Diese Woche in Kopenhagen

„Von Führerbunkern, Scheißhäusern und Menschen, die ausschauen wie wir“

Von Führerbunkern, Scheißhäusern und Menschen, die ausschauen wie wir

Von Führerbunkern, Scheißhäusern und Menschen wie wir

Kopenhagen
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Der Abend des 4. Mai wird in Dänemark als Abend der Befreiung gefeiert. In diesem Jahr hatte er aufgrund des Krieges eine besondere Bedeutung. Walter Turnowsky erinnert sich an Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg aus seiner Familie.

Die Kerzen im Fenster am 4. Mai, dem dänischen Befreiungsabend, gehören für mich dazu. Es ist ein schönes Symbol des Lichts, nachdem an diesem Abend 1945 die Menschen im Land die Verdunkelungsvorhänge herunterreißen konnten. Der Krieg war vorbei.

Dieses Jahr haben die Kerzen eine andere Bedeutung gehabt als sonst, denn es herrscht wieder Krieg in Europa. Es war eine richtige und wichtige Geste, dass „Politiken“ und „Jyllands-Posten“ den ukrainischen Präsidenten Wlodymyr Selenskyj gebeten hatten, an diesem Abend zur dänischen Bevölkerung zu sprechen.

Mag uns Gott vor dem vollständigen Untergang bewahren.

Hertha Schmidt in einem Brief an ihren Mann Karl

Gerade in diesem Jahr wurde mir wieder bewusst, dass der Befreiungsabend für mich als gebürtigen Österreicher eine etwas andere Bedeutung hat als für viele Däninnen und Dänen, so wie er sicherlich für viele Nordschleswiger noch mal eine andere Bedeutung hat.

Die Erzählungen über den Krieg und sein Ende haben in meiner Familie immer eine große Rolle gespielt.

Da ist zum Beispiel ein Brief meiner Oma an meinen Opa:

„Lieber Karl,

all meine Sehnsucht und Hoffnung richtet sich auf ein baldiges Wiedersehen. Mag uns Gott vor dem vollständigen Untergang bewahren“, leitete Hertha den Brief ein.

Besagter Karl war alles andere als ein geborener Soldat. Als er bei der Musterung war, lautete der Bescheid: „Bevor wir Sie brauchen, muss es schon ganz schlimm ausschauen.“ 1944 wurde er einberufen.

Bei der Wehrmacht musste er lernen, wie man die Zügel eines Versorgungswagens richtig hält. Allerdings gab es dafür weder eine Kutsche noch Pferde, denn die wurden an der Front gebraucht. Während dieses glorreichen Kriegseinsatzes konnte er in der Ferne bereits den Kanonendonner aus Wien hören.

Zum Glück hatte Karl eine kluge Frau und einen verständigen Befehlshaber. Erstere hatte ihm geraten, bei einem Bauern zivile Kleidung zu verstecken. Zweiterer gab ihm zu verstehen, er würde keine großen Nachforschungen anstellen, sollte Karl nach einem Botengang nicht wieder zurückkehren. Und so verabschiedete mein Opa sich per Fahrrad vom Zweiten Weltkrieg.

Da ist auch die Erzählung meiner Mutter, die eines Tages zwei „Frauen“ über einen Berg kommen sah. Ihre Mutter, also die bereits erwähnte Hertha, war mit ihr und den zwei Schwestern meiner Mutter bei einem Bergbauern untergekommen, um den Bombenangriffen zu entgehen.

Der Bauer nahm für ein paar Tage auch die beiden verkleideten Männer auf und gab ihnen zu essen. Als sie weitergezogen waren, war meine damals zehnjährige Mutter mit ihrer dreijährigen Schwester im Tal, wohl um Lebensmittel zu holen. Sie wurden von zwei SS-Männern angehalten, die gezielt die Jüngste befragten, ob sie jemanden gesehen hätte. Meine Tante hatte trotz ihres jungen Alters offensichtlich mitbekommen, dass sie nichts erzählen durfte.

Dennoch wurden die zwei Deserteure gefasst, und zu einem Zeitpunkt, an dem jeder denkende Mensch wusste, dass der Krieg schon längst verloren war, hingerichtet. Mein Opa kam wenige Tage nach Kriegsende wohlbehalten bei dem Bergbauern an.

Eine der häufig erzählten Geschichten in unserer Familie ist auch die erste Begegnung meines Vaters mit englischen Soldaten. Seine Eltern hatten ihm nicht erzählt, dass sein Großvater Jude war. Sie hatten wohl Sorge, er könnte durch eine unüberlegte Bemerkung die Familie in noch größere Gefahr bringen.

Die Kehrseite der Medaille war, dass mein Vater der Nazi-Propaganda gnadenlos ausgesetzt war, alles glaubte, was da verbreitet wurde.

Als nun die englischen Truppen in die Ortschaft einmarschiert waren, in der die Familie untergekommen war, schlich mein Vater gemeinsamen mit einem Freund zum Dorfplatz, um sie sich näher anzusehen.

Als der Zehnjährige um die Ecke blickte und dort sah, wie der „Feind“ beschlagnahmte Waffen bewachte, ging ihm in seiner Verwunderung folgender Satz durch den Kopf: „Die schauen ja genauso aus wie wir!“ Die Propaganda hatte in seinem Kopf ein Bild von Ungeheuern und Monstern entstehen lassen.

Der Satz und die Erkenntnis, die sich hinter ihm verbirgt, hat das Weltbild meines Vaters entscheidend geprägt.

Und dann wäre da noch die Erzählung über den Bruder meiner Oma Hertha, dem ich meinen Vornamen verdanke. Onkel Walter war in seiner späten Jugend an Schizophrenie erkrankt. Die Familie hatte es geschafft, ihn noch rechtzeitig aus einer Anstalt, wie es damals hieß, herauszuholen.

Onkel Walter hatte sehr wohl mitbekommen, dass er von den Nazis nichts Gutes zu erwarten hatte. Und so schwang er bei seinen Wutanfällen vom ersten Stock aus Fensterreden über die Dorfstraße.

Von einer dieser Reden ist überliefert, dass er gerufen haben soll: „Bauts euch doch ein Scheißhäusl und schreibts Führerbunker drauf!“

Man kann sich eigentlich nur wünschen, dass es in Russland zurzeit möglichst viele Onkel Walters gibt.

 

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