Interview

„Von jetzt an muss ich mich schämen, Russe zu sein“

„Von jetzt an muss ich mich schämen, Russe zu sein“

„Von jetzt an muss ich mich schämen, Russe zu sein“

Dänemark
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Bombenangriff auf ein Einkaufszentrum in Kyjiw am 21. März. Foto: Marko Djurica/Reuters/Ritzau Scanpix

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„Michail“ wollte nicht daran glauben, dass Putin die Ukraine angreifen würde. „Der Nordschleswiger“ hat mit ihm über seine Erschütterung, Scham und die Spaltung von Familien gesprochen.

„Michail“ wohnt seit etlichen Jahren in Dänemark, doch er pflegt noch enge Kontakte nach Russland. Er sieht sein Heimatland in böse, alte Zeiten zurückfallen. Aus Furcht vor Folgen für seine Familie in Russland muss er anonym bleiben. Der Name „Michail“ ist frei erfunden.

Was dachtest du, als du am 24. Februar vom Einmarsch hörtest?

„Was war ich doch für ein Idiot!“, dachte ich, weil ich vorher versucht habe, mich und meine Bekannten davon zu überzeugen, dass die russischen Truppen an der ukrainischen Grenze nicht gefährlich waren. Tja, das ist sicher nur eine weitere Antwort in der fortwährenden Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA, war ich mir sicher, weil die Militärstützpunkte auf der anderen Seite Russland ärgern – und das ist in gewisser Weise verständlich.

 

Aber Krieg? Zwischen wem und wem? Zwischen der Ukraine und Russland? Das ist doch absurd! Zwischen diesen Ländern wird es nie Krieg geben. Weshalb? Das kann ich nicht richtig erklären; es ist einfach so. Es wäre wie Krieg zwischen Dänemark und Norwegen. Und dann kam er am 24. Februar. Meine ganze Welt stürzte ein. Ich kann immer noch kaum glauben, dass es geschehen ist.

Was ist deiner Ansicht nach Putins Ziel mit der Invasion?

Täglich stelle ich mir diese Frage. Aber ich finde keine Antwort. Ich weiß, wie er selbst, diese „militärische Sonderoperation“ begründet. Ich weiß, wie seine Ziele von Geopolitikern und anderen Expertinnen und Experten mit „Staatenverständnis“ beschrieben werden. Ich tue ich nichts anderes, als alles zu lesen, das man im Netz finden kann. Aber ich bin noch auf keine Erklärung gestoßen, die ich teilen kann.

Meiner Ansicht nach muss man die Erklärung an andere Stelle suchen, und zwar in der Psychiatrie. Doch die Psychiater, deren Ansichten im Netz zu finden sind, weigern sich, ihn als psychisch krank zu betrachten. Aber das tue ich nicht. Größenwahn? Vielleicht.

Wie siehst du die weitere Entwicklung?

Was das anbelangt, bin ich sehr pessimistisch. Jetzt konnte ich mit eigenen Augen sehen, wie leicht es ist, ein Land mit 144 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern hinters Licht zu führen. Könnte es da nicht auch passieren, dass eine Mehrheit von ihnen dem Einsatz von Atomwaffen zustimmen wird, um die Welt zu retten?

Es wundert mich, dass die Menschheit – mit all ihren guten humanistischen Institutionen und Organisationen – nicht imstande gewesen ist, innerhalb der vergangenen 70 Jahre eine Art „Rat“ zu gründen, der die Befugnis hat, menschenfeindliches Handeln zu stoppen, wenn es die globale Gemeinschaft bedroht. Der Internationale Gerichtshof in Haag funktioniert jedenfalls nicht. Es bräuchte eine Instanz, die nicht ignoriert werden kann!

Es ist doch eigenartig, zu beobachten, wie machtvolle Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Demokratien rätseln, was Putin morgen einfallen könnte …

Wie würdest du die derzeitige Situation in Russland beschreiben?

Als schrecklich. Die Menschen sind in zwei Lager gespalten: Die einen, die alles oder zumindest fast alles, was die offiziellen Medien berichten, glauben, und die anderen, die entweder imstande sind, die Informationen zu analysieren oder Zugang zu Facebook, Instagram und ähnliches haben.

Es ist, als seien wir in die Stalin-Ära zurückgefallen, und man laufend seine Loyalität gegenüber dem System beweisen muss.

„Michail“, in Dänemark ansässiger Russe

Diese beiden Lager sehen einander als Feinde, auch wenn beide häufig innerhalb einer Familie vertreten sind, in der Eltern/Kinder oder Ehemann/Ehefrau absolut verschiedene Überzeugungen haben. Es endet meist mit permanenten Spannungen, Scheidungen und ähnlichem. Beste Freunde, die 40 Jahre zueinander gehalten haben, beginnen sich zu hassen und treffen sich nicht mehr.

Doch das Schlimmste ist, dass parallel zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein massiver Anschlag auf die Meinungsfreiheit verübt wird. Es ist, als seien wir in die Stalin-Ära zurückgefallen, und man laufend seine Loyalität gegenüber dem System beweisen muss.

Entscheidet man sich, dies nicht zu tun, wird man als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt. Danach muss dein Name, wenn er in den sozialen Medien auftaucht, von einem Text begleitet werden, der besagt: „Dieses Material stammt von einem Agenten, der vom Ausland bezahlt wird“. 

Ist man in der Kultur tätig, ist man verpflichtet, unmissverständliche Signale zu senden, die die politische Einstellung verraten. Man darf zum Beispiel nicht das Wort „Krieg“ verwenden, sondern „militärische Sonderoperation“.

Sowohl Facebook als auch Instagram sind geschlossen, und die Behörden sagen, man soll die vergleichbaren russischen Dienste nutzen. Die Medien, die nicht die gewünschten Gesichtspunkte vertreten (zum Beispiel der Fernsehsender „Moskaus Echo“ und der Radiosender „Regen“), sind ebenfalls bereits geschlossen. Es sind jedoch nicht so viele, die dagegen protestieren: Die meisten zeigen Verständnis, dass es keine „fünfte Kolonne“ in Russland geben darf!

Schau dir nur das Volksfest vom 18. März an, als man die Annektierung der Krim-Halbinsel und Russlands „militärische Sonderoperation“ feierte. Hast du gesehen, wie viele kamen und wie gut vorbereitet alles wirkte? Ich habe geweint, als ich das sah …

Wie ergeht es dir bei diesen Ereignissen?

Schlecht. Ich bin am Boden zerstört. Ich habe das Gefühl, meine Identität verloren zu haben, und dass ich mich von jetzt an schämen muss, Russe zu sein. Es ist so hart, dass ich seit Anfang des Krieges nicht außer Haus gewesen bin, um niemandem zu begegnen, der weiß, dass ich Russe bin.

Plötzlich verstehe ich, wie es andersdenkenden Deutschen während des Zweiten Weltkrieges ergangen sein muss. Es ist fast nicht zu ertragen. Insbesondere, wenn Menschen mir auf die Schulter klopfen und sagen: „Du bist ja keinen Bewunderer von Putin, … oder doch?“

Du musst anonym bleiben, weil du befürchtest, es könnte Folgen für deine Angehörigen in Russland haben. Was denkst du darüber?

Ich muss gestehen, es ist das erste Mal, dass ich anonym auftrete. Du erinnerst dich: Ich sagte sofort „ja“, als du um das Interview batest. Aber dann habe ich es am selben Tag bereut: Ich begann, an meine Angehörigen in Russland zu denken, die ich möglicherweise wegen des Interviews nie wieder sehen würde. Ich erzählte meinen Freunden von dem Interview, und alle waren sich eindeutig einig, ich solle aufpassen und am besten nicht teilnehmen. 

Wie ich, haben viele von ihnen in der Sowjetunion viel durchgemacht, und wie ich, nehmen sie die neuen Restriktionen sehr ernst. Es gibt in Russland keine Meinungsfreiheit mehr.

Die jungen Menschen versuchen, ein wenig darüber zu lachen, wenn sie hören, dass sie bestimmte Worte ab jetzt nicht mehr benutzen dürfen. Sie sind Kinder der Perestroika und sind es gewohnt, ihre Meinung verhältnismäßig frei äußern zu können, zumindest privat. Nur wenigen von ihnen – zum Beispiel Menschen, die an Demonstrationen teilgenommen haben – sind nach den Zusammenstößen mit der Polizei ein wenig vorsichtig.

Aber wir, die spätestens in den 70ern geboren sind, erinnern uns noch an die Zeit, als ein verkehrtes Wort einem die Freiheit, die Anstellung oder die Möglichkeit zu reisen kosten konnte. Eine vergleichbare Zeit wird jetzt kommen.

Ich habe Dokumente mit neuen„Empfehlunge“ für Kulturschaffende gelesen: Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen (in erster Linie bezüglich des Krieges, aber auch, was die generelle Perspektive bezüglich der Entwicklung Russland betrifft).

Die Tonlage in diesen Dokumenten ist recht bedrohlich ...

Du hast ein großes Netzwerk. Wie wird der Krieg da diskutiert?

In meinem Netzwerk gibt es nur Menschen, die keine Zweifel haben, was tatsächlich passiert. Daher diskutieren wir dieselben Fragen, wie die meisten anderen Europäer auch – ganz gleich, ob wir in Russland leben oder im Ausland.

Was uns aber am meisten Sorge bereitet ist, was es heißen will, unter diesen Umständen Russe zu sein. Wir sind uns einig, dass sich die Sicht auf den ‚Russen‘ bereits geändert hat. Aber die meisten von uns sind an und für sich bereit, einen Teil der Schuld für Russlands Kriegshandlungen auf sich zu nehmen und als jemand betrachtet zu werden, der einer Aggressornation angehört. Das ist unumgänglich und es wird ein paar Generationen dauern, bis ein Paradigmenwechsel kommt.

Scham und Verbitterung sind die Gefühle, die meinen Freundeskreis jetzt charakterisieren.

Die Identität von „Michail“ ist dem „Nordschleswiger“ bekannt.

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