Ausgrabungen

 Neues vom Applefeld

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Gesche Picolin
Gesche Picolin Journalistin
Kassö/Kassø
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Jeder weiße Streifen bedeutet einen gefundenen Pfosten. Die Archäologen dokumentieren alle Funde sehr genau. Foto: Karin Riggelsen

Aus den Spuren der Vorzeit lesen Forscher, wie die Menschen Herausforderungen lösten, Konflikte austrugen und mit klimatischen Veränderungen umgingen. Zum Ortstermin auf dem künftigen Apple-Gelände in Kassö.

Bei der größten bisher da gewesenen Ausgrabung des Museums Sønderjylland werden in diesen Wochen bei Kassö Häuser freigelegt. Leider  sind diese nicht für jedermann mit dem bloßen Auge zu erkennen. Um sie zu sehen braucht man Hintergrundwissen und Fantasie. Beides besitzt Ausgrabungsleiter Hemming Zaramella Hansen, Archäologe von der Universität Kopenhagen. Er leitet in Kassö eine der Ausgrabungen für das Museum Sønderjylland.

Als klar war, dass die Kommune das Areal um die Transformatorstelle Kassö veräußern würde, wurde das Museum Sønderjylland hinzugezogen. Denn in so einem Fall wird zunächst immer der Boden untersucht, bevor gebaut werden darf.

Der Grund, von dem hier die Rede ist, ist ein riesiges Areal, zu beiden Seiten des Kassøvej. Hier wird der  Apple-Konzern seine gigantischen Server bauen. Die Voruntersuchungen fingen somit im Frühjahr an, seit Sommer wird nun ausgegraben. Zaramella Hansen: „Das ist der gewöhnliche Prozess: Es gibt Voruntersuchungen, dann wird ein Budget erstellt. Anschließend wird ausgegraben und schließlich der große Rapport geschrieben.“

Spuren menschlicher Aktivität

Und was hat die Gruppe bisher freigelegt? „Wir graben hier in Kassö große Bereiche aus, und es hat sich gezeigt, dass es hier Spuren von menschlicher Aktivität ganz zurück in die Bauernsteinzeit (4. Jahrtausend vor Chr., Anm.) bis hin zum Mittelalter gibt“, erklärt der Ausgrabungsleiter, und er fährt fort: „Für das ungeübte Auge kann eine archäologische Ausgrabung unübersichtlich und wirr erscheinen, wie eine Ansammlung von Löchern. Ich sehe aber nach einer Reihe von Jahren nicht mehr bloß Pfostenlöcher.“ Zaramella Hansen führt aus: „Ich sehe die Häuser, die Zaunverläufe, Werkstattgebäude, die die Pfosten in Kombination miteinander bilden. Wir haben Spuren vereinzelt versprengter Bauernhöfe aus dem Jahrhundert vor Christi Geburt entdeckt.“

In dem Zeitraum hat der „Tollundmann“ gelebt hat. Auch das Hjortspringboot wurde zu der Zeit in einem Moor auf Alsen versenkt.  Zaramella Hansen berichtet von Spuren von Minidörfern aus dem 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. „Aus der Zeit stammt das Nydamboot. Diese Dörfer bestehen aus Höfen, die eingezäunte Hofplätze und kleine Werkstätten hatten. All das war hauptsächlich aus Holz gebaut und in die Erde gelassenen Pfosten.“ Und er fährt fort:  „In der Zeit lebten Mensch und Tier unter einem Dach. Die Menschen im westlichen Gebäudeteil, die Tiere in einem Stall im Ostende.“  Die umliegende Erde wurde bebaut, und es wurde Eisen gewonnen aus Brauneisenerz, aus den Wiesen Richtung Norden. Auf den Wiesen fütterten sie auch ihre Tiere, das sehen wir an gefundenen Pferchspuren.“

Der Forscher zieht einzelne Schlüsse: „Hier sind immer schon Felder bebaut worden, und die Gegend ist bewohnt gewesen. Kassö war somit nie Peripherie. Bis in die Steinzeit hinein nicht! Hier ist unglaublich viel Aktivität gewesen.“ Und man spürt seine Begeisterung. Als die Ausgrabungen losgingen, wurde durch Metalldetektoren nahe der bekannten zwei Hünengräber noch ein weiteres gefunden. Die Arbeit mit Detektoren gehört zu Zaramella Hansens  Spezialgebiet. Entdeckt wurden 26 Urnen mit  Grabbeigaben.

Der Forscher erzählt ein wenig von der Arbeit mit den Metallsuchgeräten: „Es gibt hierzulande viele Hobbyarchäologen, die in ihrer Freizeit mit Metalldetektoren arbeiten. Sie finden vorzeitliches Metall, daher werden immer viele solcher Funde in die örtlichen Museen gebracht. Ich habe bei  der Arbeit mit Detektoren einen Großteil der Funde analysiert, typologisiert und zeitlich eingeordnet. Doch auch deren Bedeutung kann auf die Art eingeordnet werden.“ Und er führt aus:  „Diese Funde können die kulturelle Identität der Zeit erläutern und erklären, wie über große Entfernungen Kontakte aufrechterhalten wurden.“

Archäologe Hemming Zaramella Hansen zeigt die anschaulichen Übersichten über Beispiele bisher freigelegter Höfe. Foto: Karin Riggelsen

Keine Grenzkontrollen für Gänse

Einmal zieht eine Gänsegruppe über die Ausgrabungsstelle hinweg in Richtung Süden. Es entsteht ein Augenblick der Kontemplation. Für Gänse gibt es keine Grenzkontrollen. Und Ländergrenzen  galten nicht zur Eisenzeit. Und sie gelten auch nicht in Zaramella Hansens Forschungsbereich. Für ihn ist diese Ausgrabung eben nicht ausschließlich dänische Geschichte. Er hat die Völkerwanderungen vor Augen.

Auch betont er, dass die vorzeitlichen Häuser ja nicht für die Ewigkeit gebaut wurden. Ein Vater baute damals seinem Sohn ein Haus, und die Häuser hielten nicht viel länger als eine Generation, nicht zuletzt wegen der Wetterverhältnisse. Diese spielen auch im Alltag eines Gegenwarts-Archäologen eine Rolle: Präzision und Kontemplation, gepaart mit harter physischer Arbeit zu allen Jahreszeiten, sind ebenso Teil davon.  „Ist man der Elemente nach Monaten irgendwann überdrüssig, ja, dann geht es daran, den umfangreichen Rapport zu schreiben. Da sitzt man drinnen und vertieft sich“, zieht der Forscher ein Fazit.

Was hier zurzeit gegraben wird, ist die bislang größte Ausgrabung des Museums. Das gilt auch für den Ausgrabungsleiter selbst. Und er gibt schmunzelnd zu: „Wir finden durchaus nicht nur Gold, aber alles, was wir finden, ist Gold wert.“ Zaramella Hansen zeigt einen Fund: ein Loch in der Erde. Doch das hier ist ein ganz besonderes Loch: Das hier ist ein Ofen. Bitte, was?

Die kräftig rote Färbung der Erde, erklärt er, ist absolut ungewöhnlich. Seine Archäologengruppe habe keine eindeutige Erklärung finden können.  Ein Naturwissenschaftler-Kollege wurde hinzugezogen. Auch er hatte so etwas noch nicht gesehen. Nach Proben und Analysen konnte konstatiert werden: Hier hat über einen langen Zeitraum große Hitze eingewirkt. Es wurde Eisen gewonnen, indem man in dieser Grube Brauneisenerz eingeschmolzen hat. Ein überwältigender Fund für die Experten.

Wenn aber hier bei Kassö so bedeutende Funde gemacht werden, darf der nordamerikanische IT-Konzern Apple hier überhaupt bauen? „Ja, denn die Gegend ist nicht geschützt“, so der Archäologe.

Almut Fichte zeichnet eine Übersicht über die Pfosten, tägliches Brot eines Archäologen. Foto: Karin Riggelsen

Vorzeitliche Müllhalden

Hin und wieder entdecken die Archäologen eine „Müllhalde“. Der Ausgrabungsleiter erläutert: „Wenn zu viel Abfall da war, sagten sich die Bewohner: Komm, wir graben ein Loch, und ab dafür.“ Vorzeitlicher Pragmatismus: „Was durch die Zeiten übriggeblieben ist, sind alte Steingutteile. Und solcherlei Scherben finden wir heute in den „Abfall“-Löchern.“

Zaramella Hansen zeigt eine relativ flache Scherbe mit leichter Rundung: „Das muss ein mächtiges Gefäß gewesen sein.“ Wenn die Archäologen in der Gegend feine Scherben finden, kommt es vor, dass Fingerabdrücke darauf zu entdecken sind: „So haben die Menschen damals hier ihre Keramik verziert.“

Zaramella Hansen gelingt es, eine komplexe Materie in mundgerechte Happen zu verpacken. Und das macht ihm sichtlich Spaß. Tatsächlich nehmen die Archäologen vom Museum Sønderjylland hier übrigens nur Stichproben, wenn man so möchte. Denn es wird nicht alles aufgegraben. Bislang sind 120 Hektar des von Apple erworbenen Areals grob durchkämmt worden.  In der Tat werden sie ge„kämmt“, denn diese Stichproben, die werden genau untersucht. „Eine langwierige, zeitaufwendige Arbeit“, stellt  Zaramella Hansen fest. Noch einschließlich Kalenderwoche 47 wird hier gegraben. Wer zu Besuch kommen möchte, ist herzlich willkommmen.

Fingerabdruck als Ornament auf Keramik

Die zu kämmenden Gruben werden von einem Bagger 20 Meter breit ausgehoben, unter der Oberfläche kommt hellerer Boden zum Vorschein, eine  andere Erdbeschaffenheit. In jener Schicht kann Zaramella Hansen „Schmutzflecken“ ausmachen (plamager), dunkle Flecken auf hellem Untergrund: „Hinter denen sind wir her.“

Das Archäologenteam sucht, und jeder gefundene Fleck wird  mit einem Plastikstreifen markiert und grob eingekreist. Eine Mitarbeiterin misst die genauen GPS-Daten und behandelt diese in einem Computerprogramm. Heraus kommen als Ergebnis „Grundrisse“ der Häuser: Um die eine oder andere Hauskonstruktion ausmachen zu können hilft die Beschaffenheit der Pfostenlöcher.

Heute misst Anna Egelund Poulsen die genauen Standorte der Pfostenlöcher. Das ist ihr archäologisches Spezialgebiet. Der Ausgrabungsleiter deutet auf einen solchen Grundriss, der dank der GPS-Messung entstanden ist. Es ist ein Hof, der aus der älteren Eisenzeit stammt, aus dem Jahrhundert vor Christi Geburt. Die rote Linie zeigt die Außenwände und Giebelwände, die schwarze Punkte hingegen die tragenden Konstruktionen. Das Haus war 15 Meter lang und 5 Meter breit. Eine Reihe Pfostenlöcher deutet meist auf eine Außenwand hin, die nicht viel zu tragen hatte. Ein Set paralleler, tiefer verankerter Pfosten deutet auf eine tragende Konstruktion, die das Dach halten musste. Diese treten gewöhnlich paarweise auf. Gefunden haben die Forscher doch auch innerhalb einer Außenwand zwei tragende Pfosten: „Hier muss ein großes Tor gewesen sein. Womöglich, um Fuhrwerke hereinzulassen.“ Das leuchtet ein, das Rad war ja bereits erfunden.

Gefunden worden sind bislang etwa 20 Häuser aus vorrömischer und jüngerer römischer Eisenzeit. Die Zeiten waren etwa  400 v. Chr. bis zum Jahr 0 und aus der Zeit vom Jahr 200 bis etwa 400. Funde von Häusern aus der Bronzezeit und Kochgruben  sind in der Erde aufgetaucht. Bei Sønderenge sind Pfeilspitzen gefunden worden und Äxte aus der Jägersteinzeit (ältere Steinzeit), somit von vor etwa 9.000 Jahren. Jütland war also schon damals populär.

Ausgrabungen laufen weiter

Die derzeitigen Ausgrabungen in der Kommune Apenrade laufen weiter. Sämtliche archäologischen Kräfte, Schaufeln und Maschinen des Museums Sønderjylland werden im Moment bei Kassö eingesetzt, im Vorfeld des gigantischen Serverbaus. Die Kassöer Archäologen decken auf, sie messen ab, graben aus, beschreiben, fotografieren, zeichnen und interpretieren die Spuren von Vorzeit-Menschen in der Erde. In Zaramella Hansens Forschergruppe sind derzeit genauso viele Frauen wie Männer. „Die Geschlechterverteilung unter Archäologen hält sich die Waage“, so Archäologin Egelund Poulsen.

Es gebe immer wieder Wechsel im Forscherteam, aber der Kern besteht aus sechs Archäologen sowie zwei Ausgrabungsassistenten. Eine fröhliche Truppe. Für die Zeit der Ausgrabungen ist sie auf einem benachbarten Hof untergebracht. Der Alltag eines Archäologen erscheint unglaublich komplex. Man muss historisch Bescheid wissen, man benötigt Vorstellungskraft, um Fakten verknüpfen und Zusammenhänge herstellen zu können.

„Die Proben der Naturwissenschaftler geben auch Hinweise auf die unterschiedlichen Funktionen verschiedenster Teile der Häuser.“ Wird am einen Ende eines Hauses gebranntes Korn in einem der Löcher entdeckt, nicht aber am anderen, kann dies darauf hindeuten, dass in dem Gebäudeteil Korn aufbewahrt wurde. Doch auch in bestimmten Zäunen, die offenbar überdacht waren, sei Korn aufbewahrt worden, so der Forscher. Das ist auf den Bildern am Eingang zur Ausgrabungsstätte zu sehen.

„Die Ausgrabungen bei Kassö geben den Archäologen ein unschätzbares Wissen über den Alltag des Menschen in der Eisenzeit. Doch sie geben ebenso einen tiefen Einblick in die gesellschaftliche Entwicklung und deren Ausbreitung innerhalb dieses größeren abgegrenzten Bereichs.“
Wer jetzt neugierig geworden ist, kann jederzeit, sofern die Archäologen vor Ort sind, zu Besuch kommen und den Forschern bei der Arbeit über die Schultern schauen. Dazu lädt Archäologe Hemming Zaramella Hansen Interessierte herzlich ein. Denken Sie aber daran, etwas Fantasie im Gepäck zu haben.

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