Corona-Maßnahmen

Online-Diskussion: „Wir brauchen ein Ende der Zumutungen“

Online-Diskussion: „Wir brauchen ein Ende der Zumutungen“

Online-Diskussion: „Wir brauchen ein Ende der Zumutungen“

Kay Müller/shz.de
Flensburg
Zuletzt aktualisiert um:
Online-Diskussion: Ulrike Guérot, Stefan Hans Kläsener, Moderatorin Christina Morina und Silvio Witt (im Uhrzeigersinn). Foto: Screenshot: Martin Jahr

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Sozialwissenschaftler, Journalisten und Politiker diskutieren über die Grundrechtseinschränkungen.

Für Ulrike Guérot ist der Fall klar. „Wir haben viele Dinge falsch gemacht“, sagt die Politikwissenschaftlerin von der Uni Krems nach einem Jahr Corona-Management. Die Maßnahmen der Regierung seien nicht transparent, die Ziele unklar, die „Kollateralschäden“ hoch. Und: „Das abstrakte Risiko ist größer als die konkrete Gefahr.“

Starker Tobak, den die Wissenschaftlerin in der Online-Diskussion auftischt, die das Thema dieser Woche aufgreift: Mittwoch werden die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin über weitere Corona-Regeln beraten. „Das Virus ist eine demokratische Zumutung. Über Politik, Vertrauen und Grundrechte in der Pandemie“, heißt das Thema der Diskussion in der Sozialwissenschaftler, Politiker und Journalisten auf Einladung des Frauennetzwerkes „Wir machen das“ miteinander ins Gespräch kommen.

Die Politik hat Begriff „Querdenken“ diskreditiert.

Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin

Für Guérot ist die Lösung leicht. „Zumutungen aufheben“ , lautet ihre These, die sie etwas rumpelstilzchenhaft mit Zitaten von Johann Wolfgang von Goethe über Jürgen Habermas bis hin zu Hannah Arendt ausführt. Statt denen würden in der Pandemie aber nur Virologen als Experten anerkannt. Guérot gibt sich als Verteidigerin der Grundrechte, die sie um jeden Preis wieder in Kraft setzen will. Die Demokratie funktioniere nach den Maßstäben der französischen Revolution. „Da ist von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Rede – aber nicht von Sicherheit.“ Sie sei nicht gegen alle Maßnahmen gegen die Eindämmung des Virus’, aber in der Pandemie sei es gegangen, alle Leben zu retten. Das sei aber nicht Aufgabe des Staates. Statt dessen sei die Gesellschaft in einem „hysterisierenden Krisenmodus“ der Menschen einschränke und Schäden bei vielen zur Folge habe.

Die Politik habe den Begriff „Querdenken“ diskreditiert, sagt Guérot – und man könnte fast denken, dass sie selbst dazu gehört – auch wenn sie nur Kritik am Staat und die Grundrechte verteidigt.

Es ist nicht so einfach, die Zumutung aufzuheben.

Armin Nassehi, Soziologe

Es ist dann der Job des renommierten Münchener Soziologen, Armin Nassehi, seine Kollegin wieder einzufangen. Der 60-Jährige ist unverdächtig, Grundrechtseingriffe gut zu finden und kann deswegen überzeugend sagen: „Es ist nicht so einfach, die Zumutung aufzuheben.“ Die „Kollateralschäden“ wären größer gewesen, wenn es im Dezember keinen Lockdown gegeben hätte, so Nassehi. „Das Gesundheitssystem wäre an seine Grenzen geraten.“ Es sei zwar nicht primäres Ziel des Staates, die Gesundheit seiner Einwohner zu schützen, da habe Guérot Recht. Aber der Staat mache zurecht viel dafür – etwa wenn es um Sicherheit im Straßenverkehr oder den Kampf gegen Krebs gehe.

Allerdings ist auch Nassehi für eine stärkere Abwägung der Maßnahmen. Die Politik hat für ihn nicht immer logisch gehandelt, deswegen gebe es Unmut bei vielen Menschen, die ihre Meinung auch medial nicht abgebildet sehen. Das sei ein Drittel der Bevölkerung hat das Netzwerk „Wir schaffen das“ mit einer Studie aus dem Sommer herausgefunden. Demnach sind aber auch zwei Drittel der Menschen bereit, zeitweise auf Freiheitsrechte zu verzichten, wenn so andere Krisen wie Klimawandel oder Flüchtlingswelle eingedämmt werden könnten. Nassehi verlangt, dass darüber stärker öffentlich diskutiert wird, in den Parlamenten sei das zu wenig geschehen.

Mehr Debatten sind gefordert

Das sehen auch die Praktiker in der Runde so: Neubrandenburgs Bürgermeister Silvio Witt und der Chefredakteur unserer Zeitung, Stefan Hans Kläsener. „In den Kommunen war es ja oft nicht möglich öffentlich zu tagen“, sagt Witt. „Dabei lebt Demokratie von Präsenz.“

Kläsener sieht das auch so: „Man hatte den Eindruck, es gebe nur noch die Exekutive.“ Der Chefredakteur erzählt von Briefen von Wutbürgern und Verschwörungstheoretikern, die ihm vorwerfen, die Medien seien Teil des politischen Systems. „Das ist eine Riesenschweinerei, das sind wir nicht.“ Kläsener berichtet, dass oft Lehrer und Beamte sich vom „System“ betrogen fühlen. „Wenn die Diener des Staates mit dem Staat ein Problem haben, hat der Staat ein Problem.“

Die Runde ist sich dann schnell einig, dass es der Gesellschaft helfen würde, wenn die Menschen öffentlich Meinungen und Argumente austauschen, statt in Blasen ihre Ansichten zu verfestigen. Die Online-Runde macht es vor. Und Kläsener glaubt daran, die Spaltung der Gesellschaft vermeiden zu können, die Guérot festgestellt hat. „Wenn die Leute mit dem Grundgesetz argumentieren, dann sind Anknüpfungspunkte da, sie zur Vernunft zurückzubringen.“

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