Frauenrechte

Demos nach Erdogans Austritt aus Istanbul-Konvention

Demos nach Erdogans Austritt aus Istanbul-Konvention

Demos nach Erdogans Austritt aus Istanbul-Konvention

dpa
Istanbul
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Josep Borrell, EU-Außenbeauftragter, hat die Türkei aufgefordert, ihren Austritt aus der Istanbul-Konvention rückgängig zu machen. Foto: John Thys/Pool AFP/AP/dpa

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Die Empörung über den Austritt der Türkei aus einem Abkommen gegen Gewalt an Frauen ist groß. Der Schritt dürfte kalkuliert sein.

Der Austritt der Türkei aus einem internationalen Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt hat große Empörung ausgelöst. Aus Protest gingen in Istanbul nach Angaben der Veranstalter Tausende Menschen auf die Straße.

Die Demonstrantinnen skandierten: «Nehmt die Entscheidung zurück, wendet die Konvention an». Auch in anderen Landesteilen gab es Kundgebungen. Die Bundesregierung sprach von einem falschen Signal an Europa, aber vor allem an die Frauen in der Türkei. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte in einer Erklärung völliges Unverständnis für die Entscheidung und forderte Ankara dazu auf, diese rückgängig zu machen. Türkische Oppositionsvertreter warnen vor einem drohenden Kulturkampf.

Die Bundesregierung sprach von einem falschen Signal an Europa, aber vor allem an die Frauen in der Türkei. Die EU äußerte in einer Erklärung völliges Unverständnis für die Entscheidung und forderte Ankara dazu auf, diese rückgängig zu machen. US-Präsident Joe Biden kritisierte den Rückzug aus dem Pakt als «sehr enttäuschend». Türkische Oppositionsvertreter warnen vor einem Kulturkampf. Erdogans Büro wies die Vorwürfe zurück und beteuerte, Frauen würden weiter geschützt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte in der Nacht zu Samstag per Dekret den Austritt aus der sogenannten Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen verkündet. Juristen kritisieren allerdings, der Präsident könne nicht im Alleingang über den Ausstieg entscheiden. Das internationale Abkommen war 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen und dazu einen Rechtsrahmen zu schaffen. Ziel ist eine «echte Gleichstellung von Frauen und Männern».

Erdogan selbst hatte die Konvention in Istanbul - dem Ort der finalen Einigung - unterschrieben, damals noch als Ministerpräsident. Später wurde sie in der Türkei entsprechend ratifiziert. Frauenorganisationen kritisieren aber auch, dass Gesetze, die auf Basis der Konvention verabschiedet wurden, von Gerichten nicht konsequent umgesetzt wurden.

Eines dieser Gesetze trägt die Nummer 6284 und berechtigt Betroffene laut der Organisation «Mor Cati» etwa dazu, Schutz in einem Frauenhaus, temporären Schutz durch Begleitungen, eine einstweilige Verfügung oder finanzielle Unterstützung zu bekommen. Millionen von Frauen, Kindern und LGBT-Menschen, also Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern, würden diese lebensrettenden Maßnahmen nun entzogen, sagte der Anwalt Veysel Ok der Deutschen Presse-Agentur.

Der Jurist und Abgeordnete der oppositionellen Deva-Partei Mustafa Yeneroglu kritisierte, dass Erdogan den Austritt per Dekret verkündete, obwohl er das Parlament hätte befragen müssen. Mit dem Dekret wähle der Präsident den Weg kalkulierter gesellschaftlicher Spaltung, sagte der in Deutschland aufgewachsene Yeneroglu der dpa. Er war 2019 aus Erdogans AKP ausgetreten. Yeneroglu wertet das Vorgehen als «Machtdemonstration», mit der Erdogan seine religiös-konservative Machtbasis auf sich einschwören wolle, und als «die Vorbereitung eines Kulturkampfes». Viele Menschen im Land seien der Überzeugung, dass die Istanbul-Konvention die Lebensweise homosexueller Menschen fördere - und sähen das als Bedrohung «traditioneller Werte», sagte Yeneroglu.

Erdogans Kommunikationsdirektion erklärte am Sonntagabend, die Istanbul-Konvention sei von Menschen vereinnahmt worden, «die versuchten, Homosexualität zu normalisieren - was unvereinbar mit den sozialen und familiären Werten der Türkei ist.» Der Austritt aus der Konvention bedeute keineswegs, dass die Türkei den Schutz von Frauen aufs Spiel setze. Die rechtlichen Mechanismen dazu bestünden weiterhin.

Die Diskussion um einen möglichen Austritt hatte im vergangenen Jahr eine konservativ-religiösen Plattform losgetreten. Deren Vertreter sahen Religion, Ehre und Anstand durch das Abkommen gefährdet.

Der türkische Vizepräsident, Fuat Oktay, verteidigte die Entscheidung. Er twitterte, die Türkei müsse andere nicht imitieren. Die Lösung für den Schutz von Frauenrechten «liegt in unseren eigenen Bräuchen und Traditionen».

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu dagegen reagierte empört und auch international hagelte es Kritik. «Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen», erklärte Kilicdaroglu in einer Videobotschaft. Die Organisation Frauenkoalition Türkei schrieb in einer Stellungnahme, Austritt bestärke Mörder von Frauen, Belästigter und Vergewaltiger.

Der Europarat bedauerte den Austritt. Damit würden die Türkei und türkische Frauen ein «wichtiges Instrument» verlieren, hieß es in einer am Sonntag in Straßburg veröffentlichten Erklärung. Zugleich appellierte der Europarat an die Regierung in Ankara, das internationale System zum Schutz von Frauen nicht zu schwächen.

Der Europarat bedauerte den Austritt. Damit würden die Türkei und türkische Frauen ein «wichtiges Instrument» verlieren, hieß es in einer am Sonntag in Straßburg veröffentlichten Erklärung. Zugleich appellierte der Europarat an die Regierung in Ankara, das internationale System zum Schutz von Frauen nicht zu schwächen. In einer vom Weißen Haus in Washington verbreiteten Mitteilung hieß es: «Dies ist ein entmutigender Rückschritt für die internationale Bewegung, die Gewalt gegen Frauen weltweit zu beenden.»

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erklärte, Frauen verdienten einen starken Rechtsrahmen, um sie zu schützen. Das Auswärtige Amt zweifelte zudem die Ernsthaftigkeit eines «Aktionsplan für Menschenrechte» an, den Erdogan Anfang März vorgestellt hatte. Der Präsident hatte darin auch angekündigt, Frauen besser vor Gewalt zu schützen.

Nach Angaben von «Wir werden Frauenmorde stoppen» wurden allein im vergangenen Jahr mindestens 300 Frauen in der Türkei ermordet. Erst kürzlich heizten die Vergewaltigung und der Mord an einer 92-Jährigen sowie das Video einer brutalen Tat, bei der ein Mann seine Ex-Frau verprügelte, die Diskussion um Gewalt gegen Frauen an.

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