Großprojekt

Milliardenschwere S-Bahn-Linie 4 ist nicht barrierefrei

Milliardenschwere S-Bahn-Linie 4 ist nicht barrierefrei

Milliardenschwere S-Bahn-Linie 4 ist nicht barrierefrei

Henning Baethge/shz.de
Hamburg/Berlin
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Erster Spatenstich für die S4 am Montag dieser Woche. Es schaufeln von links: Ministerpräsident Daniel Günther, Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, Bahnvorstand Ronald Pofalla und Hamburgs erster Bürgermeister Peter Tschentscher. Foto: Markus Scholz

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Auf der S4 werden Rollstuhlfahrer an zwei Stationen Hilfe brauchen – Betroffene und Grüne protestieren.

Die geplante neue S-Bahn-Linie 4 zwischen Hamburg und Bad Oldesloe wird von der Deutschen Bahn auch damit angepriesen, dass behinderte Menschen besonders leicht ein- und aussteigen können. „Auf der S4 kommen moderne, vollständig barrierefreie S-Bahn-Züge zum Einsatz“, wirbt die Bahn auf ihrer Internetseite für das 1,85 Milliarden Euro teure und in dieser Woche in Hamburg gestartete Bauprojekt. Schön wär’s – doch die behauptete Barrierefreiheit gibt es leider nur in der Hansestadt. In Schleswig-Holstein dagegen werden Rollstuhlfahrer an zwei der sechs Bahnhöfe weiterhin Hilfe brauchen: in Bargteheide und in Kupfermühle. 

 

 

 

Der Grund dafür ist, dass die neue S4 zwar ab 2029 die jetzige Regionalbahn zwischen Hamburg und Bad Oldesloe ersetzen soll, aber aus Kostengründen nur von Hamburg bis Ahrensburg auf 20 Kilometern eigene, zusätzliche Gleise und neue Bahnsteige mit der S-Bahn-Höhe von 96 Zentimetern erhält. Hinter Ahrensburg schwenken die S-Bahnen dagegen für 16 Kilometer auf die bestehende Strecke mit niedrigeren Bahnsteigen ein. Nur der Endbahnsteig in Bad Oldesloe und eine von zwei S-Bahn-Plattformen in Bargteheide werden ebenfalls auf 96 Zentimeter erhöht. 

Bei stärkerer Erhöhung der Bahnsteige droht Kollisionsgefahr 

In Kupfermühle und der anderen S-Bahn-Plattform in Bargteheide hingegen werden die Bahnsteige nur von derzeit 38 Zentimetern auf die Fernzug-Höhe von 76 aufgestockt. Mehr geht dort nicht, weil die Bahnsteige direkt an der transeuropäischen Strecke Kopenhagen-Hamburg liegen – und dort maximal 76 Zentimeter zulässig sind. Sonst könnten Güterzüge mit überbreiter Ladung nicht durchfahren, sondern drohten mit dem Bahnsteig zu kollidieren. 

Mobile Einstiegsrampen sollen Rollstuhlfahrern hz 

Für Rollstuhlfahrer sieht Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer an diesen Bahnsteigen trotz des Höhenunterschieds von 20 Zentimetern zur S-Bahn kein großes Problem. „Um trotzdem einen barrierefreien Ein- und Ausstieg sicherzustellen, sieht die S-Bahn Hamburg mobile Einstiegsrampen vor, die durch den Triebfahrzeugführer bedient werden“, lässt der CSU-Politiker seinen Staatssekretär Enak Ferlemann auf eine aktuelle Anfrage der Grünen im Bundestag mitteilen. So würden alle Vorgaben zur Barrierefreiheit „eingehalten“.

 

Ein bisschen Barrierefreiheit gibt es nichtAndreas Reigbert,

Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter

 

Die Betroffenen sehen das ganz anders. Nur wenn ein „niveaugleicher, selbständiger Ein- und Ausstieg“ möglich sei, könne man von echter Barrierefreiheit reden, sagt der Bargteheider Andreas Reigbert vom Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter. Weil das aber in Bargteheide und Kupfermühle gerade nicht der Fall ist, verstießen die Pläne für die S4 gegen das Diskriminierungsverbot im Grundgesetz und der Behindertenrechtskonvention der UN. „Ein bisschen Barrierefreiheit gibt es nicht“, kritisiert Reigbert. Zudem verweist er darauf, dass nicht nur Rollstuhlfahrer, sondern auch Reisende mit Rollator, Fahrrad, Kinderwagen oder schwerem Gepäck durch den Höhenunterschied benachteiligt würden. 

Grüne: Der Bund hat am falschen Ende gespart 

Reigbert wünscht sich daher vom Bund eine Fortführung der zwei gesonderten S-Bahn-Gleise bis Bad Oldesloe. „Hätte man mehr Geld in die Hand genommen und auch auf schleswig-holsteinischer Seite vier Gleise eingeplant, dann wäre dieses Problem nicht entstanden“, sagt er. Er hofft, daran noch etwas ändern zu können: „Da wir davon ausgehen, dass die S4 über hundert Jahre Bestand haben soll, darf Barrierefreiheit nicht an finanziellen Mitteln scheitern.“ 

Auch die schleswig-holsteinische Grünen-Bundestagsabgeordnete Ingrid Nestle übt Kritik an den Plänen. „Da wurde eindeutig am falschen Ende gespart", wettert sie. „Für Menschen im Rollstuhl können 20 Zentimeter wie der Himalaya wirken.“ Zudem fürchtet sie noch einen anderen Nachteil, wenn Zugführer an Bahnhöfen Rampen für Rollstuhlfahrer auf- und wieder abbauen müssen: „Die Verspätung ist vorprogrammiert.“ 

Bei der Regionalbahn gibt es derzeit fast dasselbe Problem 

Bei Schleswig-Holsteins Verkehrsgesellschaft Nah SH, die den regionalen Bahnverkehr im Land organisiert, räumt Sprecher Dennis Fiedel ein, dass das Problem mit den Bahnsteigen „misslich“ sei, aber kaum zu lösen. Immerhin hofft er, dass in Bargteheide möglichst viele S-Bahnen die 96 Zentimeter hohe Plattform an Gleis 3 nutzen werden und möglichst wenige die niedrigere an Gleis 1. Und er verweist darauf, dass die Lage in Bargteheide und Kupfermühle mit der neuen S-Bahn zumindest nicht schlechter wird als heute mit der Regionalbahn: Weil derzeit die Bahnsteige dort nur 38 Zentimeter hoch sind, können Rollstuhlfahrer auch jetzt nur über Rampen ein- und aussteigen.

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