Prozess
Pflicht und Todesangst: Geflohene Polizistinnen verurteilt
Pflicht und Todesangst: Geflohene Polizistinnen verurteilt
Pflicht und Todesangst: Geflohene Polizistinnen verurteilt
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Zwei Polizistinnen sind zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil sie zwei Kollegen im Kugelhagel ihrem Schicksal überließen und flohen. Nun droht ihnen, nie wieder in ihrem Beruf arbeiten zu dürfen
Wie viel Mut gehört zur Dienstpflicht einer Polizistin? Und ist es ein strafbares Vergehen, einen Kollegen im Kugelhagel zurückzulassen, auch wenn man selbst um sein Leben fürchtet?
Die Fragen, um die es an diesem Dienstag im Hagener Gerichtssaal geht, sind nicht einfach zu beantworten.
Hier verhandelt das Amtsgericht Schwelm gegen zwei Polizistinnen, denen die Staatsanwaltschaft vorwirft, zwei in einer Verkehrskontrolle plötzlich unter Beschuss geratene Kollegen im Stich gelassen zu haben. Einer der beiden war getroffen zu Boden gegangen, die schusssichere Weste bewahrte ihn vor Tod oder schwerer Verletzung. Die dazugestoßenen Polizistinnen ergriffen die Flucht, stoppten einen Wagen und wiesen die Fahrerin an, davonzufahren.
Wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung im Amt durch Unterlassen hat Staatsanwalt Jörn Kleimann Anklage gegen die 37 und 32 Jahre alten Beamtinnen erhoben. Genau wegen dieses Vorwurfs wird Amtsrichterin Anna Walther beide zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilen. Das kann gravierende Folgen haben: Sollte das Urteil rechtskräftig werden, hätte dies das zwingende Ende der Beamtenlaufbahn der beiden zur Folge. Ein Disziplinarverfahren wäre dann nicht mehr nötig.
In einer Nacht Anfang Mai 2020 waren die beiden Angeklagten zufällig auf Streife zu einer aus dem Ruder gelaufenen Verkehrskontrolle dazugestoßen. Ein Autofahrer hatte unvermittelt auf einen Kollegen geschossen. In dem daraus resultierenden Feuergefecht waren binnen kurzer Zeit 21 Schüsse gefallen.
Statt aus der Deckung ihres Streifenwagens einzugreifen, etwa mittels Warnschuss die Übermacht der Polizei zu demonstrieren, seien sie davongelaufen, kritisiert die Richterin nun. Sie verstehe die Todesangst, gleichwohl müsse man im selbstgewählten gefährlichen Beruf einer Polizistin anders reagieren.
Mit ihrer Flucht hätten sie ihre Kollegen in einer lebensbedrohlichen Situation ihrem Schicksal überlassen, «frei nach dem Motto: Besser die, als ich», hatte Staatsanwalt Jörn Kleimann zuvor in seinem Plädoyer gesagt. Mit seiner Forderung nach einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung will er auch die Botschaft aussenden: So darf sich ein Polizist, eine Polizistin nicht verhalten. Bei einem Strafmaß unter einem Jahr auf Bewährung hätten dienstrechtliche Konsequenzen im Ermessen des noch ausstehenden Disziplinarverfahrens gelegen.
Die beiden Angeklagten leugnen das Geschehen nicht. Aber sie werben im Gerichtssaal um Verständnis für ihre Flucht. «Ich habe jeden Moment damit gerechnet, selbst getroffen zu werden. Ich dachte nur 'Bitte nicht in den Hinterkopf'», verteidigt sich die jüngere der beiden, immer wieder unter Tränen. «Ich habe mich auch in gefährlichen Einsätzen nie versteckt», sagt die dienstältere Kollegin. Doch diese Situation sei anders gewesen. In der Dunkelheit sahen sie wenig, hörten nur Schüsse in hoher Frequenz und ihr vielfaches Echo, erinnert sie sich. «Ich wusste nicht wer, warum und wie viele. In mir schaltete alles auf Überleben.» Im Auto hatten sie mit dem Mobiltelefon der Fahrerin die Leitstelle verständigt - und waren nach einiger Zeit angewiesen worden, zum Einsatzort zurückzukehren.
Keine Ausbildung habe sie auf solch eine Situation vorbereitet, sind sich beide rückblickend einig: «Man übt nicht aus dem Streifenwagen auszusteigen und direkt in einen Kugelhagel zu geraten», sagt die 37-Jährige. «Ja, wir haben verschiedene Trainings bei der Polizei. Aber niemals welche, bei denen wir wissen, du wirst gleich sterben», sagt die 32-Jährige.
Auch die Kollegen im Zeugenstand nehmen die Angeklagten in Schutz: Er mache ihnen «absolut gar keinen Vorwurf», sagt der im Einsatz getroffene Polizist. Er sei überzeugt, dass die Situation unabhängig vom Tun oder Nicht-Tun seiner Kolleginnen so verlaufen sei, wie sie verlaufen sei.
Rechtsanwalt Eckhardt Wölke, der die ältere der beiden Polizistinnen vertritt, macht sich nach dem Prozess Luft: «Das Urteil kann man so nicht stehen lassen», sagt er. Die Situation sei lebensgefährlich gewesen. Er halte es für fragwürdig, dass ein Schuss aus der Distanz etwas hätte verändern können. Insbesondere vor dem Hintergrund des drohenden Verlustes der Beamtenrechte seiner Mandantin werde er Berufung einlegen.