Krieg in der Ukraine

Russland setzt Angriff auf Mariupol fort

Russland setzt Angriff auf Mariupol fort

Russland setzt Angriff auf Mariupol fort

dpa
Kiew/Moskau
Zuletzt aktualisiert um:
In der ukrainischen Großstadt Mariupol und für die Stadt Wolnowacha gilt eine Feuerpause für humanitäre Korridore. Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

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Zivilisten sollten die Chance bekommen, während einer Feuerpause aus Mariupol zu fliehen - doch die Evakuierungen wurden verschoben. Eine dritte Verhandlungsrunde steht bevor.

Das russische Militär hat eigenen Angaben zufolge seine Angriffe auf die ukrainische Großstadt Mariupol und die Stadt Wolnowacha fortgesetzt.

Die Kampfhandlungen seien um 16.00 Uhr (MEZ) nach einer mehrstündigen Feuerpause fortgesetzt worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Samstagabend laut Agentur Interfax mit. Die Ukraine und Russland hatten sich zuvor gegenseitig Verletzungen der ersten begrenzten Feuerpause im Ukraine-Krieg zur Evakuierung von Zivilisten aus dem Kampfgebiet vorgeworfen.

Die Einstellung des Feuers hatte um 8.00 Uhr (MEZ) in Kraft treten sollen, um Zivilisten die Möglichkeit zu geben, die eingekesselten Städte zu verlassen. Russlands Militärsprecher Igor Konaschenkow beklagte, dass «kein einziger Zivilist» Mariupol oder Wolnowacha über die Korridore habe verlassen können. «Wegen der mangelnden Bereitschaft der ukrainischen Seite, auf die Nationalisten einzuwirken oder die Feuerpause zu verlängern, wurden die Offensivoperationen wieder aufgenommen», sagte er.

Ukraine: 400 Menschen in Sicherheit gebracht

Ukrainischen Angaben zufolge waren hingegen 400 Menschen aus Wolnowacha und umliegenden Dörfern in Sicherheit gebracht worden. Aufgrund von Beschuss durch russische Truppen seien aber weniger Menschen evakuiert worden als zunächst geplant, hieß es. Beide Seiten hatten sich am Nachmittag gegenseitig Verstöße gegen die Feuerpause vorgeworfen. Das ließ sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.

Schüsse seien zudem von Mariupol aus im Gebiet Donenzk in der Südostukraine auf Stellungen russischer Truppen abgefeuert worden, hieß es in der Mitteilung des Ministeriums in Moskau. Zudem sei am Vormittag ein Wohnhaus gesprengt worden, in dem sich bis zu 200 Menschen aufgehalten haben könnten. Die Angaben ließen sich nicht überprüfen. Die Waffenruhe um Mariupol und die 65 Kilometer entfernte Stadt Wolnowacha in der Region Donezk war am Samstag für sieben Stunden angesetzt gewesen. Beide Seiten hatten am Donnerstag bei Verhandlungen in Belarus solche humanitären Korridore vereinbart.

Moskau: Militärbasis bei Cherson erobert

Russische Truppen wollen nach Angaben des Moskauer Verteidigungsministeriums eine große Militärbasis nahe der südukrainischen Gebietshauptstadt Cherson unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die ukrainischen Truppen hätten die weitläufige Basis nahe der Ortschaft Radensk verlassen, teilte das Verteidigungsministerium nach Angaben der Agentur Interfax mit. Unter anderem seien Panzer und Panzerfahrzeuge erbeutet worden. Von Kiew gab es keine Bestätigung.

In einer Halle sei ein Waffenlager, unter anderem mit Panzerabwehrraketen gefunden worden, teilte Russland weiter mit. Die ukrainische Basis sei für etwa 4000 Soldaten ausgelegt gewesen. Die Gebietshauptstadt Cherson mit 280.000 Einwohnern soll unter Kontrolle der russischen Truppen stehen.

Russische Truppen hätten außerdem im Gebiet Schitomir vier Flieger vom Typ SU-27 zerstört, sagte der russische Militärsprecher Igor Konaschenkow. Außerdem seien fünf Radarstationen und zwei Flugabwehrsysteme vom Typ Buk M-1 vernichtet worden.

Selenskyj bittet um mehr Waffen

Selenskyj bat die USA in einer Videoschalte mit US-Senatoren und Kongressabgeordneten nach Teilnehmerangaben um mehr Waffen. Selenskyj habe dringend mehr «militärische Ausrüstung für seine Streitkräfte und zur Verteidigung seines Volkes» gefordert, teilte der republikanische Senator Dan Sullivan mit. An die Adresse der Regierung des demokratischen US-Präsidenten Joe Biden appellierte Sullivan, dies «für die Verteidigung der Demokratie» möglich zu machen. Selenskyj habe sich auch dafür ausgesprochen, Importe von russischem Öl und Gas weltweit zu stoppen.

Der republikanische US-Senator Lindsey Graham sagte in einer Videobotschaft nach der Schalte, Selenskyj habe zu verstehen gegeben, «dass es richtig wäre, Putin als Kriegsverbrecher zu bezeichnen, und dass dies seiner Meinung nach sehr hilfreich wäre». Graham forderte die Biden-Regierung dazu auf, «die Aktivitäten Putins und seines inneren Kreises als Kriegsverbrechen zu deklarieren». Die Regierung müsse außerdem eine Strafverfolgung Putins als Kriegsverbrecher unterstützen. «Alles andere wäre ein schlechter Dienst für das ukrainische Volk, das russische Volk und die Weltordnung.» Der Sender CNN berichtete, die Schalte habe eine Stunde gedauert.

Nach Angaben aus Kiew schlossen sich mehr als 100.000 Menschen der ukrainischen Territorialverteidigung an. Das sagte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Samstag nach Angaben der Agentur Unian. Unabhängig überprüfen ließ sich diese Zahl zunächst nicht. Die Freiwilligenbataillone sollten auch nach dem Ende des Kriegs nicht aufgelöst, sondern in die ukrainischen Verteidigungsstrukturen integriert werden, sagte Maljar.

Klitschko-Brüder: «Wir bleiben hier»

Die Brüder Wladimir und Vitali Klitschko wollen in der Ukraine bleiben und weiter gegen die russischen Truppen kämpfen. Es bleibe ihnen keine andere Wahl als zu kämpfen, sagte Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, in einem gemeinsamen Interview mit seinem Bruder der «Welt am Sonntag». Für ihn wäre es «richtig peinlich», wenn er als gewählter Bürgermeister jetzt sein Land verlassen würde. «Wenn ich ginge, wäre das Verrat und ich könnte niemals mehr in den Spiegel sehen. Wir bleiben hier.»

In einer auf Instagram veröffentlichten Videobotschaft forderten die Brüder Papst Franziskus, den Dalai Lama und weitere geistliche Oberhäupter der Welt auf, die Ukraine zum unterstützen. «Kommen Sie nach Kiew und zeigen Ihre Solidarität mit dem ukrainischen Volk», sagt Klitschko auf Englisch. Das Drama, das sich gerade in der Ukraine abspiele, stelle den Begriff der Menschlichkeit in Frage. «Was im Herzen Europas geschieht, berührt alle Bewohner des Planeten, die die Gerechtigkeit und die Werte des Guten lieben, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion», sagt Wladimir Klitschko.

Rotes Kreuz: «Herzzerreißende» Szenen

«Die Szenen aus Mariupol und anderen Städten heute sind herzzerreißend», teilte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit. Die Evakuierungen über die Korridore würden nicht am Samstag beginnen. Man bleibe mit den Konfliktparteien in Kontakt, damit Zivilisten in Sicherheit gebracht werden könnten. «Unabhängig davon, ob humanitäre Korridore in den kommenden Tagen umgesetzt werden, müssen die Parteien weiterhin unter internationalem humanitärem Recht Zivilisten und zivile Infrastruktur schützen.»

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief zur weiteren Verteidigung Mariupols auf. «Alle, die Hilfe brauchen, sollten die Möglichkeit bekommen, rauszukommen», sagte der Präsident. «Alle, die ihre Stadt verteidigen möchten, sollten den Kampf fortsetzen.»

Zuvor hatte der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, von einer Blockade der Stadt mit 440.000 Menschen und unerbittlichen russischen Angriffen gesprochen. Nach ukrainischer Darstellung setzte Russland seine Offensive in anderen Kriegsgebieten fort, auch gegen die Hauptstadt Kiew und die Metropole Charkiw.

UN: Bisher 351 tote Zivilisten

Nach UN-Angaben sind bei dem Krieg bisher 351 Zivilisten ums Leben gekommen. Wie das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) am Samstag weiter berichtete, stieg die Zahl der verletzten Zivilisten auf 707, darunter auch 36 Kinder. Die meisten Opfer seien durch den Einsatz von Explosivwaffen mit weitem Wirkungsbereich verursacht worden, darunter Beschuss durch schwere Artillerie und durch Raketen. Die wahren Opfer-Zahlen dürften laut OHCHR erheblich höher sein.

Gerade in den vergangenen Tagen seien die entsprechenden Informationen schwer zu bekommen gewesen und manche Berichte über verletzte und tote Zivilisten harrten einer Bestätigung. Dies betreffe beispielsweise die Stadt Wolnowacha nahe Donezk, in der angeblich Hunderte von zivilen Opfern zu beklagen seien. Das Hochkommissariat gibt nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat.

Dritte Verhandlungsrunde der Kriegsparteien

Neue Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sind nach Angaben aus Kiew erst für kommenden Montag geplant. Das schrieb der Leiter der ukrainischen Delegation, David Arachamija, am Samstagabend bei Facebook. Einzelheiten nannte er nicht. Später sagte der russische Außenpolitiker Leonid Sluzki im Staatsfernsehen: «Die dritte Runde kann wirklich in den nächsten Tagen stattfinden. Möglich ist es am Montag, dem 7. (März).» Zunächst war mit weiteren Gesprächen bereits an diesem Wochenende gerechnet worden.

Der russische Regierungssprecher Dmitri Peskow hatte laut der russischen Agentur Tass zuvor erklärt, es gehe Moskau um Sicherheitsgarantien. Putin hat unter anderem das Ziel ausgegeben, die ukrainische Führung abzusetzen.

Auch die internationalen Bemühungen für ein Ende des Krieges dauern an. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird an diesem Sonntag die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einem Gespräch im Bundeskanzleramt empfangen. Die US-Regierung übte Druck auf China aus, sich im Ukraine-Krieg gegen Russland zu positionieren. US-Außenminister Antony Blinken sprach am Samstag während seiner Europareise mit seinem chinesischen Kollegen Wang Yi «über den vorsätzlichen, unprovozierten und ungerechtfertigten Krieg Moskaus gegen die Ukraine», wie das Ministerium in Washington mitteilte.

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