Kardels Tagebuch: 1915-1918

Einträge von Januar bis Juli 1916

Einträge von Januar bis Juli 1916

Einträge von Januar bis Juli 1916

Harboe Kardel
Frankreich
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Kardels Tochter Elsbeth Kardel Knutz hat unserer Zeitung die eigenhändig abgetippten Tagebücher zur Verfügung gestellt, sodass Der Nordschleswiger bis zum Ende der Aufzeichnungen bis 2018 Kardels Tagebucheintragungen abdrucken kann. Die Einträge sind immer am 1. eines Monats 100 Jahre später abrufbar.

Januar 1916

1. Januar 1916
Heute war ich in Neumünster. Ich habe da viel Liebe genossen. So viele Leckerbissen steckten sie mir zu, dass ich gar nicht alles tragen konnte. Bei Großmutter Kardel war ich zu Mittag, bei Onkel Fritz Tonner zu Kaffee, bei Onkel Adolf Suhren zu Abend.
Um 9.30 trat ich die Fahrt nach Frankreich an. Bei der Abreise fesselte mich die strahlende Schönheit eines Mädchen. Ein voller Blick von ihr war für mich der Abschiedsgruss meiner Lieben Heimat.

Ich kann nicht fortfinden mit meinen Gedanken, sie sind ständig bei der schönen Fahrt nach Deutschland.
Auf den 3 Wagen, die am 21. Dezember um halb vier Nachmittags von Courcelles nach Douai rollten, sah man nur fröhliche Gesichter. Und die wahren doppelt froh, die ihren Eltern von einem schönen Erfolg erzählen konnten. Je weiter wir uns von der Front entfernten, je näher wir dem lieben Heimatlande kamen, umso heiterer klangen unsere Gespräche, umso heller wurde unser Lachen.

In der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember durchmaßen wir die Strecke Lille-Köln.
D’Alquen führte natürlich das große Wort. Wie schön das alles war, kommt mir jetzt erst zum Bewusstsein, wo ich wieder in Frankreich bin.
Von Hamburg bis Husum fuhr Lala in demselben Zug wie ich, ohne dass ich es wusste – quel malheur!
Mutter, meine Schwestern Hulda und  Liesbeth und mein Bruder Andreas waren auf den Bahnsteig gekommen. Eine tiefe, stille Freude des Wiedersehens erfüllte uns alle. In der traulichen warmen Wohnstube erwartete mich mein lieber Vater und begrüßte  mich mit freundlichen Worten. Das erste Essen zu Haus, wie schmeckte es schön! Und dann das Bett oben, so weiß und reinlich, so weich und warm! Nur der Gedanke betrübte mich allabendlich, dass ich der Abreise um einen Tag näher gerückt sei.

Am 23. morgens holten Vater, mein Bruder Willy und ich unsern Tannenbaum aus dem Garten, es war ein fürchterliches Schneetreiben, bei grimmiger Kälte.
Meinem Frohsinn machte ich Luft, indem ich meine liebsten Lieder mit dem Klavier begleitete.
Am Abend machten Liesbeth und ich ein Besuch bei Rektor Siemonsen`s . In überströmender Freude und der schönen Tage gedenkend, die nun noch vor mir lagen, sprang ich durch den hohen Schnee des Realschulplatzes. Gleich nach dem Abendbrot machte ich oben bei Rektor Petersen einen Besuch und ging dann zum Schmücken des Christbaums in der Sonntagsschule, wie ich`s schon so viele Jahre getan habe. Das sind mir immer liebe Stunden gewesen.
Als ich hineinkam, wurde ich von allen herzlich begrüßt: Herrn Schmidt, seine Mutter, Agathe Brodersen und Frau Martensen. Letztere fragte mich, was wir denn draußen machten, worauf ich nichts besseres zu erwidern wusste, als: „Wir halten aus“.
Am Freitag, etwa 3 Uhr, ging ich zu Herrn Wischmann. Auf dem Wege dorthin traf ich Emmi Steffen. Sie sah mich voll an und begrüßte mich freundlich. Ich glaube, sie mag mich, und damit muss ich mich begnügen, denn zum Flirten ist keine Zeit.
Der Gottesdienst in der Christkirche war wieder so traulich, feierlich und erhebend wie immer. Der Probst sprach über das Wort: „Friede auf Erden.“
Ich durfte, als der älteste der Geschwister schon vor der Bescherung hineinkommen und den Baum anzünden, um welches Vorrecht ich die „Großen“ früher immer beneidete.
Die echte kindliche Freude an dem Zauber des Weihnachtsfestes, die mich als Kind erfüllte, fand ich an meinen kleinen Geschwistern wieder. Wie rührend war die Freude meiner guten Eltern, zu schenken, zu geben und zu beglücken. Auch mir hatten sie den Platz des Tisches, der früher für mich bestimmt war, mit Gaben bedeckt. Außerdem wollten sie mir noch eine Reithose schenken. Dann erklangen wieder all die lieben alten Weihnachtslieder, ohne die die rechte Weihnachtsstimmung nicht zu denken ist. Herr und Frau Rektor Siemonsen, die freundlichen Teilnehmer an unseren Weihnachtsabendfeiern, fehlten auch in diesem Jahr nicht. Hulda kam etwas später, da ihr Zug Verspätung hatte. Doch auch dieser schöne Tag ging zu Ende, wie alle – viel zu schnell.

Nach der Kirche am 1. Weihnachtstag besuchte ich mit Vater die alte Witwe Hansen und Brodersen`s. Als ich allein durch die Osterstrasse nach Hause ging (Vater war noch bei Schulinspektor Krohn), traf ich bei der Brauerei Emmi Steffen. Das Mädel hat doch eine große Gewalt über mich, das merkte ich jedesmal, wenn ich an ihr vorbeiging.

2. Januar 1916
Nun bin ich wieder in meiner alten Bude in Courcelles und alles ist wieder wie`s früher war. Noch steigen an der Front die Leuchtkugeln hoch und das Aufblitzen des Mündungsfeuers der Kanonen erhellt die dunkle, stürmische Nacht. Aber hineinbegleiten soll mich die Erinnerung ans liebe Elternhaus.
Die Weihnachtspakete kommen an mit Zeilen, die die Liebe schrieb. Sie sind alle überholt durch meinen Weihnachtsurlaub. So groß die Freude des Wiedersehens war, so groß, ja noch größer ist der Schmerz ob der erneuten Trennung von meinen Lieben. Ich höre wieder fremde Laute, ich lebe unter Feinden, welch ein Wechsel!

3. Januar 1916
Mit Lt. Bruhns und dem Kutscher Adams fuhr ich nach Noyelle. Im Kasino wurde ich freundlich aufgenommen und blieb bis zum Abendessen. Dann trank ich noch mit Wachtmeister Wenzel einen Cognac und schlief tadellos mit Goslar Carstens in einem Bett. Heute Morgen ging ich nach Sallaumines. In der Schreibstube der Batterie Rehfeldt fand ich gleich nette Menschen. Eben habe ich mein neues Quartier aufgesucht. Ein gemütliches Stübchen.
Oberlt. Rehfeldt fragte mich: „Sind Sie Offiziers-Aspirant?“ Worauf ich leider entgegnen musste: „Nein.“

5. Januar 1916
Um 5 Uhr fuhr ich auf einen Kastenwagen wieder an die Front, durch Lièvin nach Angres. Hier sitze ich jetzt auf der Beobachtung von 12-3 nachts in einer kleinen Bude. Das Feuer knistert. Was will ich mehr?
Eben habe ich „Aquis submersus“ beendet. Diese Geschichte aus grauer Zeit hat mich sehr bewegt, Liebe und Leidenschaft Führen zu dem tragischen Schluss „Culpa patris aquis submersus“.

6. Januar 1916
1.45 Uhr. Bis halb acht konnte ich heute morgen in dem Unterstand schlafen, zu dem elf Stufen hinabführen. Um 8 Uhr wurde Lt. Heitmann von Lt. Thormählen abgelöst. Bis Mittag stand ich im Panzerturm und beobachtete die Schützengräben an der Lorettohöhe. Am meisten tritt in unserm Abschnitt die weiße Schlossruine von Voulette hervor.
Dann aß ich in unserer unterirdischen Wohnung mit dem angenehmen Oberlicht zu Mittag – Brot mit Tonderner Leberwurst. Unablässig sausen die Geschosse über die Höhe, uns scheint der Franzose zu schonen. Das finde ich sehr anständig von ihm!
Abends wurde es in der Holzbude wieder gemütlich, der Ofen brannte so warm, und das Licht leuchtete so traulich – es war tatsächlich friedlich –mitten im Krieg. Um 9 Uhr ging ich mit einem Kameraden hinunter ins Dorf. Es war dunkel.
Wir gingen oben auf dem Feld, die Blindgänger sorgsam vermeidend und stiegen die Steintreppe an dem hohen Kruzifix hinab. An dem turmreichen Schloss Rollencourt rauschte der Bach, wie in den Tagen, da die französischen Gräfinnen noch dort aus und ein gingen. Unten im Keller war Licht. Die Leute haben einen guten Griff getan. Schlosskeller pflegen meistens sehr fest gebaut zu sein. Dann bogen wir links in die Dorfstraße ein. Die war leer. Nur hin und wieder begegnete uns ein verlorener Infanterist mit Gewehr oder Hacke auf der Schulter. Von Zeit zu Zeit stieg eine Leuchtkugel auf und beleuchtete die schwarzen Dachsparren und Mauerreste der zerstörten Häuser von Angres. Durch ein zerstörtes Häuserviertel hindurchtappend, gelangten wir zu unserem Unterstand, einem gut erhaltenen Keller, in dem wir die Nacht und den folgenden Tag in Ruhe verleben sollen.

7. Januar 1916
Heute Morgen, als ich aufgestanden war, um 10 Uhr, zischten die Geschosse mit bedenklicher Schnelligkeit über uns hinweg, erschütterten die Ruinen über uns, uns selbst aber taten sie keinen Schaden.
Am Nachmittag ging ich zum Barbier in Liévin. Die Zivilisten, besonders die Mädchen, sind durch den Krieg vollständig verwildert.
Am unangenehmsten ist mir in Liévin der Anblick der Leichenräume. Lt. Meinssen ist ein urgemütlicher Herr, ein echter Holsteiner.
Morgens kam Oberlt. Rehfeldt von einem großen Fest auf die Beobachtung und fühlte das Bedürfnis zu schlafen. Unten  liegt er in der „Flohkiste“.
Mir ist das Schießen der Batterie R. übertragen. Gleich sollen die Franzosen die ersten Grüße von mir haben, und bald hatte der „Franzmann“ seine 20 Schuss weg. Ich habe zum ersten Mal selbständig geschossen.
Dann muss ich dem Oberlt. einen kleinen Bericht geben von dem, „was ich bisher getan hatte“. Er war sehr gnädig. Dann schlief er weiter.
Es wird 7 Uhr abends – Oberlt. Rehfeldt schläft noch immer.

9. Januar 1916
Gestern schlief ich bis halb zwölf, nachher las ich und schrieb einige Briefe. Lt. Meinssen war auf der B-Stelle.
Heute Morgen kam Oberlt. Rehfeldt. Er liess mich noch bis zwölf zu Bett gehen. Danach stand ich bis zwei am Scherenfernrohr. Das Tal vor der Loretto-Höhe war in Dunst und Nebel gehüllt. Um 2 Uhr ging Oberlt. R. schlafen bis 5 Uhr. Ich ließ 10 Schuss Sperrfeuer abgeben. Nun ist unsere Bude auch wieder warm. Tagsüber war das Feuer erloschen. Morgen früh gehe ich in Ruhe nach Sallaumines.

11. Januar 1916
Um halb sieben morgens ging ich fort aus Angres und fuhr von Liévin nach Lens mit einem französischen Kaufmann, der in Lille Einkäufe machen wollte.
Von dem vorderen Zimmer aus, wo meine Sachen liegen, sehe ich die Hügel des Artois, unter ihnen die Loretto- Höhe. Nachmittags sehe ich den Friedhof Lens, auf dem 4000 Opfer der Kämpfe um Loretto schlummern. Bei Herrn Vienne – Cappe blieb ich bis um 7. Gern hätte ich mit seiner hübschen Tochter etwas poussiert. Das ging aber nicht.
Vergebens suchte ich im Dunkeln nach der „Luftschifferkantine“. Beste Unterhaltung fand ich bei Madame Marie Schroeder, deren Mann deutscher Soldat ist, und den beiden Mädels, die sich gar zu gern mit uns unterhalten. „C`est toujours la guerre ici,“ ( hier ist immer Krieg) erklärte Marie, „mais on est toujours honnête“ (aber man benehmt sich immer ordentlich). Sie hatte auch allen Grund es immer wieder zu betonen, denn manchmal war es nicht „honnête“.
Liebe Unteroffiziere traf ich dort von den 84 ern, Landsleute. Zuletzt wurde eine Tasse Kakao mit Rum herumgereicht, und danach entfernten sich die „Kameraden“ dieser wackeren Frau.

12. Januar 1916
Um das Legen einer Kabelleitung zu überwachen, werde ich zur Abteilung kommandiert und meldete mich heute Nachmittag um 4 Uhr beim Abteilungsadjudanten Lt. Friedrichsen, ging danach gleich zur Wiegand –Höhe, habe die Kabelleitung verfolgt, geriet dabei in den Ludendorff – Graben.
Mit einen Lastauto fuhr ich nach Sallaumines zurück. Abends ging ich noch zur Madame Marie, obgleich ich um 2 Uhr raus musste. Im Regen ging ich nach der Wiegand –Höhe,. 12 Armierungssoldaten sind dort. Um 8 Uhr Befehl, dass alle Armierungssoldaten nach Lens sollen. Ich fahre mit einem Wagen der 5. Batt. nach Salaumines. Skizze wird gemacht. Lt. Friedrichsen kommt erst um halb 6 anstatt um 4 Uhr. Ich wartete so lange in der Küche bei den 3 Burschen.

14. Januar 1916
Abends kam ich in die neue Stellung der Batterie R. Unter all den jungen Kriegsfreiwilligen fühle ich mich sehr wohl. Das ist Geist von meinem Geist. Auch meine 4 „Kellergenossen“ sind nette Leute. Nur der eine schnarcht fürchterlich. Heute Morgen fand ich 20 Armierungssoldaten vor. Es hat gut geschafft. Wir haben den Wald auf der WiegandHöhe erreicht und das Kabel bis zum Ludendorff-Graben gelegt.
Eben entdecke ich, dass ich Nachbar von einer freundlichen Madame und ihrer niedlichen 17 Jährigen Tochter bin. Und einer meiner Kellergenossen erzählt, dass in der Nähe ein Klavier ist! Herz, was willst du mehr? Ist ja alles da, was mich alten Knaben erfreuen kann.

15. Januar 1916
Ich bin nicht enttäuscht worden. Bei Yvonne (die Soldaten sagen „Iwan“) war es gemütlich. Das Piano war nicht verstimmt, der Most war gut, der Kaffee sogar ausgezeichnet. Und sie selbst ist ein herziges Mädel. Gesungen und gespielt habe ich viel. Als ich wieder zur Battrie R. gehen wollte, traf ich Unteroffizier Langmeier, der mir die Stellung der 6. Batterie zeigte. Im Unterstand bei Duve erzitterten jedesmal 2 französische Frauen, wenn ein Schuss losging. Wir beschlossen, um 8 Uhr nach Yvonne zu gehen.
Nachdem ich meine Sachen von Angres geholt hatte, verlebte ich mit Duve und Langmeier bei Yvonne nebst Tante einen Most-Kaffee-Lieder-Abend.
Heute Morgen bekam ich nur 11 Soldaten. Es schaffte natürlich auch nicht besonders. Ich will mit Lt. Friedrichsen darüber sprechen.

16. Januar 1916
Nachmittags von 3-6 war ich bei der Madame. Der Leutnant von den 84ern war auch wieder da und der kleine sanglustige Vize-Feldwebel. Ich ging früh zu Bett, denn meine Nachtruhe war schon zweimal zu kurz gekommen.
Heute Morgen erwartete ich vergebens meine Soldaten. Stattdessen traf ich an der Wiegand-Höhe Unteroffizier Wulff, Itzehoe. Um halb sechs legte ich mich wieder schlafen.

18. Januar 1916
Heute Morgen mussten meine 20 Soldaten Zementplatten auf die B-Stelle der 5. Batterie schleppen. Mich verdross zweierlei: dass die Leute so schwer arbeiten mussten– einen Fehler haben alle – und dass ich mit meinem Graben nicht weiterkam. Erst um 8 Uhr waren alle Platten oben. Dann haben wir noch eine Stunde unten gearbeitet.
Ich bin stark erkältet, habe einen rauhen Hals, keinen Appetit und Kopfschmerzen.
Heute Nachmittag soll ich um 4 Uhr nach Feuerleitung Nord.
Dort sprach ich mit Lt. Friedrichsen, der sehr wohlwollend war. Als ich schon im Bett lag, rief er mich noch ans Telefon und sagte mir, ich bekäme morgen 29 Armierungs-Soldaten. Mit denen hab‘ ich heute Morgen im Akkord gearbeitet, es hat gut geschafft. Man sieht, was die Leute alles leisten können,  wenn sie wollen. Oben beschäftigte ich 9 Mann (Gefr.Buchholz) unten 20 (Unteroffizier Albrecht). Es freut mich, dass die Arbeit gute Fortschritte macht.
Montenegro bittet um Waffenstillstand, Persien erklärt Russland und England den Krieg. Mir will es fast scheinen, als wenn wir uns jetzt dem Frieden nähern. Keiner glaubt mehr an den Sieg des Vierverbandes.

19. Januar 1916
Heute Morgen hatte ich nur noch 20 Mann. Ich beendete die Strecke, die gestern angefangen war. In 9 Tagen hoffe ich den Graben fertig zu haben. Gestern Abend gab´s bei uns einen feinen Weingrog, der mir bei meiner starken Erkältung außerordentlich wohltat.

20. Januar 1916
Gestern Abend war´s gemütlich bei Madame Lengrand. Wir tranken Kakao, aßen Kuchen, und tranken Cherry Brandy. Ein gesunder Lachkrampf hielt uns in steter Bewegung.
Heute führten wir den Graben bis zum Bach. Heute Mittag gehe ich nach Sallaumines.

21. Januar 1916
Die Arbeit heute Morgen im Wiesengrund schaffte gut. Jeder machte 2 m. im Akkord. Von 9-1 Uhr schlief ich, denn ich bin sehr erkältet, habe Fieber und bin infolgedessen sehr schlapp.
Um halb zwei ging ich nach Lens zu einem Vortrag über Handgranaten.
Eben komme ich von Madame Lengrand und wartete mit wenigstens etwa Appetit auf‘s Abendessen.
Gestern Abend machte Madame mir einen schönen warmen Weingrog.—Von den beiden alten Damen nebenan lieh ich eine französische Darstellung des Krieges 1870-71.

24. Januar 1916
Gestern war ein wunderschöner sonniger Tag – Sonntag. Morgens begrüßte ich Madame Lengrand. Um halb zwei ging ich zur Wiegand-Höhe. Lt. Friedrichsen war mit unseren Leistungen zufrieden.
In Avion traf ich Vetter Rudi Suhren, der jetzt den 2. Zug führt. Abends ging ich mit seinem Zug hinaus auf die Straße – Avion-Lièvin – durch tiefen Dreck watend. Ja, wenn man sich der Infanterie anvertraut, muss man auch die Folgen tragen, d. h. durch einen ganzen Haufen Dreck und Schmutz waten.

23. Januar 1916
Heut’ hab’ ich mal ordentlich ausgeschlafen und um 7 Uhr mit meinen Kameraden Kaffee getrunken. Danach habe ich meine Stiefel geputzt und mich gewaschen.
In der Nacht träumte ich, ich hätte mich mit Emmi Steffen verlobt. Ein Gefühl des Glücks erfüllte mich ganz und gar. In dem vornehmen aristokratischen Hause ihrer Eltern wurde ich freundlich aufgenommen.
So muss auch mal mein Haus sein: Ruhig und sicher, unberührt durch die kleinlichen niederdrückenden Sorgen, die der Mammon so vielen Menschen bereitet, erhaben über das unruhige, leichtem Vergnügen nachjagend gemeine Treiben der großen Masse. Meine Frau muss von tiefem Gemüt sein, und so schön, dass sie mich jeden Tag auf’s neue durch ihre Reize erfreut.
Geschrieben im tiefen Keller, unweit des Kirchhof’s von Lièvin.

26. Januar 1916
Heute bin ich nebenan bei den alten beiden Damen und der kleinen braunäugigen Mademoiselle eingezogen. Das kleine Zimmerchen im 2. Stock ist gut, doch nicht bombensicher. Ist es da oben zu windig, muss ich wieder ausziehen!

27. Januar 1916
Gestern Abend habe ich doch aus Selbsterhaltungstrieb mein Lager unten im Erdgeschoss aufgeschlagen. Es war warm und weich. Nur ein paar Mal störte mich die andauernde Schießerei. Die Armierungssoldaten waren heute Morgen nicht da. Sie feiern wohl Kaisers-Geburtstag. Ich schrieb heute nach Hause: Wolle Gott weiter die gerechte Sache unseres Kaisers segnen!

28. Januar 1916
Gestern wurde unsere Gegend schwer befunkt. Ein großer Brocken ging mitten auf der Straße. Der Bursche mit dem Christusbart versteckte sich hinter dem großen Wasserkübel.
Heute Morgen hatte ich 7 Armierungssoldaten. Ich habe das letzte Ende des Grabens noch einmal überarbeitet, und dann wurde von jedem noch ein Meter  ausgehoben. Als ich zum Barbier ging, flutete die Zivilbevölkerung durch die Straßen, um Brot zu holen. Sie hasteten. Die Furcht stand auf allen Gesichtern, fallen doch täglich Zivilisten den französischen Geschossen zum Opfer.

30. Januar 1916
Sonnabendmorgen belästigten uns die Infanteriekugeln, die vom Park zu uns herüberflogen. Nachmittags machte ich mir’s im Keller gemütlich.
Abends bei Madame Lengrand waren einige Infanterie-Offiziere zugegen. Es ging lustig her. Die französische Artillerie verwehrte mir lange das Einschlafen. Schon zum zweiten Mal fasste ich in der Nacht den Entschluss, in einen Keller zu gehen um Nachtruhe zu haben. Jedoch wird der Entschluss am Tag jedes Mal wieder wankend, da das Umziehen mir zu umständlich ist und der Annehmlichkeiten hier zu viele sind.


 

Februar 1916

1. Februar 1916
Gestern Morgen war ich in Lens, um für Madame Debay einen Brief nach ihrer Schwägerin zu bringen und zugleich in Sallaumines nach meinen Stiefeln zu sehen.
Auf dem Rückweg, als ich der Feldbahn folgend, nach Lièvin ging, traf ich Major Kohlbach mit Stab zu Pferde, danach Oberstlt. Wellmann – unsern Regimentskommandeur.
Heute gab’s ein leckeres Mittagessen – Frikadellen; den wackeren Köchen alle Ehre!

3. Februar 1916
Heute Morgen langte ich mit meinem Graben bei der Straße durch Lièvin an. In der Zentrale fand ich folgenden Befehl: „Unteroffizier Kardel morgen früh 8.30 Uhr im Schlachthof bei der 4. Batterie. Leutnant Friedrichsen spricht ihm seine Anerkennung aus.“
Dann suchte ich in der Nähe von Fosse 3 nach Gefreiten Hess, um von ihm 30 m Kabel für die Straße zu bekommen.
Meinem Brief an meine Mutter fügte heute Madame Debay einige Zeilen an – in echtem Französisch, d. h. wortreich, hochklingend und übertreibend. Die Straße ist durchbrochen und die 3 Kabel drin. Als die Leute noch beim Kabel-legen mithelfen mussten, murrten sie. – Lt. Friedrichsen war sehr zufrieden.
Mutter schrieb mir einen 8 Seiten langen Brief. Der Kaiser hat in Weißkirchen mit Bruder Rudi gesprochen.

4. Februar 1916
Gestern Abend war ich in der Telefonzentrale, die die intelligentesten Bewohner hat. Wir tranken ein gutes Glas Bier.
Heute Morgen übersetzte ich der Madame Debay und ihrer Tochter einen Artikel des Pariser Professors Anlard: „Nicht aushungern, sondern schlagen!“
Nach einiger Zeit behauptete Jeanne, diese echte schwatzende, witzelnde Französin: „ C`est tout arrangè les Allemands.“ (Das ist alles von den deutschen arrangiert). Ich wurde wütend, dass so eine junge Gans uns als Lügner herzustellen wagte und erwiderte: „Maintenant je ne lirai plus rien. Je ne suis pas le fou de cette petite fille.“ (Jetzt übersetze ich nichts mehr. Du bist doch nur ein kleines dummes Mädchen).
Nun ist sie ganz still und sagt nichts mehr. Ich will mich unter der Hand nach einem Platz in einem Bunker umsehen. Offen gesagt, es wird mir hier zu windig, jetzt wo uns seit gestern eine neue Batterie von Souchez aus flankiert.
Gestern Abend, als die Brennzünder kamen, was Wunder, dass das Schimmelpaar ausriss, und die Frauen Hals über Kopf in den Keller stürzten, um ihr bisschen Leben zu retten.

5. Februar 1916
Eben habe ich mich gründlich gewaschen und fein gemacht für den Sonntag.

6. Februar 1916
Am Sonnabendnachmittag war ich bei Madame Joy. Sie sowie ihre beiden Töchter waren sehr nett. Die 17-jährige Thérése hat hübsche Augen, aber war für ihr Alter verhältnismäßig dick.
Heute wollte ich Vetter Rudi Suhren in Sallaumines besuchen, doch er war auf Urlaub nach Hènin-Liétard.

7. Februar 1916
Wir errichteten im Keller eine spanische Wand, „un mur Espagnol“ oder „un rideau“, bei dem es lustig herging. Jeanne fand immer neue Löcher, die noch geschlossen werden mussten, nannte mich einen Spezialisten im Errichten von spanischen Wänden, und die Madame fragte mich, ob ich, wenn die Mauer fiel, die Augen schließen wolle.
Abends verschwanden sie in ihrem Heiligtum, froh, von neugierigen Männerblicken unbehelligt zu Bett gehen zu können. Um halb 4 weckten mich sechs kräftige Schläge gegen die Tür aus meinem Schlummer. Wir legten das Kabel durch den Laufgraben bis zum Granatloch.

8. Februar 1916
Heute Nachmittag wurden die feindlichen Batterien durch unsere Artillerie unter Feuer gehalten. Es ist die Übung „Hamburg“. Bei Neuville scheint wieder ein Angriff im Gang zu sein. Ein paar Granaten machten schon den Keller erzittern.

9. Februar 1916
Aber es sollte noch schrecklicher kommen. Die Debay`s und ich waren hinaufgestiegen, um den Ort des Kampfes zu sehen. Bei Givenchy und Neuville war das Feld in weißem Pulverdampf gehüllt. Das Gewehrfeuer ratterte. Menschen waren nicht zu sehen. Dann standen wir noch eine Zeit lang in der Haustür und sahen, wie sechs französische Flieger über uns kreisten. Da ich meinen Brief beenden wollte, ging ich hinunter, die Frauen folgten mir. Kaum war ich wieder beim Schreiben, da hörte ich oben Geschrei: „Au secour, au secour“. Ich stürze hinauf und stoße die Haustür auf. Da kommt ein Mann aus der Nachbarschaft gelaufen mit schreckentstelltem Gesicht. In seinen Armen hängt ein Mädchen von zehn Jahren, dem der Bauch aufgerissen ist, die Eingeweide sind sichtbar. Es lebt noch. Er trägt es in den Flur, auf dem sich Blutlachen bilden. Ihm folgt eine Frau, die ein kleines Mädchen trägt, das am Kopf und am Bein schwere Wunden hat. Die Frau selbst hat ein Sprengstück in die Seite erhalten und das kleine Mädchen von fünf Jahren ist am Kopf verwundet. Die Eltern sind außer sich und rasen vor Trauer. Ich konnte nicht helfen, es war ein grässlicher Anblick. Nach einiger Zeit zogen sie wieder ab und sind jetzt im Keller des Schlosses in den Händen der guten Gräfin.
Wie dankbar bin ich Gott, dass meine Eltern und Geschwister nicht in solcher Gefahr schweben! Heute bin ich mit all meinen Sachen in den Keller gezogen zu Madame Debay „pour sauver ma vie“ (um mein Leben zu retten).

10. Februar 1916
Heute Nachmittag hub ein gewaltiges Artillerie–Duell an. Um 5 Uhr begann es zu krachen an allen Ecken und Kanten. Wir gingen in den Keller. Erst um halb acht war`s vorbei. Drei Granaten sind in unser Haus gegangen. Der Hof ist bedeckt mit herabgefallenen Ziegeln.

11. Februar 1916
Gestern versetzten wir den Ofen. Er brennt jetzt gut. Um 4 Uhr begann wieder eine gewaltige Kanonade, die anderthalb Stunden dauerte. Eine Granate schlug in die „petite cuisine dans la cour“ ( kleine Küche im Hof).
Heute ist ein ungemütliches Wetter, es regnet und schneit zugleich.

12. Februar 1916
Eben machten wir ein Manöver im Passieren des erweiterten Fensters im Notfall. Madame Debay nahm mich vorsorglich mit nach oben, denn Mademoiselle Jeanne sollte als erste hindurch. Sie wäre aber in der Mitte stecken geblieben, wenn Madame und ich sie nicht nach oben gezogen hätten.
Um drei Uhr begann heute nachmittag die Schießerei. Gleich der erste Schuss ging ins Haus, und zwar in die Treppe, die in die erste Etage führt. Die Steine und Granatsplitter flogen bis in den Keller. Ich saß gerade vom dem Kellerausgang. Gott hat mich vor Schaden behütet. Ihm sei Dank! Das Haus war noch lange nachher von Staub und Pulverdampf erfüllt, so dass die Madame meinte, es brenne drinnen. Wir gingen in die Küche nebenan. Noch lange wurden wir mit mittlerem Kaliber beschossen. Die Schwester von Madame D. kann nur noch flüstern, der Schreck hat ihr die Stimme genommen.
Das kleine „cabinet“ im Hof ist auch getroffen.

15. Februar 1916
Am Montagmorgen führten wir den Graben bis zur 7. Batterie, bis kurz vor den neuen Unterstand, wo allerdings die Schwierigkeiten – hindurch zukommen-, wegen davor liegender Balken und Grubenhölzer groß waren. Das Stück machten wir heute Morgen fertig.
Willi überließ mir – es ist rührend – seine Familienfotografie vom 4. Juli ‘15 und sein Liederbuch, was allerdings meinen Wünschen nicht entsprach. Lala schickte mir ein Paket. Sie ist herzensgut, aber eine wahre Freundin muss mir geistig ebenbürtig sein. Weihnachten habe ich sie noch geküsst und jetzt?
Heute Morgen war das Wetter so unwirtlich wie nie. Es regnete, schneite und hagelte. Sechs Soldaten arbeiteten am Zuwerfen des Kabelgrabens, vier unten bei der 5. und 7. Batterie. Um 8 Uhr legte ich mich wieder schlafen bis Mittag. Nun geht`s ans Schreiben.

16. Februar 1916 / Abends 9.30
Heute ließ ich von jedem Soldaten 5 m Graben zuschütten, es war zu viel, sie konnte’s nicht schaffen.
Nachher ging ich zum Coiffeur, um mich rasieren zu lassen. Die Straßen waren voll von elenden Zivilisten, die zum „ravitaillement“ (Verproviantierung) gingen oder daher kamen.
Leutnant Thormählen hat mein Quartier besichtigt und für gut befunden. Madame Debay wusste nur Liebes und Gutes von mir zu erzählen. Mit gewohnter französischer Offenheit  (franchement) sagte sie: „J’ai une petite fille de dix-sept ans, mais mr. le corporale la respecte toujours.“ (Ich habe eine kleine Tochter von 17 Jahren, aber Herr Corporal benehmt sich respektvoll.)

17. Februar 1916
Meine Soldaten kamen heute erst um 5 Uhr, weil sie laufen mussten. Wir fuhren fort den Graben zuzuschütten.
Um 8 Uhr 45 war ich zum Major Kohlbach und Leutnant Friedrichsen nach dem Tunnel an der Straße nach Avian befohlen. Major Kohlbach sprach mir seine Anerkennung für meine Arbeit aus. Was werden uns die nächsten Tage bringen? Man merkt’s überall: Uns steht etwas Besonderes bevor!

18. Februar 1916
Gestern Abend bekam Madame Debay einen Brief von meinem Vater.
Bruder Johannes beneidet mich um meine freie Zeit.
Heute Morgen beendeten die Soldaten das gestern angefangene Stück und arbeiteten aus freien Stücken  für morgen vor. Als ich nach Sallaumines gehen wollte, rief Goslar Carstens mich an. Inzwischen fing es an zu regnen, und ich blieb hier.

19. Februar 1916
Nachmittags baute ich mir am Fenster einen kleinen Tisch mit einem Stuhl auf, wo ich tadellos „studieren“ kann.  Abends maßen Jeanne und ich gegenseitig unsere Körpergröße, was wieder nicht ohne einigen Spaß abging.  
Eben habe ich mich in Gala geworfen und beabsichtige, bei Madame Lengrand etwas Klavier zu spielen.

23. Februar 1916
Das Armierungsbataillon meldet mir, dass meine Soldaten Dienstagmorgen nicht kommen. Immer Widerstände! Wie soll ich dann fertig werden. Wie ich auch eben durch einen Gang nach der Wiegand-Höhe feststellte, sind sie auch wirklich nicht da gewesen.
Abends bei Madame Lengrand traf ich einen Hannoveraner Lehrer, 84 er-, ein Klavierkünstler. Er spielte „Noch sind die Tage der Rosen“ – und ich sang dazu. Die beiden Leutnants waren auch da.
Kurz vor Mittag meldete ich Leutnant Friedrichsen das Ausbleiben der Armierungssoldaten. Ich bat um einige Leute aus den Batterieen.

24. Februar 1916
Wie die Ordonnanz mir meldete, kamen die Soldaten heute wieder nicht. Warum? Das möchte ich wissen. Ich schlief gehörig aus. Ich nenne mich „pauvre soldat de guerre“, (Armer Kriegssoldat),die Madame nennt mich „le plus heureux soldat“. (Der glückliche Soldat) Noch immer liegt eine weiße Schneedecke  über dem Land.
Die Hälfte von allem, was die Franzosen reden, ist hinzugedichtet. Mit Leuten, die kaum französisch sprechen können, wollen sie die herrlichsten Dialoge geführt haben. Ich habe sie im Original gehört und nachher sie wiedererzählen gehört. Überhaupt im Reden ohne nachzudenken waren sie immer groß. Sie sind ein Volk der Phrase.

25. Februar 1916
Leutnant Friedrichsen sagte mir, dass ich von jetzt ab wieder Dienst in der Batterie tun soll. Ich meldete das dem Oberleutnant, der sehr erfreut war, weil ein Unteroffizier krank geworden ist.
Wir werden mit schwerem Kaliber beschossen. Ein Volltreffer hat im Parterre unseres Hauses tatsächlich alles drunter und drüber geworfen. Allein von dem Luftdruck waren sämtliche Fenster demoliert. Abends ging ich auf Beobachtung.
Der teuren Heimat mit allem, was sie liebes umfasst, aus tiefer Nacht in Feindesland innigen Gruß!

26. Februar 1916
Heute las ich im Zeitungsdienst:
„Am gestrigen Spätnachmittag nahmen die Inf. Regimenter 162’er und 163’er nach mehrstündiger Artillerievorbereitung 900 m des französischen ersten und zweiten Grabens auf der Giesler-Höhe“.

27. Februar 1916
Morgens um 7 Uhr feuerte der Franzose vier Schüsse in unsere Nähe. Nachher hörte ich, dass eine alte Frau an der Schlossmauer getötet sei.

28. Februar 1916
Die Franzosen sind falsch gegen uns Deutsche – fast alle. Heute sagte Jeanne leise zu ihrer Tante, wenn ichWasser zum Waschen brauche, dann könne ich mich auch am Wasserholen beteiligen. Aber ich sagte: „So haben wir nicht gewettet. Sage Du noch einmal so etwas, sage ich : „je m´en vais!“ (Ich ziehe um!)

29. Februar 1916
Heute Abend sagte ich zu Madame Debay, dass ich auszöge. Sie würde mir zu nervös. Nun vermutet sie wieder die Absicht dahinter, ihr den Keller ganz zu nehmen.


 

März 1916

1. März 1916
Eben bin ich in den Beobachtungskeller gezogen. Das Wetter sagt: Es wird Frühling.
Vor uns sehen wir von hier aus die Wiegand-Höhe, die der Franzose gerade mit Brennzündern beschießt.

2. März 1916
Ich bin in Friede und Freundschaft von Madame Debay-Béhal geschieden. Eine dicke Wolldecke nehme ich nach gütiger Erlaubnis von Mr. Florent Laurent mit.

3. März 1916
Heute Morgen verbrachte ich einige Stunden am Pianoforte von Madame Lengrand.
Diese ließ ihren Keller sichern, wozu Yvonne fleißig mir der Schubkarre  Steine von der Mairie über die Straße heranschaffte.

4. März 1916
Eben erzählt Hess mir, dass ich für einen zweiten Kursus in Courcelles vorgeschlagen bin. Das Wohlwollen meiner Vorgesetzten, das sich hierin zeigt, freut mich von Herzen. Es ist ja auch der einzige Weg, auf dem ich weiterkommen kann.
Eben spielte ich mit Bubi Hess und Hummel Karten, verlor natürlich andauernd. Hummel versicherte ganz treuherzig: „Das Spelen hett keen Zweck för di“ und das sehe ich auch selbst ein. Vaters Segen ruht nicht auf meinem Spiel.

5. März 1916
Im Sonnenschein gehe ich nach Sallaumines. In Lens spreche ich bei Mr. Vienne vor und freue mich wieder an seiner an seiner verständigen, niedlichen Tochter. Sie war schlanker geworden, was ihr gut stand. Sie saß am Fenster in der Sonne und bediente die Kundschaft. Die übrigen Glieder der Familie waren im dumpfigen Keller.
Ich hatte Glück mit meinen Besorgungen. Ich erhielt Sergeant Meyer's Säbel und seinen Revolver. Allerdings eine Hose hatte Wachtmeister Goldberg nicht für mich. Dafür bekam ich von dem Schneider der 4. Batterie einen Flicken. In dem bequemen Offizierswagen fuhr ich zur Stellung zurück. Ich habe seine Wache übernommen.
Mein Vetter Rudi Suhren ist Leutnant geworden.

6. März 1916
Ich lese: „Wirklich zu genießen versteht nur der, dem auch die Entbehrung nicht fremd geblieben ist.“
Ich wache von 9-3 Uhr nachts.

7. März 1916
Morgen sollen wir die alte Beobachtung der Feuerleitung auf der Wiegand-Höhe beziehen. Deshalb muss ich auch heute Nacht noch wachen.
Das große rote Haus in der Nähe des 1. Geschützes beherbergt – sage und schreibe – acht Frauen. Außerdem wimmeln 9 Kinderlein darin herum.
Madame Bar hat meine Hosen tadellos ausgebessert. Mit den andern hab‘ ich mich gut unterhalten. Morgen früh geht‘s auf die Beobachtung der Wiegand-Höhe.

8. März 1916
In unserer neuen Beobachtung auf der Wiegand-Höhe kann man sich Eisbein und Rheumatismus holen. Umso froher war ich, als Feldwebel-Leutnant Schwerdtfeger mich gleich für 3 Tage in Ruhe schickte.

10. März 1916
Mit Hess fahre ich nach Sallaumines. Bekomme Goslar Carstens Quartier zugewiesen. – Kino besucht. – Herrlicher Schlaf im weichen Feldbett. – Hermann Neubrink besucht mich,  als Leutnant bei der M.G.K.84. Heute schneit‘s.
Vor einem Jahr fuhr ich nach Frankreich.
Meine Kameraden erzählen von der Teuerung in Deutschland. Sollte dem Hunger wirklich gelingen, was dem Schwert unserer Feinde misslang? Das verhüte Gott!

12. März 1916
Die Beobachtung hier auf der Wiegand-Höhe ist sehr feucht – das Wasser läuft überall.
Draußen ist blauer Himmel und Sonnenschein. Trotz Not und Tod – es wird Frühling. Eben versuchte Oberleutnant Rehfeldt zusammen mit Oberleutnant von Arnim und Leutnant Schottke die 8. Batterie auf das Bois de Bouvigny einzuschiessen. Erst nach langem Suchen fand Rehfeldt die Schüsse.

13. März 1916
„Die Lindenlüfte sind erwacht.“
Lièvin wird mit schwerem Kaliber beschossen, für uns unter der 1 m dicken Cementschicht ein schaurig-schöner Anblick.
Mit Oberleutnant Rehfeldt und Leutnant Thormählen fahre ich nach Sallaumines.
Nachmittags ging‘s im herrlichsten Sonnenschein nach Hènin-Liètard. Dort wurden Korpskantine, Soldatenheim und Kino besucht. Auf einem B-Wagen fuhren wir nach S. zurück. Abends schöne Vorstellung im Soldatenkino in S. – Wieder schlafe ich in dem schönen Bett. Heutemorgen kamen wir in den Stinkraum.
Nachmittags ritten Bey und ich aus nach Mèricourt und Billy-Montigny. Heute Abend fahre ich nach Lièvin zurück.

17. März 1916
Gestern war ich bei Hermann Neubrink. Ich ging mit ihm in den Regimentsabschnitt der 84 er.  Nachher saßen wir in seinem gemütlichen Stübchen und sprachen von Tondern. Heute morgen habe ich Unteroffizier Melzer abgelöst.

18. März 1916
Wie lange soll dieser Krieg noch dauern? Ist’s nicht bald genug?

19. März 1916
Nun sind die drei Tage „Beobachtung“ schon wieder um. Da die Sicht gut war, konnte ich oft Einblicke ins feindliche Lager tun. Ich sah die Eisenbahn, Wagen und Reiter auf der Landstraße, die auf dem Bergrücken entlang läuft, Automobile auf der gekrümmten, hügelabwärts laufenden Straße, Reiter, die von ihren Pferden stiegen, rauchende Schornsteine hinter dem Höhenrücken rechts. Am ersten Tag war Leutnant Pape hier, an den letzten beiden Tagen Oberleutnant Rehfeldt.

21. März 1916
Im Gespräch erlauscht: „Sallaumines bon, nix bum bum, Lorette nix bon, viel Grenate.“ Heute Morgen besuchte ich Divisions-Pfarrer Schwarzkopf. Ritt ein klobiges Pferd.
Vater macht wieder Geld-Schwierigkeiten. Das ist ärgerlich. Im Kino sah ich „Der Tunnel“ von Kellermann. Als ich nach Hause ging, rollte ein schwerer Mörser, von starken Pferden gezogen, langsam auf Lens zu. Wohin? Wozu? Möge jedes Geschoss, das du schleuderst, bewirken, dass doch bald Friede werde!

22. März 1916
Eben las ich „Auf dem Staatshof.“ Wie alle Erzählungen Storms, so zeigt dieser besonders die Wahrheit des Wortes: „ Sic transit gloria mundi.“
An Stätten gewesenen Glanzes, und entschwundener Herrlichkeit, hält dieser feinfühlende Dichter sich am liebsten auf.

28. März 1916
Ich hatte dich vergessen, mein liebes Tagebuch, als ich am Sonntag Nachmittag nach Sallaumines ging. Der warme Sonnenschein, der blaue Himmel versprach mir eine angenehme Ruhe. Den ersten Abend verlebte ich zusammen mit Jens Jessen, Stoltelund, und Wilhelm Löhmann, Flensburg, mit denen ich zu Abend aß und nachher einen heißen Grog trank. Das Bett bei Madame erwies sich wieder als sehr gut. Am 2. Tage wurde gebadet. In Hènin-Liètard traf ich Bernhard Nielsen und Esswein (Kol. 29), aber verfehlte leider Sergeant Kolberg. Der Regen und der Anblick des Rittmeisters von Bugenhagen vertrieben mich früher wieder von Hènin-Liètard. Erst in der elften Stunde meines Aufenthalts in Sallaumines wurde mir ein hohes Vergnügen bereitet, durch den Anblick der Mademoieselle Marthe, die so lieblich schwatzte, und deren verstohlene Blicke mich entzückten. Gefreiter Triebe rief mich hinein, und wie war die kleine Gesellschaft geeignet, einen den Krieg für einige Augenblicke vergessen zu lassen. Wir sprachen hin und sprachen her, lachten und scherzten.
In dem Wagen, der Oberleutnant Rehfeldt holen sollte, fuhr ich mit 2 braven Landwehrleuten nach vorn. –Unteroffizier Melzer hat unseren Wohnunterstand mit weißem Linnen ausschlagen lassen, wodurch er freundlicher wird.

30. März 1916
Eben sagte Gefreiter Triebe mir einen Gruß durchs Telefon von Mademoiselle Marthe. Wir haben uns nicht vergessen. Ich freue mich schon auf die Stunde des Wiedersehens.
Gestern kam Leutnant Berninghausen auf die Beobachtung, ein netter Herr.
Eben wurde der Schlossgarten mit schwerem Kaliber beschossen. Als ich heute Nachmittag von der Küche heraufkam, wurde ein englischer Flieger beschossen. Die Sprengstücke hagelten herunter und schlugen die Zweiglein von den Bäumen. Ein Splitter klinkte auf das Eisengeländer, an dem ich entlang ging.
Die 5. Batterie beklagt einen Toten und einen Schwerverwundeten.


 

April 1916

3. April 1916
Ich habe Tisch und Stuhl in den Garten hinausgesetzt. Die Sonne scheint mir warm auf den Rücken. Hier meine Erlebnisse der letzten Tage:
Am 31. abends zog ich mich um, meldete mich bei Leutnant Berninghausen ab und ging zur Batterie hinunter – es war ein wunderbarer Abend. Kurz begrüßte ich Madame Lengrand und Yvonne, beeilte mich dann aber, den Wagen nicht zu verfehlen. Unser Fahrer war vor dem Kriege Postbote in Hamburg gewesen. Als ich in Sallaumines abstieg, ging ich gleich in die kleine gemütliche Küche hinter der Schreibstube, wo ich Mademoiselle Marthe sah. 
Um 12 wollte ich zu Bett gehen in dem Haus schräg gegenüber bei Madame Gènie.
Ich klopfte gegen Fenster und Türen – keiner kam.
Da ich wusste, dass Unteroffizier Melzer erst in der letzten Nacht hier geschlafen hatte, dachte ich,  die Frau wollte aus Trotz nicht öffnen. Da das Fenster oben offen war, stellte ich eine Leiter an, und gelangte so in die Wohnung. Das Nest war leer. Ich legte mich also in das Bett in der besten Stube und schlief herrlich bis zum nächsten Morgen.- Auch da war die Wohnung noch leer. Erst später merkte Madame Gènie, wer im Bett geschlafen hatte.
Mit 2 Leuten fuhr ich nach Lens, um Eisenfedern für eine Gig zu requirieren. Ich war ja Sprachkundiger. Nachmittags sattelte ich mir den „Männe“ und ritt nach Mericourt. Den Abend verbrachte ich mit Goslar Carstens, der auch seine ganze Aufmerksamkeit der kleinen Mademoiselle Marthe widmete. Er meinte, seine Ansprüche seien älter als meine, ich sollt sie nicht zu sehr umwerben. 
Als ich am nächsten Morgen hinaustrat, strömte mir die Luft wohlig warm entgegen. Ich ging mit Unteroffizier Bey nach Lens, um eine Birne umzutauschen.
Nachmittags ging ich zur Versammlung christlicher Akademiker nach Fouquières, doch fühlte ich mich da nicht wohl, ich empfahl mich zeitig.
Als ich durch Billy-Montigny ging, traf ich Vetter Rudi Suhren. Er nahm mich mit ins Kompagniekasino, wo ich u. a. Zahnarzt Thiessen aus Husum traf.
Abends tanzte ich mit Madame Louise, Marthes Schwester.
Heute schlief ich bis halb zwölf. Nach einigen Stunden bin ich schon wieder auf dem Wege zur Wiegand-Höhe.
Diese ersten schönen Sonntage in Sallaumines werde ich nicht vergessen. –Noch sind die Tage der Rosen!

5. April 1916
Ein Tag ist jetzt schon wieder hin. 
Abends 10.30. Eben war Vetter Rudi Suhren mit einem anderen Leutnant hier. Er fand alles sehr schön und zeigte nicht übel Lust, auch Artillerie-Unteroffizier zu werden. Leider konnte ich den beiden Herren zum Kaffee nicht recht was vorsetzen, da Fettigkeiten, ja selbst Marmelade „n`a plus“ waren.
Goslar Carstens ist zum Leutnant befördert. Mir fehlt nur eins für meine militärische Karriere – das Geld!

9. April 1916
Eben bin ich aus der Ruhe zurückgekehrt. Oberstleutnant Rehfeldt wollte zu Fuss gehen. Hummel und ich fuhren allein nach Lièvin. Ich wollte Vetter Rudi Suhren besuchen. Er war gerade auf Urlaub. Mit Walther war ich im Kino. Heut’, der Sonntagnachmittag  gehört meiner lieben Marthe.

10. April 1916
Der Offizier Kursus ist zuende. Gestern traf ich den älteren Hess als Vize. Stieger ist qualifiziert, aber kein Vize. Und mein Schicksal? Es liegt in Gottes Hand.

11. April 1916
Heute Abend erhielt ich einen Brief, den Vater „an seine drei lieben Söhne im Felde geschrieben hat. So gut er’s mit uns meint, der liebe Vater, ich und er, wir werden nie ganz zusammen kommen. Die Religion scheidet uns.

13. April 1916
Mit Lippholdt fuhr ich nach Sallaumines. Marthe und ihre Schwester waren gerade hinauf gegeangen. Ich spielte ein Stück, um meine Ankunft anzuzeigen. Da kam sie hinunter und begrüßte mich. Ich schlief bei Triebe, der mir lange von seiner „Kleinen“ erzählt. Die ist eine Modedame.
Baumann hat mich heute Morgen wieder rasiert. Er war auf Urlaub. „Geit to wit!“ sagt er immer.

14. April 1916
Hier soir Marthe Wilmotte m’a donné un baiser. J’ ai dormi chez Madame Fourmont. (Gestern Abend gab Marthe Wilmotte mir einen Kuss. Ich übernachtete bei Madame Fourmont.)
Ich muss mich immer wundern, wie schnell die Stunden bei Mademoiselle Marthe vergehen. Um Nu ist es 1 Uhr. Wenn wir in Husum beim Bier saßen, war’s genau so.

15. April 1916
Der Wachtmeister fragt mich, ob ich nach Douai zu einem Vortrag will. Ich sage zu.
Unteroffizier Melzer macht wegen der Ablösung Schwierigkeiten. „Gut, dann fahren Sie“, sagte ich. Doch der Oberleutnant bestimmt, dass ich fahren soll. Abends ging’s lustig zu. Wir 
tranken Bier. Segall war da und und Kurt, der Schuster und August, der Bursche von Leutnant Schwerdtfeger. Doch alles kam anders, denn der Befehlsempfänger sagte mir, ich sei zum Ausbau von Kabelgräben zur Abteilung kommandiert. Heute morgen um 9 Uhr meldete ich mich bei Leutnant Friedrichsen. Ich traf ihn in der 4. Batterie. Wir gingen zusammen nach vorn. Es ist noch sehr viel zu tun. 1/17 und 4/17 sollen Kabelverbindungen haben. Ich bekomme 10 Leute von der Kolonne II/17. Gleich gehe ich nach Sallaumines. Gott, gib Deinen Segen zu dieser neuen Arbeit, dann wird sie gelingen.

26. April 1916
Leider bekam ich gestern Abend die Infanteristen erst um 11 Uhr. An einer Stelle fiel der Graben wieder zu. Ich suchte die Erlaubnis zu erwirken, ihn 1,50 m tief abzuliefern, doch Leutnant Friedrichsen sagte, laut Divisionsbefehl müsste er 2m tief gemacht werden.
Das herrliche Wetter hält an. Heute Mittag lag ich vorm Keller im grünen Gras. Ich will die Arbeit jetzt besser einteilen und planmäßig vorgehen. Was an mir liegt, soll geschehen, um die wichtige Arbeit zu beschleunigen.
Madame Louise sagte heute zu einem Soldaten: „Du nix gut parlè, Madame bös!“

27. April 1916
Als ich gestern Abend zur Arbeit ging, legten alle Batterien Sperrfeuer auf die Giesler-Höhe. Meine Leute kamen deswegen erst um 9 Uhr. Im Verlauf unserer Arbeit wurden wir ein paar Mal durch das Feuer der Engländer gestört. Ich führte wieder Akkordarbeit ein, und gleich schaffte es besser. Heute Morgen hatte ich eine Besprechung mit Leutnant Friedrichsen in der 4. Batterie. Das Kabel soll gleich hineingelegt werden. Das ist eine vernünftige Anordnung.

28. April 1916
Gestern Abend kamen die Infanteristen später. Wir fingen ein neues Stück an bis zur Beobachtung 4/17. Kabel konnten wir nicht legen, weil die Wagen in Avion zurückgehalten wurden. Ich war bei Leutnant Schottke im Keller. 
Heute morgen besichtigte Oberleutnant Rehfeldt unseren Keller. Kurt Zimmermann hatte Stubendienst gemacht. Alles war in bester Ordnung.

29. April 1916
Gestern Abend war im Abschnitt der 75er wieder eine große Schießerei im Gange.
Deshalb kamen die Infanteristen erst um 10 Uhr. Eben war ich auf der Wiegand-Höhe. Schön ist’s da, unter dem saftig grünen Laub der Bäume, durch das der blaue Himmel hindurch schimmert. Die Vögel sangen Frühlingslieder. Schade, dass der Krieg noch nicht vorbei ist. Folgendes habe ich aufgeschnappt:
„Warum Du retour Sallaumines? Du viel Spass Lièvin?“ Das sagte Madame Louise zu Paul Becker.

30. April 1916
Heute war ich in Sallaumines. Der blaue Himmel, das hellgrüne Laub der Bäume, die vielen Menschen auf den Strassen, sie sagten es: Der Frühling ist da! In der Schreibstube sangen wir zusammen „Der Mai ist gekommen“. Marthe war lieb und nett. Sie liebt mich wirklich. Als ich um 7 Uhr anfangen sollte Kabel zu legen, bekam ich Befehl, nicht zu arbeiten, da eine Schießerei im Anzuge sei.


 

Mai 1916

2. Mai 1916
Der 1. Mai war ein schöner Tag, doch verlief er wie alle anderen Maifeiern war eine Fehlanzeige. Um halb neun fing ich mit 6 Leuten an Kabel zu legen. 6 Leute sorgten im Graben dafür, dass das Kabel überall ordentlich lag. Ich wollte das Kabel nicht unbedeckt lassen und machte deshalb den 3 Artilleristen den Vorschlag, weiter zu arbeiten und gab ihnen dafür heute frei. So legten wir noch die Eisenbahnschienen darüber. Um 2 Uhr nachts waren wir damit fertig. Ich bin froh, dass das Kabel soweit sicher liegt. Da die übrigen 6 Artilleristen erst morgen früh 4 Uhr kommen, kann ich heute Nachmittag nach Sallaumines gehen um Marthe zu besuchen. Sie schickte mir gestern einen lieben Brief.

4. Mai 1916
Um halb zwei Nachts ging ich nach Liévin. Schlief eine Stunde und ging dann zum Schanzen. Davon zurückgekommen, hatte ich mich just hingelegt, als Leutnant Friedrichsen mich nach dem Schlachthof bestellte.
Der Nachmittag wurde natürlich verschlafen. Abends gab‘s Grog und wir sangen Volkslieder.
Heute Morgen arbeitete ich mit 6 Leuten der 9. Kompagnie. Unter denen waren viele, die ihrer Kriegsmüdigkeit durch andauerndes Murren und Stänkern Ausdruck gaben. Die Stimmung ist bei einem großen Teil der Infanterie saumäßig, von Begeisterung gar nicht zu reden.
Diese Tatsache wird noch immer vor der Öffentlichkeit durch hohlklingende Phrasen vertuscht.

5. Mai 1916
Heute Morgen arbeitete ich bis halb 6. Es hat gut geschafft. 
Vater schickte mir viele Christliche Blätter. Er meint es gut, aber sie haben keine Wirkung auf mich. Ich werde nach dem Kriege selbst zusehen müssen, wie ich mich durchschlage, um nach Jahren sicher auf eigenen Füssen zu stehen. – Ich muss eine Braut nehmen, die Geld hat, sonst komme ich niemals auf den grünen Zweig.
Ich schätze es nicht, unter Offizieren zu weilen, selbst wenn Vetter Rudi Suhren dabei ist, oder wenn Christliche Akademiker vereinigt sind. Als abgebrochener Unteroffizier „aus Gnaden“ in der besseren Gesellschaft geduldet zu werden, darauf verzichte ich gern. Lieber sitze ich unter meinen Kanonieren oder – noch lieber allein. Nach dem Urteil von Hauptmann v. Apell und  Rittmeister von Buggenhagen bin ich zum Offizier ja nicht geeignet. Und Ihr alle, die Ihr früher mit mir zusammen wart, auf dem Wege, Offizier zu werden, bleibt mir um Gotteswillen mit Euerm Mitleid vom Leibe – ich bin ganz glücklich.

6. Mai 1916
Um 3 Uhr war niemand zum Kabelgraben. Ich wartete bis viertel vor vier. Dann telefonierte ich bei der 9. Komp. an. Antwort: Der Unteroffizier und die 24 Mann haben bis halb fünf beim Pionierpark gewartet. Die Leute meinten, ich hätte die Zeit verschlafen und schimpften so leise vor sich hin, dass sie seit zwei auf den Beinen wären, und dass sie wie Hampelmänner von einem Ort zum anderen geführt wurden!
Doch als sie an der Arbeit waren, arbeiteten sie wie die Wilden. Um sechs Uhr musste ich Schluss machen, da das Wetter außerordentlich klar war.

8. Mai 1916
Als ich am Sonntagmorgen von der Arbeit kam, zog ich mich um und ging nach Sallaumines. Der Verkehr mit Marthe war diesmal weniger genussreich, weil ihr Vater nun überall herumspionierte. Um 1 Uhr machte ich mich auf den Weg nach Liévin, ging aber gleich weiter nach Angres. Als meine Arbeit beendet war, legte ich mich todmüde ins Bett.

10. Mai 1916
Heute Morgen kamen die Infanteristen nicht. Mir war aber nichts davon gesagt. Ich blieb bis 6.30 in der Beobachtung der 4. Batterie, wo ich in einem Lehnsessel schlief. Ich prüfte dann mit Hess die Leitung, die überall intakt war.
Ich habe Schmerzen in der Schulter und auf der linken Brust. Aber bevor ich nicht umfalle, bin ich nicht krank.
Wir dürfen nur Karten nach Hause schreiben. Weshalb wohl?
Mein Ofen raucht, und ich möchte es so gern warm haben.
Warum muss die Batterie nun gerade aufgelöst werden wo sie sich eingelebt und eingerichtet hat? – Ich erkenne es in diesen Tagen wieder: Der preußische  Militarismus hat kein Herz. Der Staat ist das kälteste aller kalten Ungeheuer.

11. Mai 1916
Heute Morgen arbeitete ich zum ersten Mal mit Leuten der 3. Komp. Es hat gut geschafft. Die Leute waren willig und hatten guten Humor.

12. Mai 1916
Die Infanteristen kommen eine halbe Stunde zu spät – hatten die Zeit verschlafen. Wieder wurden sie mit dem ihnen vorgeschriebenen Stück gut fertig. Um 6 Uhr kamen Leutnant Berninghausen und Leutnant Gries-Danikan und besichtigten den Kabel-Graben. Von 7 bis halb 12 wurde geschlafen.

13. Mai 1916
Da die Infanteristen heute wieder zu spät kamen, sagte ich dem Unteroffizier, ich wünschte, dass er morgen pünktlich um 3 Uhr käme. Schnauzen kann ich nicht, aber ich musste ihm seine Unpünktlichkeit vorhalten, wenn ich kein Schlappschwanz sein wollte! Als wir fertig waren, fing es an zu regnen. Ich legte mich schlafen bis Mittag.
Meine einzige Unterhaltung besteht im Lesen von unzähligen Büchern.

18. Mai 1916
Heute arbeitete ich mit Leuten der 6. Kompagnie, die konnten mächtig reinhauen.
Oberleutnant Rehfeldt sagte mir gestern, dass ich wohl bald Vize-Wachtmeister werden würde.

20. Mai 1916
Nun bin ich glücklich soweit mit dem Graben, dass ich morgen die Kabel bis zum Infanteriegraben legen kann.
Bald wird es hier wohl lebhaft zugehen. Wir haben unheimlich viel Munition bekommen.

21. Mai 1916
Von 3 Uhr ab wartete ich vergebens auf die 3 Gruppen. Ich erkundigte mich bei der Kompagnie. Da kamen die Leute gerade von einer anderen Arbeit zurück. Der Kompagnieführer, wütend, dass ich ihn wecken ließ, hatte auch keine Leute für mich.
Um 6 Uhr beginnt wieder eine große Schießerei. Jetzt ist es halb 9, und immer noch brüllen die Kanonen und krachen draußen die Einschläge. Auf den Vimy-Höhen scheinen wir eine Frontverbesserung vornehmen zu wollen. Heute Nacht brauche ich nicht zu arbeiten.
Um 11 Uhr sagte der Oberleutnant zu mir: „Ich gratuliere Ihnen zum Vize-Wachtmeister!“ Also!—Endlich!—Ich bin froh. Und wem der Dank? Gott allein, er hat meine Arbeit gesegnet. Er helfe mir weiter.

22. Mai 1916
Heute Morgen wollte ich nach Sallaumines gehen, um mir die Abzeichen meiner neuen Würde zu holen. Doch der Oberleutnant schlug mir’s ab. Er brauche mich noch. Das „Schützenfest“ scheint noch nicht vorbei zu sein.

23. Mai 1916
Gegen Mittag sagte Oberleutnant Rehfeldt, ich könne nach Sallaumines gehen. Dort holte ich mir die Abzeichen meines neuen Dienstgrades, trank mit Goldberg Kaffee und saß nachher mit ihm im Genesungsheim. Marthe war auch da. Um 10 Uhr fuhr ich mit der Gig nach Lièvin.

25. Mai 1916
Als ich heute auf die Wiegand-Höhe hinaufging, war es mir gerade so, als wenn der Feind mich mit seinen Geschossen verfolgte. Es waren schwere Brocken. Die Sprengstücke sausten über den Graben weg, so am Wiegand-Ausbau, im Abel-Gang, im Ludendorff-Graben und bei der Schule.
Auf der Beobachtung R/17 saß ich zusammen mit Feldwebelleutnant Schwerdtfeger. Morgen Nachmittag soll ich nach Fouquières kommen.
Ich stellte mich Hauptmann Waltfried vor. In Fouquières traf ich auch Lt. Selige. Lt. Friedrichsen schickte mich nach Lens zur Ortskommandantur. Todmüde kam ich wieder in Sallaumines an. Dort erhalte ich die traurige Nachricht, dass Kunzler und Beckmann verwundet sind. Ein Blindgänger (12 cm) schlug in den Geschützstand. Der Zünder flog durch das Unterschild, und die Splitter desselben verwundete Beckmann am Bein. Der Zünder selbst riss Kunzler den ganzen Fuß weg. Kunzler ist 42 Jahre alt und hat 4 Kinder, ein netter, williger Mensch. Heute Morgen arbeitete ich im Alt-Sutterheimgang mit 25 Infanteristen und 50 Artilleristen. Das Kabel wurde gleich hineingelegt.
Heute Morgen legte ich das Kabel bis zum Infanteriegraben und freue mich, dass ich so weit bin. Mit Güte erreicht man am meisten.

26. Mai 1916
Vor 3 Tagen ist eine Granate in das Haus gefallen, in dem die 8 Frauen wohnen: eine Madame, die kleine 17 Jährige Mademoiselle aus Ablain-St. Nazaire und 1 Kind sind verwundet. Ein Kind tot. Es ist ein Jammer. Jetzt sitzen die Frauen in ihrem tiefen Keller und trauern. „On devait évacuer les civiles. Ce n‘est pas la guerre pour nous”, (Man müsste die Zivilisten evakuieren, es ist nicht unser Krieg,)sagen sie.
Gestern Abend wurde Schütt verwundet, als er die Küchenleitung flickte. Man fand ihn tot im Laufgraben liegend. Ich holte das Sanitätsauto bei der Kirche ab.

27. Mai 1916
Wir wurden mit 24 ern begasselt. Hinter dem Offizier-Quartier ist ein Trichter von 5 m Durchmesser und 3 m Tiefe. Vetter Rudi Suhren ist verwundet.

28. Mai 1916
Eben komme ich von Sallaumines zurück. Es war schönes Sonntagswetter. Am Dorfausgang Avion mussten wir bis 10 mit unserem Wagen halten.
Ein militärischer Führer muss vor allem selbstlos sein. Er darf nicht an sich und seine Bequemlichkeit denken, sondern nur an seine Pflicht und das Wohl seiner Leute. Tut er das, so wird er erreichen, was er sich vorgenommen hat und wird gleichzeitig der Liebe und Verehrung  seiner Leute sicher sein.

31. Mai 1916
Der Engländer macht Feuerüberfälle auf unsere Batterien, Schnellfeuer aller Kaliber. Mit Batterie Rehfeldt fing er heute Morgen um 7 Uhr an.
Heute Morgen hatte ich 35 Mann zur Arbeit. Mit meiner Rückkehr von Batterie Rehfeldt zur 6. Batterie will ich dieses Buch beschließen.
Dem treuen Gott danke ich für alle Gnade und Bewahrung und bitte ihn um seinen Segen für die Zukunft. Es sei auch mit meinen lieben Eltern und Geschwister.


 

Juli 1916

Mit der 6. Batterie in der Somme –Schlacht. Von 10. Juli bis zum 5. September 1916.

16. Juli 1916

Anfang Juli verließen wir Lièvin und wurden in der Somme eingesetzt, zunächst in der Nähe von Le Sars. Vor uns lag das hart umkämpfte Pozières, der Fourlause-Wald, Martinpuich und Gillemont. Unsere 2. Stellung war in einer Schlucht zwischen Warlencourt und Courcelette. Nach 3 Tagen Front, lagen wir 3 Tage in „Ruhe“.

 

25. Juli 1916

Als ich um 6 Uhr mit Hagge zurückging, lag ein schweres Feuer über Le Sars. Von Graben zu Graben, von Unterstand zu Unterstand laufend, kamen wir schliesslich aus der Feuerzone heraus. Vor Le Sars hielt der Küchenwagen und nahm uns mit nach dem Ruheort. Hier musste ich dem Hauptmann Waltfried Bericht erstatten. Man merkte ihm die Freude an, das ich aus dem Schlamassel glücklich herausgekommen sei.

Heute Nacht gingen- wie ich hörte- 2 Volltreffer in die Stellung. Zwei Mann wurden verschüttet, aber zum Glück wieder heil ausgegraben.

Das Wetter ist schön. Dann ist das Biwakleben im Ruheort erträglich.

29.Juli 1916

Ich schlafe unter einem Ziegeldach. Seitenwände gibt es nicht.

Die Offiziere haben uns Vizewachtmeister aus dem Kasino an die Luft gesetzt. Seitdem sind wir aufgeschmissen und wissen nicht, wohin wir gehören. Wir sind auf nichts eingerichtet.

Es ist heut wieder heller, warmer Sonnenschein. Glienicke, Ehlers und ich sitzen im Schatten eines Bäumchens.- - Die 7. Batterie soll zusammengeschossen sein durch die verwünschte schwere englische Artillerie.

30. Juli 1916

Eben haben wir in Neuville Quartier bezogen. Ich wohne bei einem taubstummen Schuhmacher. Jetzt liege ich draußen vor dem Dorf –hoch- am Rande eines Kornfeldes, wo ich die ganze Gegend überblicken kann. Ich liebe die Einsamkeit mehr als die Gesellschaft von Menschen, die mir gleichgültig sind.

Foto: DN
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