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„Turk-Mescheten im Kreuzfeuer eines verbrecherischen Krieges“

Turk-Mescheten im Kreuzfeuer eines verbrecherischen Krieges

Turk-Mescheten im Kreuzfeuer eines verbrecherischen Krieges

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kiel/Berlin
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Die Turk-Mescheten befinden sich im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Welten. Eine häufig vergessene Minderheit, die nach den Bedürfnissen Anderer verdrängt und ausgenutzt wurde und wird. In der Hand des Kreml wird sie erneut mit Gewalt und Unterdrückung konfrontiert.

Minderheiten, Nationalitäten und staatenlose Völker verbindet oft eine schicksalhafte Geschichte und Identität, die für Außenstehende nur schwer zu fassen ist. Deshalb werden sie im politischen Diskurs meist umgangen und gemieden. Wer hat in Dänemark schon von den Turk-Mescheten gehört? Die FUEV und ihr damaliger Präsident Hans Heinrich Hansen haben sich in der europäischen Umbruchzeit bis zur Jahrtausendwende sehr für die Turk-Mescheten eingesetzt. Das ist lange her und hat, wenn wir ehrlich sind, wenig gebracht. Was nicht am mangelnden Engagement der engagierten Minderheitenakteure lag. Die Turk-Mescheten waren, sind (und bleiben) Spielball einer ihnen feindlich gesinnten Welt. Ihr Schicksal spielt dabei nach wie vor keine Rolle.

Turk-Mescheten zwischen den Fronten

Doch was ist das Besondere an den Turk-Mescheten und warum stellt der russische Angriffskrieg das nächste tragische Kapitel in der Geschichte dieser verfolgten Volksgruppe dar?
In den vergangenen zwei Jahren hat der brutale Krieg Russlands Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer vertrieben und weite Teile des Landes unter Besatzung gestellt. Zehntausende Soldaten und mindestens 10.000 ukrainische Zivilisten kamen nach Angaben der Vereinten Nationen ums Leben. Die Turk-Mescheten befinden sich buchstäblich zwischen den Fronten und sind gezwungen, auf beiden Seiten eines Krieges zu kämpfen und zu sterben, den viele nicht als ihren eigenen betrachten. Tausende sind geflohen, andere warten auf ihre Ausreise.

Eine Minderheit in der Existenzkrise

Diese Notlage steht sinnbildlich für die Erfahrungen vieler Minderheiten und Nationalitäten, die seit Generationen unter dem Kreml leiden. Der Krieg hat die Identität und Zukunft der Turk-Mescheten erneut in eine existenzielle Situation katapultiert: Wo ist ihre Heimat? Für welches Land kämpfen sie? Oder sollen sie überhaupt kämpfen, denn viele betrachten weder die Ukraine noch Russland als ihre Heimat.

Die Turk-Mescheten sprechen ein Idiom des Türkischen, praktizieren den sunnitischen Islam und folgen Traditionen aus osmanischer Zeit, die in der heutigen Türkei weitgehend verloren gegangen sind. Ihr Name leitet sich von der Region Meschetien in Georgien ab, aus der sie stammen und die 1829 an das Russische Reich abgetreten wurde. Dieses Gebiet wurde von den Osmanen „Ahiska“ genannt und ist auch der Name, den die Turk-Mescheten verwenden, wenn sie sich auf Türkisch bezeichnen. Für einige meschetische Türken ist Georgien ihr „Vatan“ (Heimatland), für andere ist es die Türkei.

Eine Deportation, die Leben kostete

1944 wurden etwa 100.000 Turk-Mescheten – neben anderen Nationalitäten wie Kurden und Hemşinli (eine kleine Gruppe armenisch-sunnitischer Muslime) – aus ihren Häusern in Georgien geholt, in Viehwaggons verfrachtet und in Massen nach Sibirien, Zentralasien und Aserbaidschan deportiert. Die Deportation war Teil eines umfassenderen Umsiedlungsprogramms, in dessen Rahmen Millionen von Angehörigen ethnischer Minderheiten aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Dazu gehörten die Krimtataren, die von ihrer Heimathalbinsel Krim nach Zentralasien umgesiedelt wurden, wo sie bis Ende der 1980er-Jahre blieben. Auch Tschetschenen, Inguschen, Karatschaier, Balkaren, Kabardiner, Polen und Deutsche wurden vertrieben. Hunderttausende mussten Stalins Wahnsinn mit dem Leben bezahlen.

Eine zerrissene Volksgruppe

Ende der 1980er-Jahre wurde ein Teil der Turk-Mescheten ein zweites Mal massenhaft deportiert, nachdem ein Ausbruch ethnischer Gewalt in Usbekistan zur Ermordung von 100 meschetischen Türken bei den sogenannten Fergana-Unruhen geführt hatte. Im Zuge der Unruhen wurden etwa 80.000 Mescheten, die seit 45 Jahren in Usbekistan gelebt hatten, von den sowjetischen Behörden „evakuiert“. Sie wurden aufgeteilt und in die russischen Regionen Rostow, Stawropol und Krasnodar geschickt, andere in die ukrainischen Regionen Charkiw, Cherson und Donbas. Es ist eine Geschichte der Gewalt, die die Gemeinschaft erneut in Gefahr gebracht hat. Wieder einmal lässt der Kreml die unterdrückten Völker des Russischen Reiches für sich kämpfen. Das geschieht täglich – und an der Front stehen sich Angehörige der Turk-Mescheten gegenüber, die hoffen, keinen Bruder töten zu müssen. 

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

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