wir heute nach Villesselve? Ich bin jetzt viel ruhiger und sehe getrost dem Kommenden entgegen. Ich setze große Hoffnung auf den Kursus, zu dem ich eingereicht bin.

18. Juni 1915
Um 8 Uhr kamen endlich die Wagen. Ein Kastenwagen und zwei Muniwagen. Zwischen Roye und Roiglise merkte ich, dass ich meinen Mantel vergessen hatte. Ich holte ihn mit Kolberg`s Pferd, und um 12 Uhr nachts  kamen wir in Villesselve an. Dort sind, wie ich hörte 19 Landsturmleute angekommen. 
Am nächsten Morgen gings nach Brouchy zum Heuen. Nach Mittag sah ich in Bruchs Zimmer meine gewaltige Post durch. Mein lieber Bruder Rudolf hat vor Przemysl einen Schuss durch die Backe erhalten, er liegt im Lazarett zu Halle. Gott hat ihn gnädig behütet.
 Nachmittags kam kein Bescheid, daher blieb der 4. Zug zu Haus. Am nächsten Morgen um 4 Uhr fuhren wir aus, um entwichene Russen zu fangen. Den ganzen Morgen tobten wir in den Mulden zwischen  Guivry und Mancourt herum, fanden aber nichts. 
Die Franzosen amüsierten sich über die Allemands.

20. Juni 1915
Gestern Abend sprach ich mit dem Etatmäßigen über meine Versetzung zur Batterie. Er schlug mir vor, ein Gesuch einzureichen.

25. Juni 1915
Noch nichts Neues. Diese Ungewissheit ist nicht zum Aushalten. Als ich am Abend auf dem Piano klimperte, fragte mich der Oberleutnant, ob ich Lust hätte eine Partie Krokett mitzuspielen. Ich nahm dankend an.

26. Juni 1915
Gestern soll der Oberleutnant in Guiscard gewesen sein bei Oberst Stubenrauch. Sollte er auch ein Wort für mich eingelegt haben? Ich glaube nicht. Er hat nur seine Landwirtschaft im Kopf. Und doch wie viel könnte ein Wort tun!

27. Juni 1915
Montagmorgen um 7 Uhr geht’s los. Und ich muss mit. Auch von hier gehe ich ebenso gemein und bedeutungslos fort, wie ich gekommen bin.
Ich erinnere mich noch was Brack sagte, als ich von Cuy wiederkam: „Bleiben Sie nur noch etwas hier, der Krieg kann noch lange dauern“!
Nun bin ich Infanterist – Gott wie triffst du mich schwer.
Was ich wochenlang befürchtete, ist jetzt eingetreten. Ich habe hier bei der Kolonne ein gründliches Fiasko erlitten. Ich weiß noch gar nicht, wie ich mit dem Gedanken fertig werden soll, dass ich Artillerist hätte sein können und nun Infanterist bin. Gestern Abend die Theaterscene vor dem Ergänzungszug. 11 Mann traten freiwillig vor, ich aber nicht.
Am nächsten Morgen bestimmte der Oberleutnant „Sechs  Mann hinzu“!
Ich bin nicht darunter. Leise Hoffnung. Aber ich weiß, dass dicke Ende kommt noch. Und richtig. Als alle untersucht sind, werden Sievert, Meyer und Kardel hineingerufen und  für tauglich befunden. Der Arzt sagte: „Sie wollen gern bei der Artillerie bleiben?“ „Jawohl“ Dann einige beschwichtigende Worte, – aber tauglich. „Stark ist er auch nicht gerade“. Ich bin mit unter den 20. Das ist die Strafe für mein Leichtsinn. Ich mag es gar nicht nach Hause schreiben. Es ist zu traurig.

28. Juni 1915
Dieser „Alte-Leute-Kultus“ hier in der Kolonne war köstlich. „Meine lieben alten Leute“ wurden sie gestern Abend vom Oberleutnant angeredet. Wir Jungen waren keinen Gruß wert. 
Gestern Nachmittag besuchten mich Chr. Brautlecht und Rudi Suhren beide Unteroffiziere. Um 5 Uhr mussten wir unsere Sachen abgeben. Meine lieben Kameraden kamen gerade von ihrer Fahrt zurück. Mit ganz anderen Augen betrachtete ich die Pferde und meine Kameraden. Ich gehörte ja nicht mehr zu ihnen. Als Abendbrot gab’s  Spiegeleier. Um 8 Uhr verabschiedete sich der Oberleutnant von uns. Auch hierbei flossen wieder viele Worte – tut mir leid – nicht zu ändern – usw. Damit waren wir in Gnaden von Kolonne 29 entlassen. 
Meine beiden Freunde brachte ich bis auf die Höhe zwischen Villesselve und Berlancourt.  Im Anblick der schönen Abendlandschaft nahmen wir Abschied. Sie haben es schon zu etwas gebracht, und ich nicht. Von vorne anfangen – wie fällt mir das schwer. Wie stolz war ich immer auf die Artillerie – und nun Infanterist! Ich hab sie immer nur bedauert. Meine Kameraden waren am Abend noch so nett zu mir. Sie sind mir alle ans Herz gewachsen. 
Am anderen Morgen herzlicher Abschied von den Kameraden, von Wachtmeister Brack und den Etatmäßigen. Wachtmeister Lazarus ritt voraus. Oberst Stubenrauch schmierte uns Honig um den Bart und ließ uns laufen. Marsch nach Liebermont – Verteilung. Ich schreibe einen Brief an Oberleutnant Thomsen – er muss etwas für mich tun. Ich will sehen, ob ich eine Spezialtätigkeit erhalte. Oder ich gehe in Bruder Rudis Regiment. 
Sic transit Gloria mundi!

29. Juni 1915
Heute Morgen wurden wir gebimst, als wenn wir erst gestern Soldat geworden wären. 
Dann war ärztliche Untersuchung.

30. Juni 1915
Am Abend fängt es an zu regnen, es tropft durchs Dach. Heute Morgen hatten wir zunächst Instruktion am Gewehr und darauf Exerzieren, zuletzt Schwärmen. Das ist doch etwas interessanter.
Heute Nachmittag badeten wir im Kanal.

Zur Person Dr. Harboe Kardel

Harboe Kardel (* 25. November 1893 in Nortorf; † 6. November 1982 Apenrade) wuchs in Tondern auf und besuchte ein Gymnasium in Husum.  Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg an der Westfront – Dienstrang Leutnant – studierte Kardel von 1919 bis 1921 in Kiel Philologie und Evangelische Theologie und absolvierte 1923 sein Assessorexamen. Er arbeitete danach zunächst in einem Flensburger Pressebüro, so Wikipedia. 1926 promovierte er. 
Von 1927-1929 war Kardel Leiter der Tageszeitung Neue Tondernsche Zeitung in Tondern.
Kardel war früh Funktionär der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig (NSAN). 1934 übernahm er die Schriftleitung, später die Chefredaktion der Tageszeitung der deutschen Minderheit in Nordschleswig, die Nordschleswigsche Zeitung mit Sitz in Apenrade. Er wurde erster Ortsgruppenleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Nordschleswig (NSDAP-N) in Gravenstein und hatte eine Führungsposition in der Schleswigschen Kameradschaft inne. 
In seinem Nordschleswig-Buch lobte er den Hitler-Staat und seinen Führer. Das passend zur Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen erschienene Buch „Dänemark unter Deutschem Schutz“  rechtfertigte den Überfall Deutschlands auf Dänemark. 
Nach 1945 wurde er als Gefolgsmann der Nationalsozialisten längere Zeit interniert und zu sechs Jahren Haft verurteilt. Von 1950 bis 1957 arbeitete er als Studienrat in Schleswig-Holstein und lebte danach bis zu seinem Tode in Apenrade.

Foto: DN
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