Voices – Minderheiten weltweit

„Butscha: 30 Jahre nach der Belagerung von Sarajevo und dem Genozid von Srebrenica“

Butscha: 30 Jahre nach der Belagerung von Sarajevo und dem Genozid von Srebrenic

Butscha: 30 Jahre nach dem Genozid von Srebrenica

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Brüssel/Apenrade
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Jan Diedrichsen beschäftigt sich mit den abscheulichen Taten in Butscha und erinnert an die Schrecken in Vukovar.

Anfang der Woche sprach ich mit einer Freundin über die grausamen Bilder, die uns aus Butscha derzeit in allen Medien entgegenspringen. Gefesselte Leichen, die mit einem Schuss in den Hinterkopf ermordet wurden. Berichte von vergewaltigten Frauen und Kindern, Massengräber, Verbrechen gegen die Menschlichkeit unfassbaren Ausmaßes. „Jan, es kommt bei mir alles wieder hoch. Ich war damals in Vukovar“, berichtete meine Freundin sichtlich betroffen. Die aktuellen Bilder von den Zeugnissen einer mordenden und vergewaltigenden russischen Soldateska sind unerträglich, aber trotz ihrer geballten, fassungslos machenden Brutalität nicht die ersten oder schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, wie derzeit immer wieder zu hören ist.

Das Schrecken von Vukovar, an das sich meine Freundin erinnert sieht, ist in unserem kollektiven Gedächtnis beinah verblasst: Die Region um Vukovar an der Grenze zu Serbien war während des Kroatienkriegs 1991-1995 das am heftigsten umkämpfte Gebiet. Bei der serbischen Belagerung und der Schlacht um Vukovar wurde die Stadt weitgehend in Schutt und Asche gelegt. Bilder wie heute aus Mariupol. Und am 6. und 7. April vor drei Jahrzehnten, als die USA und die EU die junge bosnische Republik anerkannten, eröffneten von Russland unterstützte serbische und bosnisch-serbische Scharfschützen und Artilleriegeschütze das Feuer auf die Hauptstadt Sarajewo und richteten das schlimmste Blutbad an, das Europa seit dem Zweiten Weltkrieg heimgesucht hat. Bis jetzt muss man mit Hilflosigkeit eingestehen, dass wir nicht wissen, was in der Ukraine geschehen wird, was den Menschen dort noch an Leid und Verbrechen bevorsteht.

Doch wie anders als heute in der Ukraine war damals die Reaktion der Weltgemeinschaft. Auch das sollten wir in diesen Tagen nicht vergessen oder verdrängen: Die Verbrechen stießen zwar auf Fassungslosigkeit, aber auch auf Gleichgültigkeit und – bei der sogenannten internationalen Gemeinschaft – auf Beschwichtigungsversuche und sogar Unterstützung für die serbischen und bosnisch-serbischen Verbrecher. Vor allem die sogenannte politische Linke hat sich bis heute nicht wirklich mit ihrer teilweise sehr unrühmlichen Rolle befasst. Das damalige Appeasement und die Sympathie für die Verbrecher in Politik und Gesellschaft (Peter Handke wird noch heute gefeiert) verbleibt ein Schandfleck Europas. Heute sieht die Öffentlichkeit (zumindest in Europa) mit Wut und Entsetzen die Verbrechen in Echtzeit und will helfen. Heute kommen die Putin-Versteher glücklicherweise nicht so weit wie die unzähligen Milošević- und Karadžić-Versteher damals.

Während der Westen den ukrainischen Widerstand bewaffnet, wurde der bosnischen Partisanenarmee ein Waffenembargo auf allen Seiten auferlegt, das dem Aggressor überwältigenden militärischen Vorteil verschaffte.

Fast alle muslimischen Einwohner Ostbosniens wurden entweder getötet oder vertrieben, und viele Frauen wurden in Vergewaltigungslagern gefangen gehalten. Dörfer und Moscheen wurden eingeäschert oder in isolierten, von der UNO zu „sicheren Gebieten" erklärten Regionen unerbittlich belagert. Ein Lagersystem entstand, in dem Tausende getötet, gefoltert und vergewaltigt wurden.

Im Juli 1995, drei blutige Jahre später, wurden mehr als 8.000 Männer und Jungen innerhalb von fünf Tagen nach dem Fall der „sicheren Zone" von Srebrenica hingerichtet, die Opfer dieses Völkermords wurden ihren Mördern von eben jenen Mächten und UN-Soldaten ausgeliefert, die sich verpflichtet hatten, sie zu schützen.

Butscha, Sarajewo und Srebrenica mahnen uns: Eine neue Weltordnung muss entstehen, in der solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, solche Genozide, verhindert werden. In diesen Tag klingt das hohl und naiver als sonst. Leider.

Mehr lesen