Bundesverfassungsgericht

Karlsruhe kippt Teile der Ampel-Wahlrechtsreform

Karlsruhe kippt Teile der Ampel-Wahlrechtsreform

Karlsruhe kippt Teile der Ampel-Wahlrechtsreform

dpa
Karlsruhe
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Die Wahlrechtsreform der Ampel kann so nicht stehen bleiben - sagt das Bundesverfassungsgericht. Foto: Uli Deck/dpa

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Um die Aufblähung des Bundestags zu bremsen, reformierte die Ampel-Koalition 2023 das Wahlrecht. Doch die Neuregelung ist in Teilen verfassungswidrig - und muss überarbeitet werden.

Die von der Ampel-Koalition eingeführte Reform des Bundeswahlgesetzes ist in Teilen verfassungswidrig. Das urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dabei geht es um die Aufhebung der sogenannten Grundmandatsklausel.

Diese Regel sah im alten Wahlrecht vor, dass Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einziehen, wenn sie unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen. Dies setzte das Gericht nun vorerst wieder in Kraft, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung verabschiedet hat.

Ein Kernstück der Ampel-Reform - die Begrenzung des Bundestags auf 630 Abgeordnete und der Wegfall der sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate - hat dagegen Bestand. (Az. 2 BvF 1/23 u.a.)

Schon vor der offiziellen Verkündung kursierte das Urteil online. Das Dokument war zeitweise auf der Internetseite des obersten deutschen Gerichts abrufbar. «Das Gericht ist gerade dabei zu prüfen, wie es dazu kommen konnte», sagte die Vorsitzende Richterin Doris König in Karlsruhe. «Wir bedauern, dass es eventuell aufgrund eines technischen Fehlers möglich war, das Urteil bereits seit gestern im Internet abzurufen.»

Zweitstimmendeckung mit Grundgesetz vereinbar

Die von der Koalition aus SPD, Grünen und FDP durchgesetzte Neuregelung des Gesetzes ist seit Juni 2023 in Kraft und soll erstmals bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr angewendet werden. Mit der Reform soll die Größe des Bundestags stark reduziert werden - verglichen mit dem aktuellen Stand um mehr als 100 auf maximal 630 Parlamentarier.

Um das zu erreichen, hat die Koalition auch Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen. Überhangmandate fielen bislang an, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Diese Mandate durfte sie dann behalten, die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate.

Für die Zahl ihrer Sitze im Parlament ist künftig allein das Zweitstimmenergebnis einer Partei entscheidend - auch dann, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Dann gehen die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis leer aus. Das träfe vor allem die Unionsparteien. 

Dass die Ampel die Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen hat, ist aus Sicht der Karlsruher Richterinnen und Richter verfassungskonform. Der Gesetzgeber habe einen weiten Gestaltungsspielraum, betonte König mehrfach. Die sogenannte Zweitstimmendeckung sei mit dem Grundgesetz vereinbar.

Die Ampel-Fraktionen sehen die Entscheidung daher auch nicht als Niederlage - im Gegenteil. «Das Wichtigste steht nach diesem Urteil fest: Die Verkleinerung des Deutschen Bundestags ist vollbracht und verfassungsgemäß», sagte der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Dirk Wiese. «In der entscheidenden Frage der Verkleinerung des Bundestags bestätigt das Urteil die Reform voll und ganz», sagte FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle.

Nachbesserung bei Fünf-Prozent-Hürde gefordert

Die Fünf-Prozent-Hürde sei in ihrer geltenden Form - also etwa ohne Grundmandatsklausel - hingegen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, erklärte König. Sie beeinträchtige den Grundsatz der Wahlgleichheit. Sie sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang nötig, um die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Der Gesetzgeber müsse ein milderes Mittel wählen. 

Es sei möglich, dass die CSU bei der nächsten Wahl bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt werde, sollte sie die Fünf-Prozent-Hürde bundesweit nicht überschreiten, so König. Dabei würden die CSU-Abgeordneten im Fall einer Berücksichtigung «hinreichend sicher» eine Fraktion mit der CDU bilden. «In diesem Fall wird das Ziel der Sperrklausel in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden», nannte sie eine mögliche Lösung.

Der Gesetzgeber müsse die Sperrklausel so gestalten, dass sie nicht über das hinausgehe, was für die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestags erforderlich ist. Dabei müsse er nicht unbedingt die vorgeschlagene gemeinsame Berücksichtigung zweier kooperierender Parteien, wie CDU und CSU, einführen. Er könne die Sperrklausel auch anders modifizieren. 

Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann hält es für nachvollziehbar, dass für die nächste Wahl nach dem Urteil die Grundmandatsklausel erhalten bleibt. Wichtig sei, dass durch die Anordnung des Gerichts nun Klarheit herrsche für die anstehende Bundestagswahl im September 2025.

Vor allem Linke und CSU von Reform betroffen

In Karlsruhe waren gegen das Gesetz die bayerische Staatsregierung, 195 Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag, die Linke im Bundestag sowie die Parteien CSU und Linke vorgegangen. Zudem hatten mehr als 4000 Privatpersonen eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Die Antragssteller und Beschwerdeführer sahen vor allem zwei Grundrechte verletzt: die Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 und das Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 im Grundgesetz. 

Durch den geplanten Wegfall der Grundmandatsklausel stand insbesondere für CSU und Linke einiges auf dem Spiel. Bei der Wahl 2021 war die CSU, die nur in Bayern antritt, bundesweit auf 5,2 Prozent der Zweitstimmen gekommen. Würde sie bei der nächsten Wahl bundesweit unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen, flöge sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag - auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen sollte.

König machte deutlich, dass schon heute nicht jeder Wahlkreis mit einem Abgeordneten im Bundestag vertreten sein muss - etwa beim Nachrücken für ausscheidende Parlamentarier. Auch müsse das Wahlrecht nicht so gestaltet werden, dass aus jedem Bundesland entsprechend dem Bevölkerungsanteil Wahlkreisbewerber in den Bundestag einziehen. «Es wäre ohnehin verfehlt, Wahlkreisabgeordnete als Delegierte ihres Wahlkreises anzusehen», sagte die Vizegerichtspräsidentin. Sie seien gemäß Grundgesetz Vertreter des ganzen Volkes. 

Die Linke zog wiederum bei der letzten Bundestagswahl nur über die Grundmandatsklausel in Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Die Partei scheiterte 2021 an der Fünf-Prozent-Hürde, gewann aber drei Direktmandate. Nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) steckt die Linke wieder tief in der Krise. Bei der Europawahl Anfang Juni erzielte sie nur noch 2,7 Prozent.

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