Jüdisches Leben in Deutschland

„Chai – auf das Leben!“ – eine Spurensuche

„Chai – auf das Leben!“ – eine Spurensuche

„Chai – auf das Leben!“ – eine Spurensuche

Karolina Meyer-Schilf/shz.de
Bremen
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Ein beleuchteter Davidstern am Chanukka-Leuchter. Foto: Christoph Hardt via www.imago-images.de

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Was macht ein Leben überhaupt zu einem jüdischen Leben? Unsere Autorin hat sich mit dieser Frage beschäftigt.

Sie wissen wahrscheinlich, was Schabbat ist. Auch von koscherem Essen haben Sie vermutlich eine ungefähre Vorstellung. Mitziemlicher Sicherheit haben Sie eine Meinung zu Israel. Aber dann? Wie weiter? Was wissen Sie über das jüdische Leben in Deutschland – das vergangene und das dieser Tage?

So viele Fragen

Das hier sollte ein Text über jüdisches Leben in Deutschland werden. Doch er scheitert bereits an der Ausgangsfrage: Was ist denn jüdisches Leben in Deutschland im Jahr 2021? Natürlich könnte man jetzt Faktenwissen herunterbeten, im wahrsten Sinne des Wortes: Was sind die Feiertage, was die Riten, welche Gebräuche gibt es? Wo gibt es koschere Lebensmittel zu kaufen, was ist das überhaupt genau, und was ist eigentlich eine Mikwe? Was hat es mit jenen ultraorthodoxen Juden auf sich, die in Netflixserien wie „Shtisel“ (sehr sehenswert) oder „Unorthodox“ (nicht so sehenswert) über die Bildschirme laufen, und wie repräsentativ sind sie für das aktuelle jüdische Leben in Deutschland (gar nicht)? Hier ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, wäre vielleicht hilfreich, denn die meisten Menschen in Deutschland haben kaum eine Vorstellung vom Judentum. Sie kennen keinen Juden persönlich, zumindest glauben sie das, und ein wenig Information würde die eine oder andere Wissenslücke füllen.

Judentum ist so viel mehr als das. Es ist mehr als nur eine Religion, manche Juden essen koscher, andere nicht, manche gehen in die Synagoge, andere nicht. Jüdische Menschen, die heute in Deutschland leben, haben ganz unterschiedliche Wurzeln: Die meisten von ihnen sind in den 1990er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert, „Kontingentflüchtlinge“ hieß das damals. In Berlin wiederum leben viele Israelis, und dann gibt es noch jene, die den Holocaust überlebt haben und dennoch nach dem Krieg in Deutschland geblieben sind.

Die Angst ist allgegenwärtig

Jüdisches Leben ist genau so wie jedes andere Leben auch, nämlich divers, mit einem entscheidenden Unterschied: Dass es auch 76 Jahre nach dem Holocaust immer noch so gefährdet ist, dass jüdische Schulen und Gemeinden hinter Zäunen und unter Polizeischutz stehen, dass Gemeindebriefe in neutralen Umschlägen versendet werden, um den Empfänger nicht zu kompromittieren, dass sich Menschen vielerorts nicht trauen, sichtbar eine Kippa auf dem Kopf, einen Davidstern um den Hals zu tragen oder die „Jüdische Allgemeine“ zu kaufen.

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Es gibt viele Initiativen, an diesem beschämenden Zustand etwas zu ändern. Eine davon ist das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, das vergangenen Sonntag begann. Schirmherr ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, es gibt bereits eine hübsche Sonderbriefmarke, in Köln fährt eine Straßenbahn mit dem charmanten Schriftzug „Shalömchen“ durch die Stadt, es gibt einen hörenswerten Podcast und im Laufe des Jahres sollen zahlreiche kulturelle Veranstaltungen dazu beitragen, das aktuelle jüdische Leben in Deutschland sichtbar zu machen.

Gemeinsam feiern

So ist etwa für September „Sukkot XXL“ geplant, das größte Laubhüttenfest der Welt: Jüdische Gemeinden können sich beim Verein Bausätze bestellen und die nicht jüdischen Bürger einladen, gemeinsam zu feiern. „Das Festjahr soll zeigen, dass das Judentum in Deutschland nichts Fremdes ist“, sagt Sylvia Löhrmann, ehemalige Bildungsministerin von Nordrhein-Westfalen und Generalsekretärin des Vereins #2021JLID, der das Festjahr koordiniert. Das stimmt, besser: Es sollte so sein.

Wer aber ein wenig hineinhört in Diskussionen, die junge Jüdinnen und Juden in Deutschland führen, der hört von „gepackten Koffern“, der hört von Sätzen wie: „Ach, du bist jüdisch? Dein Name klingt aber gar nicht so!“ oder auch von aufgezwungenen Israel-Diskussionen, sobald sich jemand als jüdisch zu erkennen gibt. Dabei sind jüdische Deutsche für israelische Politik ungefähr genau so verantwortlich wie für die Politik der USA – nämlich gar nicht. Israel ist aber das überlebenswichtige Backup, die Lebensversicherung – dorthin führt oft der Weg, wenn wirklich die Koffer gepackt werden, weil der Antisemitismus wie in Frankreich oder auch in Deutschland so bedrohlich wird, dass es hier nicht mehr auszuhalten ist. Wenn der Historiker Michael Wolffsohn in der „Welt“ anlässlich des Festjahres von einer „Existenz auf Widerruf“ spricht, dann meint er genau das. Nicht alle mögen außerdem in den – von Wolffsohn in der „Welt“ sogenannten – staatlich verordneten „Judenjubel“ einstimmen.

Grigori Pantijelew etwa: Er ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Bremen und meint:

Es tut mir leid, hier bin ich eher reserviert. Was bedeutet dieses Festjahr, 1700 Jahre Antisemitismus in Deutschland? Was hat es mit aktuellem jüdischen Leben zu tun?

Grigori Pantijelew, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Bremen

Verwüstete Grabstätte

Pantijelew ist Musikwissenschaftler, er verweist auf das Beispiel des großen Wagner Dirigenten Hermann Levi, der in Garmisch-Partenkirchen lebte, Ehrenbürger dieser Stadt ist und um dessen seit dem Nationalsozialismus verwüstet gebliebene Grabstätte seit Jahrzehnten ein unwürdiger Streit tobt. Vor einigen Jahren sollte zudem ein Teil der örtlichen Hindenburgstraße nach Hermann Levi umbenannt werden – doch in einem Bürgerentscheid votierten unfassbare 90 Prozent dagegen. Für dieses Jahr nun ist wenigstens die Errichtung einer neuen Grabstätte geplant, ein Termin indes steht noch nicht fest.

Die Stadträte, die Richard-Strauss-Familie und das gleichnamige Institut fanden das mit ihrem Status kompatibel, wegzuschauen und nichts zu tun. Wollen wir das feiern?

Grigori Pantijelew

Miteinander anpacken

Es sind diese Nadelstiche, die daran zweifeln lassen, wie ernst es den nicht jüdischen Deutschen wirklich ist mit ihren jüdischen Mitbürgern. Und es sind wiederum die kleinen Dinge, die helfen können, zu einem wirklichen Miteinander zu kommen. „Anstatt nur immer wieder Stolpersteine zu putzen, sollte man lieber lebendigen Juden mal hilfreich zur Seite stehen“, sagt Pantijelew und erklärt, was er damit meint: „Die ehemalige Finanzsenatorin Karoline Linnert hat zum Beispiel mit ihren Mitarbeitern dabei geholfen, im Herbst das Laub auf unserem Friedhof zusammen zu harken.“

Kleine, aber wichtige Gesten

Auch eine Uni-Dozentin habe sich vor einiger Zeit gemeldet und gefragt, was sie mit ihren Studierenden tun könnte, um mal ganz praktisch und ohne Aufhebens Solidarität zu zeigen. „Das sind kleine, aber enorm wichtige Gesten.“ Gerade die kleineren Gemeinden haben oftmals wenig personelle und finanzielle Ressourcen, um ein lebendiges jüdisches Leben, das auch nach außen strahlt, auf die Beine zu stellen.

Wir brauchen eine gesellschaftliche Normalität, sichtbar jüdisch zu sein, zum Judentum, zu Israel zu stehen. Für die Einbindung in das gesamtgesellschaftliche Leben ist ein jüdisches Bürgertum, besonders Bildungsbürgertum mit den Chancen auf den Auf-stieg und Anerkennung unerlässlich. Das sollte auch ein Teil der jüdischen Gemeinschaft sein und dieser Teil ist nicht existent.

Grigori Pantijelew

Er verweist auf die Zeit vor 1933, wo es auch dank wohlhabender Juden viele Aktivitäten, Vereine und Unterstützung für Arme, Alte und Kranke gab. „Das gibt es hier heute kaum. Woher auch? Das ist eine sehr, sehr schwierige Aufgabe, unter dieser Prämisse wieder etwas aufzubauen.“

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