Leserbrief

„Wer kennt sich schon selbst? “

Wer kennt sich schon selbst?

Wer kennt sich schon selbst?

Claudia Heinemann
Apenrade/Aabenraa
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Interpretin Anette Daugardt aus Berlin überzeugte: „Jeder Mensch lässt sich gern Geschichten erzählen. Und mit dieser, der ursprünglichen Form der Literatur, kann die Schauspielerin uns fesseln“, schreibt Claudia Heinemann in ihrem Leserbrief. Sie schildert ihre Eindrücke und Gedanken zur Inszenierung von Stefan Zweigs Novelle „24 Stunden im Leben einer Frau“ als Solodrama.

Stefan Zweigs Novelle „24 Stunden im Leben einer Frau“ als Solodrama

Eine Veranstaltung der BDN Literatur-AG

Literatur muss heutzutage wohl mehr denn je ihre Aktualität beweisen, um sich inmitten unserer ausufernden Kultur (und Unkultur) zu behaupten. Wenn sie schon keinen Gebrauchswert hat – besitzt sie dann einen Erkenntniswert? Einen Informationswert? Einen Unterhaltungswert? Was hat der Autor/die Autorin uns heute (noch) zu sagen? 

Am 6. November stellte sich die Berliner Schauspielerin Anette Daugardt diesen Erwartungen eines 14-köpfigen Publikums in der Apenrader Zentralbücherei mit der Dramatisierung einer Novelle von Stefan Zweig, den „24 Stunden im Leben einer Frau“. 

Am 5. November wurde im Flensburger Theater der „Untertan“ von Heinrich Mann aufgeführt, die Biografie eines Mannes, der lernt, durch „Buckeln nach oben und treten nach unten“, sein Innenleben zu unterdrücken, um im preußisch-wilhelminischen Kaiserreich als Opportunist an der Männermacht teilzuhaben und sich militärisch für den absehbaren Krieg zurichten zu lassen. Am selben Tag wurde Donald Trump in den USA zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt. Was also hat uns Stefan Zweig vor diesen zufällig aktuellen Ereignissen zu sagen?

Die Berliner Schauspielerin Anette Daugardt überzeugte mit ihrem Auftritt. Foto: BDN Literatur-AG

Stefan Zweig wurde 1881 in Wien geboren und nahm sich 1942 in Petropolis/Brasilien das Leben. Er war also ein Zeitgenosse beider Weltkriege. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er als „untauglich“ ausgemustert. Dazu schrieb er: „Ich beschloss, meinen persönlichen Krieg zu beginnen: den Kampf gegen den Verrat der Vernunft an die aktuelle Massenleidenschaft.“ Was er in dieser Zeit empfand, beschrieb er so: „Von Anfang an glaubte ich nicht an den ,Sieg‘ und wußte nur eines gewiß: daß selbst wenn er unter maßlosen Opfern errungen werden könnte, er diese Opfer nicht rechtfertige. Aber immer blieb ich allein unter all meinen Freunden mit solcher Mahnung, und das wirre Siegesgeheul vor dem ersten Schuß, die Beuteverteilung vor der ersten Schlacht ließ mich oft zweifeln, ob ich selbst wahnsinnig sei unter all diesen Klugen oder vielmehr allein grauenhaft wach inmitten ihrer Trunkenheit.“ 

Und in seinem Abschiedsbrief schrieb er, er werde „aus freiem Willen und mit klaren Sinnen“ aus dem Leben scheiden. Die Zerstörung seiner „geistigen Heimat Europa“ hatte ihn für sein Empfinden entwurzelt, seine Kräfte seien „durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft“. (1)

Zweig, das sollen die beiden Zitate illustrieren, war von Anfang an und gegen den Zeitgeist Pazifist. Er war ein Humanist und ein leidenschaftlicher Idealist, der in seinen Schriften für ein geeintes Europa warb, allerdings ein Europa jenseits von Parteipolitik und wirtschaftlichen Interessen.

Als Schriftsteller war er von Anbeginn und sein Leben hindurch erfolgreich, seine historischen Biografien und vor allem seine Novellen werden bis heute viel gelesen, viele sind auch verfilmt worden. War er ein politischer Autor? 

Nach Goethes Definition ist eine Novelle die Erzählung einer „unerhörten Begebenheit“. Sie entfaltet sich zu einem dramatischen Höhepunkt und setzt ein deutliches Ende. Aber was Zweig in diesen „unerhörten Begebenheiten“ ausleuchtet, beschreibt, analysiert, ist nicht eigentlich das politische oder Zeitgeschehen, sondern das Innenleben seiner, vor allem der weiblichen Figuren. 

So auch in der Novelle „24 Stunden im Leben einer Frau“. Annette Daugardt hat aus der Novelle ein Drehbuch gemacht, sie spielt diese Frau, die in der Tat eine unerhörte, eine unerhört dramatische Geschichte erzählt, die sich in 24 Stunden abspielt. Ein Mensch erzählt eine Geschichte – das ist ja der Beginn der Literatur. Jeder Mensch lässt sich gern Geschichten erzählen. Und mit dieser, der ursprünglichen Form der Literatur, kann die Schauspielerin uns fesseln. Das hat der lebendig erzählende, gestikulierende, darstellende Mensch den gedruckten Buchseiten voraus. Die Frau wird nicht von außen beschrieben; die Schauspielerin schlüpft in die Rolle der Frau, wird zu dieser Frau, ist diese Frau. Und zwar eine ältere Frau, eine Frau jenseits der 50. 

Die Erzählung möchte ich nicht wiedergeben. Nur so viel: Ein Höhepunkt und der Wendepunkt im Leben dieser plötzlich verwitweten Frau, die bis dato zufrieden in ihrer bürgerlichen Ehe gelebt hatte, markieren unerhörterweise zwei Hände. Es sind zwei Hände über dem Tisch eines Spielcasinos, in das sie die innere Leere nach dem Tod ihres Mannes gespült hat. Sie ist von einer Sekunde auf die andere schockverliebt in dieses Händepaar, von dem sie erst nach und nach den zugehörigen Menschen wahrnimmt – und mit ihr wir ZuschauerInnen. Aber schon vorher folgten wir gebannt und gespannt und verwundert dem Spiel der Hände des jungen Mannes, dem sie gehören, also den Händen der Schauspielerin, die gleichzeitig den Tanz, das Umeinanderschlingen der Hände, das Lockern und das Spiel der Finger beschreibt, während ihre Hände das alles tun. Im Innern der Frau scheint in sekundenschneller Plötzlichkeit eine Tür aufzuspringen, hinter der sich eine nie vermutete Leidenschaft verborgen hat, die sie mit unwiderstehlicher Gewalt an den Anblick der Hände, des jungen Mannes und dessen Gesicht und schließlich an ihn selbst fesselt. Die 24 Stunden, die die Frau dann erzählt, die uns die Schauspielerin ungemein fesselnd vor Augen führt, unterbrochen durch kurze Musikeinspielungen, die den Text akzentuieren und die kurze Verschnaufpausen gönnen, nehmen nach dramatischen, nicht erwartbaren Wendungen ein ebenso unerwartetes Ende. 

Unsere Veranstaltung endete aber damit noch nicht. Annette Daugardt erzählte lebendig, wie sie auf diese Novelle gestoßen war und warum sie diese in ein Drama umgeschrieben hat: Weil es nämlich für ältere Schauspielerinnen kaum Rollen gibt. Und sie wählte auch darum den Autoren Zweig, weil seine Sprache, sein Stil, seine Auslotung einer (weiblichen) Psyche unwiderstehlich attraktiv seien. Was wir ZuschauerInnen nur bestätigen konnten. Es wundert nicht, dass er mit Sigmund Freud befreundet war und er, als Freud 1939 starb, bei seinem Begräbnis die Totenrede hielt.

Und wie steht es also um die Aktualität der über 100-jährigen Novelle? Wie alle Literatur, die es sich zu rezipieren lohnt, endet sie mit einer Frage. In diesem Fall mit der Frage: Wer kennt sich schon selbst? Kenne ich mich selbst? 

  1. Die Zitate habe ich Wikipedia entnommen. 

Claudia Heinemann

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