Saporischschja

Ukrainische Akw: Schutz vor Krieg ist nicht eingeplant

Ukrainische Akw: Schutz vor Krieg ist nicht eingeplant

Ukrainische Akw: Schutz vor Krieg ist nicht eingeplant

dpa
Kiew
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IAEO-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi spricht bei einer Pressekonferenz im März über die Situation im Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine. Foto: Lisa Leutner/AP/dpa

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In der Ukraine ist Europas größtes Atomkraftwerk unter Beschuss geraten. Weltweit sind solche Anlagen gegen viele Gefahren gewappnet. In einem Krieg drohen jedoch weitere, schwer kalkulierbare Risiken.

Die Kampfhandlungen um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja lassen international Alarmglocken schrillen. Obwohl im größten Akw Europas keine Radioaktivität freigesetzt worden ist, sieht der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, die «sehr reale Gefahr einer nuklearen Katastrophe» im Kriegsgebiet.

Bereits 1986 ereignete sich in der Ukraine ein verheerender Atomunfall, der als die größte Atomkatastrophe der zivilen Nutzung der Kernkraft gilt. Ein Block des damals noch sowjetischen Kraftwerks Tschernobyl explodierte. Verstrahlte Landstriche um den Meiler wurden gesperrt. Es gab Tausende Tote und Verletzte. Zehntausende Menschen wurden zwangsumgesiedelt. Die vorübergehende Besetzung von des stillgelegten Akw zu Beginn der russischen Invasion löste kurzzeitig Sorgen um die Sicherheit der Atomabfälle vor Ort aus. Wie sicher sind die andern ukrainischen Kernkraftwerke?

Wie ist die Lage in Saporischschja? Wer hat dort die Kontrolle?

Mehrfach wurde das Kraftwerksgelände übereinstimmenden Angaben von Russen und Ukrainern zufolge in den vergangenen Tagen beschossen. Moskau und Kiew geben sich gegenseitig die Schuld. Unabhängig überprüfbar sind die Vorwürfe beider Seiten nicht - auch, weil noch immer keine IAEA-Experten auf das von Russland besetzte Gebiet vorgelassen wurden. Die kritische Infrastruktur des Kraftwerks soll weiter intakt sein, doch durch den Beschuss sind nicht nur die Reaktoren potenziell gefährdet, sondern auch das kraftwerkseigene Atommüllzwischenlager.

Wie geht es dem Personal im besetzten AKW?

Im Kraftwerk arbeitet das ukrainische Personal fünf Monate nach der Eroberung durch russische Truppen weiter. Diese Mitarbeiter werden allerdings ukrainischen Angaben zufolge von Mitarbeitern des russischen Atomkonzerns Rosatom beaufsichtigt. Auf dem Kraftwerksgelände sollen sich zudem bis zu 500 russische Soldaten aufhalten und Gebäude auch als Lager für Militärtechnik nutzen. Auf der anderen Seite eines nahe gelegenen Stausees sind ukrainische Streitkräfte stationiert. IAEA-Chef Grossi warnte zuletzt, dass russische Streitkräfte keinen Druck auf das Personal ausüben dürfen. Denn mit dem Dauerstress steigt aus Sicht der IAEA auch das Risiko für Bedienungsfehler, die die Sicherheit des Akw gefährden könnten. Können solche Anlagen militärischen Angriffen widerstehen?

«Grundsätzlich sind militärische Angriffe nicht Teil des Designs von Kernkraftwerken», sagt Risikoforscher Nikolaus Müllner von der Universität für Bodenkultur in Wien. Akw sind so gebaut, dass sie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürzen oder Terrorattacken standhalten können. Schutz gegen gezielte militärische Zerstörung sei kaum möglich. Der Wissenschaftler, der derzeit die Gefahren für ukrainische Akw untersucht, geht allerdings davon aus, dass ein versehentlicher Beschuss mit üblichen Waffen, wie er wahrscheinlich in Saporischschja stattgefunden hat, noch zu keinen fatalen Schäden am Reaktor-Schutzbehälter führt. Können auch ohne Schäden am Reaktor Sicherheitsmängel entstehen?

Die Zerstörung der externen Stromversorgung der Anlage könnte laut Müllner im schlimmsten Fall zu einer Kernschmelze führen. Falls die Notfallgeneratoren vor Ort intakt bleiben, lassen sich die Reaktoren noch einige Tage weiterkühlen. Wenn auch diese Aggregate oder die Dieselvorräte für ihren Betrieb zerstört werden, bleiben laut Müllner maximal 15 Stunden bis zum Atomunfall. Eine weitere Gefahr drohe durch Beschädigung von Dampfleitungen. Auch in diesem Fall sei das Kühlsystem in Gefahr. Die IAEA warnt außerdem davor, dass Sicherheitssysteme des Akw zerstört werden könnten und dass Einsatzpläne für den Fall eines Atomunfalls im Gefecht nicht mehr greifen. Seit dem Beschuss sind in Saporischschja bereits einige Strahlenmessgeräte defekt.

Wie ist die Sicherheitslage der anderen Akw in der Ukraine?

Die übrigen drei aktiven ukrainischen Atomkraftwerke sind derzeit nicht durch direkte Kampfhandlungen gefährdet. Am nahesten kamen russische Truppen bei ihrem Vormarsch im März mit knapp 100 Kilometern dem Kraftwerk im ebenfalls südukrainischen Gebiet Mykolajiw. Nach ihrem Rückzug sind sie jetzt aber etwa 140 Kilometer entfernt. Potenziell gefährdet durch russischen Beschuss von belarussischem Staatsgebiet aus ist das Kraftwerk Riwne in der Nordwestukraine. Es liegt nur knapp 65 Kilometer von der Grenze zum autoritär geführten und mit Russland verbündeten Belarus entfernt. Von dort wurden in den vergangenen Monaten mehrfach Raketen auf die Ukraine abgefeuert.

Wie würde sich ein Ausfall des Akw Saporischschja auf die ukrainische Stromversorgung auswirken?

Ukrainischen Angaben zufolge waren bis zum Beschuss am Wochenende drei der insgesamt sechs Reaktoren mit einer Nettoleistung von 2850 Megawatt in Betrieb. Einer der Blöcke wurde dann im Zuge einer Notabschaltung heruntergefahren. Dennoch exportierte die Ukraine am Montag weiter 660 Megawatt nach Polen, Rumänien sowie in die Republik Moldau und die Slowakei. Aufgrund des kriegsbedingten Wirtschaftseinbruchs um 30 bis 50 Prozent ist der ukrainische Strombedarf massiv zurückgegangen. Daher könnte das Land zumindest im Sommer einen Komplettausfall wohl kurzfristig verkraften. Für die Heizsaison im Winter ist jedoch wieder von erhöhtem Strombedarf auszugehen. 2021 stellten die Atomkraftwerke der Ukraine mehr als die Hälfte der Elektroenergieversorgung sicher.

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