Leitartikel

Hilflos in großer Not

Hilflos in großer Not

Hilflos in großer Not

Apenrade/Aabenraa
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Foto: Ólafur Steinar Gestsson/Ritzau Scanpix

Auch wenn Bewusstsein, Akzeptanz und Verständnis für psychische Erkrankungen in der Gesellschaft zugenommen haben mögen und der Stigmatisierung durch Aufklärungskampagnen entgegengewirkt wird, auch wenn psychischen Erkrankungen oftmals ebenso physische Ursachen zugrunde liegen – noch immer haben psychisch Kranke eine zu kleine Lobby, erhalten zu wenig Verständnis, meint Sara Wasmund.

Man stelle sich vor, ein Krebspatient wird mit einem nur halb entfernten Tumor aus dem Krankenhaus entlassen, weil die Ärzte keine Kapazitäten frei hatten, um die Wucherung ganz zu entfernen. Man stelle sich vor, ein Herzkranker kriegt aus Zeitgründen nur einen Stent gesetzt, obwohl der Behandlungsplan vier Röhrchen vorsieht, um das Herz am Schlagen zu halten.    Krankenhäuser, Gesundheitspolitik und Patientenorganisationen wären sich wohl einig: Das kann nicht sein, das darf nicht sein.Worüber bei physischen Krankheiten also absolute Einigkeit besteht, steht bei psychischen Erkrankungen  durchaus zur Disposition.

Wie eine Untersuchung des Ärztevereins („Lægeforeningen“)  zeigt, müssen sechs von zehn Psychiater entweder täglich oder wöchentlich einen Patienten entlassen, dessen Behandlung noch nicht abgeschlossen ist. Auch die Aufnahme von Patienten mit stationärem Behandlungsbedarf ist nicht in allen Fällen garantiert. Der Grund: Kapazitätsprobleme. Zu wenig Betten, zu wenig Ärzte. Pech gehabt.

Die  Ärzte, so der Vorsitzende des Vereins, seien notgedrungen gezwungen, die knappen Ressourcen nach bestem Wissen und Gewissen zu nutzen. Was sich in den Psychiatrien des Landes abspiele, sei  in keiner Weise mit den ärztlichen Grundsätzen im Land vereinbar. „Das ist unanständig gegenüber den Patienten“, so Andreas Rudkjøbing.

 Gesundheitsexperten stellen fest: Die jahrelange Abwicklung von Bettenplätzen, sprich stationären Behandlungskapazitäten, zugunsten der ambulanten Therapie ist zu weit gegangen. Viel zu weit.

Unhaltbare Zustände also – und keine schnelle Besserung in Aussicht. Gesundheitsministerin Ellen Trane Nørby (V) kündigt lediglich einen Gesamtplan für die Psychiatrien im Land an – im späteren Verlauf des Jahres. Bis dahin rät sie den Ärzten, gegenüber ihren Vorgesetzten „laut“ auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Man stelle sich erneut vor, es gäbe für Krebskranke mit akutem Operationsbedarf auf Monate hin keine Behandlungsmöglichkeit, die Tumore bleiben also  drin im Patienten und die Gesundheitsministerin kündigt für „später im Jahr“ einen Plan an, der dann erst noch geschmiedet, verabschiedet und in die Tat umgesetzt werden muss. Der Aufschrei wäre groß. Mächtige Organisationen wie Kræftens Bekæmpelse würden den Zuständen kaum tatenlos zusehen, ihren Einfluss geltend machen und auf sofortige Abhilfe bestehen.

Auch wenn   Bewusstsein, Akzeptanz und Verständnis für psychische Erkrankungen in der Gesellschaft zugenommen haben mögen und der Stigmatisierung durch Aufklärungskampagnen entgegengewirkt wird, auch wenn psychischen Erkrankungen oftmals  ebenso physische Ursachen zugrunde liegen – noch immer haben psychisch Kranke eine zu kleine Lobby, erhalten zu wenig Verständnis. Kein Mensch würde einem Krebspatienten raten, er solle sich halt mal zusammenreißen. Ein Satz, den beispielsweise an Depressionen erkrankte Menschen in ihrer Not durchaus zu hören bekommen.

Es wird also allerhöchste Zeit, dass die Gesundheitspolitik im Land die große Not in den Psychiatrien und jeden einzelnen Patienten ernst zu nehmen beginnt – und schnell und wirksam handelt.

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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