Mehrmonatige Analyse im Sender

Zweifel an Unabhängigkeit: „Klimabericht“ des NDR wirft schlechtes Licht auf Führungsriege

„Klimabericht“ des NDR wirft schlechtes Licht auf Führungsriege

„Klimabericht“ wirft schlechtes Licht auf Führungsriege

Martin Schulte
Kiel
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Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) in Kiel wollte mit seinem „Klimabericht” das MIsstrauen an seiner politischen Unabhängigkeit aufarbeiten. Foto: Marcus Brandt/shz.de

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Der Theologe Stephan Reimers hat am Dienstag seinen 99-seitigen „NDR Klimabericht” vorgestellt. Der wirft kein gutes Licht in Richtung der Intendanz. An einer Stelle heißt es „Die Führungsschicht ist abgekoppelt und lebt in ihrer eigenen...

Der NDR hat jetzt einen eigenen Klimabericht. Dieser war notwendig geworden wegen der mehrmonatigen Schlechtwetterfront, die über dem Sender hing, nachdem erst im Kieler Landesfunkhaus und später im Hamburger Mutterhaus des Senders Vorwürfe der politischen Einflussnahme und Begünstigung laut geworden waren.

Für die Außendarstellung war das ein Super-Gau, mindestens genauso schlimm aber war die Wirkung nach innen – von einer Angstkultur und Beharrungskräften war die Rede.

Damals, im Herbst des vergangenen Jahres, sagte NDR-Intendant Joachim Knuth: „Von den klimatischen Bedrohungen, die sich in den vergangenen Wochen und Monaten aufgetan haben, habe ich nichts gewusst.“ Ein Satz, der mindestens so bemerkenswert war wie der Umstand, dass der Kieler Funkhausdirektor Volker Thormählen nach einem vierwöchigen unbezahlten Urlaub einfach wieder in seine alte Funktion zurückkehrte.

„Intendanten noch nie so sehr in der Defensive gesehen“

Vor Abschluss der internen Prüfungen wohlgemerkt, was nicht jeder im Haus an der Kieler Förde nachvollziehen konnte – und kann. Zumal zwei andere Führungskräfte, Politikchefin Julia Stein und Chefredakteur Norbert Lorenzen, das trotz ihrer öffentlichen Rehabilitierung nicht durften.

Nun, seit Dienstagmittag immerhin weiß auch Intendant Knuth genauestens über die klimatischen Bedrohungen im Sender Bescheid – denn jetzt steht er selbst auch im Regen. „Ich habe den Intendanten noch nie so sehr in der Defensive gesehen“, hieß es von einem der Anwesenden in der Sitzung.

Von 11 Uhr bis 12.20 Uhr wurde der 99 Seiten umfassende Bericht in Hamburg vorgestellt. Dafür hatte das Team um den Theologen Stephan Reimers über Monate 620 Einzel- und Gruppengespräche mit 1055 Beschäftigten des NDR geführt. Und schon zwei Sätze in Reimers’ Vorwort lassen tief in die Unternehmenskultur blicken: „Unsere Gespräche begannen zögerlich. Nach der Vorstellung des Teams im Oktober 2022 zweifelten viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unserer Unabhängigkeit und äußerten Sorgen, ob die Gespräche wirklich vertraulich bleiben würden.“

NDR muss jetzt alles auf den Kopf stellen

Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Führungsstrukturen im NDR müssen hinterfragt und geändert werden. „Es gibt die da oben und die da unten. So ist die Welt beim NDR“ ist ein Satz, der ebenso im Bericht zitiert wird wie dieser:

Auch die Besetzungspraxis von Spitzenpositionen im Haus, die nicht nur wegen ihres außertariflichen Gehalts interessant sind, ist Thema des Berichts. Diese seien Quelle „von Verärgerung, Empörung und Verdruss“, weil es kein transparentes Verfahren gebe. „So wird man Führungskraft im NDR: Man muss ins System passen, braucht Vitamin B und muss seine nächsthöhere Führungskraft kennen“, wird aus einem Gespräch zitiert.

Aber Reimers benennt auch Paradoxien auf allen Ebenen des großen Senders, die über die Jahrzehnte gewachsen sind: Obwohl Veränderung als notwendig erachtet werde, gebe es starke Beharrungskräfte. Obwohl ein offenes Miteinander angestrebt werden soll, schotten sich viele Mitarbeiter ab. Und, zur Ehrenrettung der viel kritisierten oberen Leitungsebenen: Während häufig nach Führung verlangt werde, strebten viele nach Autonomie und Teilhabe. Das sind die Zutaten der komplizierten emotionalen Gemengelage im NDR – eine Seifenoper mit System.

Theologe Stephan Reimers sieht Licht am Horizont

Insgesamt liest sich der Bericht wie das EKG eines versteinerten Mammuts – da bewegt sich nicht mehr viel. Der NDR ist eine komplexe Behörde, in der Veränderung skeptisch betrachtet und eigene Bereiche verteidigt werden. Das ist auch eine der zentralen Erkenntnisse, die Stephan Reimers und sein Team beschreiben:  „Uns ist bewusst, dass es fordernd ist, den Bericht zu lesen, vielmehr noch, ihn zu verarbeiten. Der NDR ist ein komplexes Unternehmen, und alles hängt mit allem irgendwie zusammen.“

Aber wie jeder gute Theologe sucht auch Reimers nach Hoffnung. Man sei zunächst skeptisch gewesen, ob das Klima im Sender noch zu retten sei, aber: „Der NDR lebt, weil die Idee lebt. Und weil es im NDR sehr viele Menschen gibt, die an diese Idee glauben.“

Die gibt es übrigens auch außerhalb, und nicht wenige von diesen würden sich der Forderung des Verfassers anschließen: „Es braucht jetzt Führungskräfte, die furchtlos entscheiden. Die Mitarbeitenden rufen ihnen zu: Tut es. Wir wollen handeln.“ Einige Monate und viele interne und externe Berichte später wäre das doch mal ein guter Anfang.

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Kommentar

Gerrit Hencke
Gerrit Hencke Journalist
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