«Pestminster»

Skandale um sexuelle Übergriffe setzen Johnson zu

Skandale um sexuelle Übergriffe setzen Johnson zu

Skandale um sexuelle Übergriffe setzen Johnson zu

dpa
London
Zuletzt aktualisiert um:
Taumelt von einem Skandal zum nächsten: Der britische Premier Boris Johnson. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

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Der britische Premier taumelt von einem Skandal zum nächsten. Kaum hat Boris Johnson «Partygate» einigermaßen abgeschüttelt, kocht «Pestminster» wieder hoch. Es geht um sexuelle Nötigung im Parlament.

Als ausgerechnet der «Porno-Abgeordnete» Neil Parish den britischen Premierminister über Moral in der Politik belehrte, war klar, dass Boris Johnson ein Problem hat. Der 58-Jährige hatte mal wieder so gehandelt, wie es seine Art ist: Ein Skandal taucht auf, der Premier will den Fall aussitzen. Aber unter dem Druck der Öffentlichkeit wird er doch zum Handeln gezwungen.

Das Problem: Während Johnson seinen Parteifreund Parish, der beim Pornogucken im Sitzungssaal beobachtet worden war, direkt aus dem Parlament drängte, durfte Christopher Pincher seinen Sitz zunächst behalten. Der bisherige stellvertretende Chef-Einpeitscher («Whip») von Johnsons Konservativer Partei hatte - schwer betrunken - zwei Männer begrapscht. Erst nach heftigen Protesten wurde Pincher dann doch fürs Erste aus der Fraktion ausgeschlossen, aber nur so lange die Ermittlungen laufen. Nicht nur Parish sprach daraufhin von «Doppelmoral».

Willkommen in «Pestminster», wie der «verpestete» Londoner Parlamentsbezirk Westminster abschätzig genannt wird. Die Fälle Pincher und Parish sind dabei nur die jüngsten Aufreger. Vor allem Johnsons Tories taumeln seit Jahren von einem Skandal um sexuelle Belästigung in den nächsten. Der Ex-Abgeordnete Charlie Elphicke wurde wegen sexueller Übergriffe ebenso zu einer Haftstrafe verurteilt wie der Ex-Parlamentarier Imran Khan wegen sexuellen Missbrauchs eines 15-Jährigen. Zuletzt wurde ein namentlich bisher nicht genannter Tory-Parlamentarier wegen Vergewaltigung festgenommen. Er ist gegen Kaution auf freiem Fuß. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Weder Gesetz noch Anstandsregeln gelten

«Belästigung, Sexismus und Frauenfeindlichkeit: 5 Jahre "Pestminster"», stellte die «Huffington Post» jüngst fest. Und die Zeitschrift «Politico» konstatierte im April, es scheine, das Land durchlaufe seit 2017 alle paar Monate «die gleiche Scharade»: Dem Schock über Enthüllungen folgten leere Versprechen von «null Toleranz» und Reformen. «Nur dass sich nichts ändert und der Kreislauf ein paar Monate später wieder beginnt.» Die Zeitschrift «New Statesman» kommentierte: «Gewählte Vertreter mit viel Macht scheinen zu glauben, dass ihr Status im Parlament bedeutet, dass weder das Gesetz noch die Regeln des menschlichen Anstands für sie gelten.»

Gegen rund 9 Prozent der 650 Unterhausmitglieder laufen polizeiliche Ermittlungen wegen sexuellen Fehlverhaltens. Auch Regierungsmitglieder werden auffällig. Dass Überwachungskameras dokumentierten, wie der verheiratete Gesundheitsminister Matt Hancock in seinem Büro mit einer engen Mitarbeiterin knutschte, zählt noch zu den harmlosen Vorgängen in Westminster. Hancock trat zurück.

In einer deutlich kompromittierenden Situation soll Johnson selbst 2018 in seinem Büro mit seiner heutigen Ehefrau Carrie ertappt worden sein, damals als Außenminister. Mehrere Medien berichteten, der Premier habe mehrfach versucht, seiner Gefährtin zu lukrativen Regierungsjobs zu verhelfen. Downing Street bestreitet das.

Vom wichtigsten Berater zum größten Feind

Auch im «Pestminster»-Skandal ist Johnson mittendrin. Er bestreitet, von den seit langem herumschwirrenden Vorwürfen gegen «Whip» Pincher gewusst zu haben. Sein einst wichtigster Berater Dominic Cummings, mittlerweile sein größter Feind, widersprach. Der 58-Jährige lüge mal wieder, twitterte Cummings. Vielmehr habe Johnson lange vor der Ernennung gewitzelt, der Abgeordnete sei «Pincher vom Namen und Pincher von Natur». «Pincher» bedeutet auf Deutsch «Kneifer».

Der neue Skandal kommt für Johnson zur Unzeit. Eben erst hat er die «Partygate»-Affäre um illegale Corona-Feiern in der Downing Street hinter sich gelassen. Zugegeben, mit ziemlich blauen Flecken wie einem nur knapp gewonnenen parteiinternen Misstrauensvotum. Nun könnte sein Umgang mit «Pestminster» den Premier weitere Unterstützung in den eigenen Reihen kosten.

Zudem ist eine echte Reform nicht absehbar. «Es ist einfacher, über die Absurdität zu lachen, dass ein Abgeordneter behauptet, er habe versehentlich einen Porno angeklickt, als er nach Traktoren googelte, als eine Kultur zu entblättern, die seine Kollegen ermutigt, ihre Mitarbeiter zu belästigen», kommentierte «New Statesman». Dabei müsse zunächst anerkannt werden, wie schlimm und inakzeptabel die Situation sei. «Und wie sehr wir uns schämen sollten, dass Westminster so sehr bekannt ist für sexuelles Fehlverhalten, dass wir ein eigenes Wort dafür geschaffen haben.» Klar ist: «Pestminster» ist nicht vorbei.

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