Leserinnenbrief

„Erinnern, auch wenn es weh tut?“

Erinnern, auch wenn es weh tut?

Erinnern, auch wenn es weh tut?

Lisbeth Longwitz
Flensburg/Flensborg
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Frauen in der Minderheit während der Nazizeit: Unsere Leserin Lisbeth Longwitz wünscht sich, dass Ilse Friis darüber ein Buch schreibt und ermuntert sie zur Dissertation. Einige Literaturempfehlungen fügt sie gleich mit an.

Erinnern, auch wenn es weh tut? Diese provokante These äußert Cornelius von Tiedemann in seinem Artikel vom 13. November über den Vortrag von Ilse Friis im Knivsberghaus. Es ging und geht über ein Projekt: Frauen der Minderheit während der Nazizeit.

Dazu wird Ilse Friis vielleicht ein Buch veröffentlichen, was ich mir sehr wünschen würde. Und das man sich (kommendes Jahr?) auf dem weihnachtlichen Gabentisch wünscht. Ilse Friis lüftet in vorbildlicher Weise den Mantel des Schweigens über Frauenschicksale in heikler Zeit. Sie geht sehr differenziert zu Werke und sucht unter Punkt 7 Frauen im Widerstand: Gegnerinnen des NS-Regimes. Bisher leider vergeblich.

Wer es gar nicht abwarten kann, mehr über weiblichen Widerstand in der Nazizeit zu erfahren, sei auf Trine Engholm Michelsen hingewiesen. Sie publizierte 2021 das Buch „Storfyrstinden – Besættelsens magtfulde, men ukendte frihedskæmper Jutta Graae “. Das mutige Leben einer dänischen Doppelspionin wird erzählt. Auch gut für weihnachtliche Gabentische!

Vielleicht ist es hilfreich, den Begriff „weiblicher Widerstand“ anders und weiter zu fassen, als den herkömmlichen Begriff des „männlichen“ Widerstands. Dieser wurde oft und gerne mit Bewaffnung assoziiert und dominierte dann den Widerstandsbegriff. Weiblicher Widerstand kann sich durch Fürsorge, Trost, Gespräch, ein Stück Brot für Schutzbedürftige ausdrücken, alle mit dem Ziel, die menschenverachtenden Vorgaben der NS-Diktatur subversiv zu unterlaufen. Den Gegnerinnen und Gegnern Schutz und Gedächtnis zu bieten. Auch Erinnerung und Gedenken an Opfer wäre schon Widerstand gegen das Vergessen.

Die Überraschung, das Erschrecken, das Ilse Friis bei ihrer Entdeckung spürte – die Nachbarin Annelise Meyer wird als Rosenberg-Mitarbeiterin in der zentralen Zensurbehörde der NSDAP in Berlin von 1938 bis 1945 enttarnt – kann ich gut nachvollziehen. Alfred Rosenberg – Chefideologe der NSDAP – wird vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal der Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Er wird 1946 in Nürnberg hingerichtet.

Das glatte Bild bekommt einen Riss, aber „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, wie schon 1959 Ingeborg Bachmann in einer Rede vor Kriegsblinden äußerte. Und Wahrheiten können unbequem, widersprüchlich, schmerzhaft sein. „Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge“, lautet ein Sprichwort. Wollen wir denn mit Lügen leben? Das wäre auf die Dauer unwürdig und gefährlich.

Dass weibliche Denunziation zum Beispiel in der Nazizeit leider kein Einzelfall war, erfahren wir auch von der Autorin Helga Schubert in „Judasfrauen“, Berlin 1990. Zehn Fallgeschichten nach Archivbesuchen werden dargestellt und lassen den Leser einigermaßen ratlos zurück. Was treibt die Frauen an zu einer Art vorauseilendem Gehorsam?

Endlich gibt es eine weitere private Forscherinitiative neben Peter Hopps 2021 erschienener Schmidt-Wodder-Dissertation. Der gute Hopp ist mehr als 70 Jahre alt, also eine Dissertation schaffen Sie noch locker, Ilse Friis!

Warum auf Gelder und staatliche Mittel warten, hier zeigen zwei Privatgelehrte, wo es langgeht: die deutsche Minderheit in der Nazizeit, ein sehr spannendes Kapitel, das für die Kinder und Enkel aufbereitet werden sollte. Denn gerade in unseren dunklen Zeiten, in denen auch in Europas Mitte die rechten Regierungen erstarken, sollte der Blick zurück helfen, nach Vorbildern gerade im Widerstand zu suchen. Hier ist Ilse Friis‘ Engagement ausdrücklich zu loben und man wünscht ihr viel Glück. Auch Bob Dylan könnte in Anbetracht unserer politischen Dämmerungen zurufen: „It’s not dark yet!“ Und das tut dann auch nicht mehr so weh.

Lisbeth Longwitz,

Flensburg

 

 

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