Stadtgeschichte

Flensburg bittersüß in Zeilen und Streifen

Flensburg bittersüß in Zeilen und Streifen

Flensburg bittersüß in Zeilen und Streifen

Charles Nouledo
Flensburg
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Die Geschichte Flensburgs hängt mit der Geschichte des Sklavenhandels zusammen. Foto: Flensburger Schifffahrtsmuseum

Wie eng Flensburg in Literatur und Film mit der Weltgeschichte zusammenhängt, zeigte ein Vortrag der Europa-Universität. Ein Gastbeitrag von Medienwissenschaftler und Journalist Charles Nouledo.

Universitätspräsident Werner Reinhart weiß etwas Seltsames über Flensburg: „Es ist der einzige Ort in Deutschland, den ich kenne, wo der Regen nicht von oben nach unten fällt.“ So scherzt er über das stürmische Ostseewetter in einem Dokumentarfilm von Quinka Stoehr und Fredo Wulf über Flensburg, der am Donnerstag bei einem Vortrag im Schifffahrtsmuseum gezeigt wurde.

Zum Literatur- und Filmabend von Professor Matthias Bauer kamen rund 70 Besucher aus Universität und Stadt. Sie lachten bei Witzen, Petuh und Plattdeutsch, verstummten aber sichtlich bedrückt, als es um die Untaten der Nazis in Flensburg und um den Sklavenhandel ging.

Professor Matthias Bauer der Europa-Universität Flensburg und die Kieler Dokumentarfilmer Quinka Stoehr und Fredo Wulf erklären die Flensburger Weltgeschichte. Foto: Nouledo

Streifzüge durch die „Literaturlandschaft der Flensburger Förde“, wie sie Professor Bauer von der Europa-Universität in seinem Vortrag vornahm, zeigen ein vielfach umkämpftes und doch anheimelndes Gebiet.

Siegfried Lenz war von dem Ort angetan, er schrieb 1966: „Welcher nordische Gott auch die Flensburger Förde erschuf – er hatte den Blick des Amateurphotographen. Ein früher Liebhaber der Postkarte war hier am Werk“. Doch Flensburgs Rolle als Flottenstützpunkt bestimmte auch das Stadtbild. In der Förde lag ein Nato-Tanker: „Der Tanker befleckt die Idylle. Er versaut die Postkarte“, bedauerte Lenz.

Flensburg bei Lenz, Storm und H. C. Andersen

Gefallen fand die Stadt auch bei anderen Autoren schon vor Lenz. Im 19. Jahrhundert übernachtete der dänische Autor Hans Christian Andersen gerne im damaligen Hotel Rasch beim Nordertor. Heute ist er dort auf den „150 literarischen Metern“ Richtung Innenstadt verewigt.

Auch der Husumer Theodor Storm war zuweilen in Flensburg. 1875 verfasste er eine Erzählung über, wie vermutet wird, das heutige Haus Nummer 48 in der Großen Straße. In Storms Geschichte herrschen unheimliche Zustände in dem Haus: „Das Haus stand am hellen Tage und mitten in der belebten Straße wie ein Todesschweigen.“

Doch: „Nachts, wenn es anderswo still geworden, dann werde es drinnen unruhig“, heißt es. Bauer erkennt in einer Szene der Erzählung die Übertragung einer Vorlage von Charles Dickens in eine gespenstische Flensburger Szenerie.

Welcher nordische Gott auch die Flensburger Förde erschuf – er hatte den Blick des Amateurphotographen.

Siegfried Lenz 1966

Gerade als Stadt im Grenzgebiet besaß Flensburg hohe politische Brisanz für einen Autor wie Theodor Fontane. 1890 siedelte er eine Episode seines Romans „Unwiederbringlich“ in der Fördestadt an. Mit der Geschichte einer unglücklichen Ehe, die mit dem Selbstmord der Frau endet, versetzt Fontane eine reale Begebenheit aus Pommern an die Flensburger Förde.

Doch Fontane ging es um die ganze Grenzregion. So war in Sachen Schleswig-Holstein das Verhältnis zwischen Fontane und Storm angespannt. „Storm war weder ein besonderer Freund der dänischen noch der deutschen Herrschaft“, erklärt Bauer. Fontane hingegen begeisterte sich für den deutschen Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864. Und er meinte, „ein bisschen über den geistigen Provinzialismus von Theodor Storm herziehen zu müssen“, so Bauer.

Ausschnitt vom Publikum aus Uni und Stadt Foto: Nouledo

Wie Fontane schwärmte auch die Hamburgerin Elise Averdieck 1906 vom „rühmlichen Sieg“ in Düppel und Sonderburg unter Feldmarschall „Papa“ Wrangel über die Dänen. Doch rund 75 Jahre später gerät diese Haltung zur Parodie, als der Rostocker Walter Kempowski 1978 in seinem Roman „Aus großer Zeit“ Averdiecks Siegeseuphorie wiederholt und die körperliche Ertüchtigung der Heranwachsenden aufgreift.

Prozessakten als Romanvorlage

Wohin Kriegsbegeisterung führt, zeigt der Satruper Jochen Missfeldt in seinen Romanen „Solsbüll“ von 1989 und „Steilküste“ von 2004: und zwar in die Katastrophe.

Nach Hitlers Selbstmord blieb sein Nachfolger Dönitz, der in Flensburg residierte, auch unbarmherzig. Er ließ junge Soldaten, die nach der bedingungslosen Kapitulation nach Hause wollten, noch als Deserteure erschießen. Selbst dem Richter sei nicht aufgefallen, dass die Angeklagten keine Verteidiger hätten, heißt es in den Prozessakten, die Missfeldt für seinen Roman „Steilküste“ durchgearbeitet hat.

Das Ende der Naziherrschaft bildet den Punkt, an dem beim Vortrag Literatur und Film nahtlos ineinander übergingen.

Denn eine prominente Figur im anschließend gezeigten Film wusste als Kind in der Sowjetunion nicht, dass es überhaupt eine Dönitz-Regierung in Flensburg gab. Sie kannte nur den 9. Mai 1945 als das Datum, an dem der Zweite Weltkrieg für die Sowjetunion zu Ende ging. Von einem Nachfolger Hitlers, der erst später am 23. Mai 1945 verhaftet wurde, hatte sie nichts gewusst.

Das gibt Sweltana Kretzschmar über sich preis, die von 2013 bis 2018 als Stadtpräsidentin das Amt des „höchsten Repräsentanten der Stadt“ bekleidete.

Weitere Biografien kommen in dem knapp 35-minütigen Dokumentarfilm „Flensburger Welt-Geschichten“ der Kieler Quinka Stoehr und Fredo Wulf vor.

„Ziel war es, einen Einblick in die Geschichte, Kultur und Mentalität der Menschen in Flensburg zu geben."

Matthias Bauer

Mit dem Film wollen sie einen Ausschnitt der „verschiedenen Sprachen und Menschen“ in der heutigen Fördestadt hör- und sichtbar machen, erklärt Stoehr. Die Machart ist unverkrampft.

Laut Fredo Wulf habe sich die Erzählweise des Films aus den Dreharbeiten entwickelt: „Wir haben uns vom Material inspirieren lassen“, berichtet er. Das Ergebnis ist ein Querschnitt heutiger Geschichten an der Förde.

Der Film ist 2017 nach einer Idee von Professorin Iulia Patrut und Matthias Bauer für die Jahrestagung der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik an der Europa-Universität entstanden. „Ziel war es, einen Einblick in die Geschichte, Kultur und Mentalität der Menschen in Flensburg zu geben“, erklärt Bauer.

Das Ergebnis habe den Nerv der Zeit getroffen: „Beim Kongress gab es viele Kollegen, die sich mit dem Postkolonialismus beschäftigen. Der Film zeigt Flensburg in einer Spitzenrolle bei der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte. Das kam sehr gut an“, berichtet Professorin Patrut.

Die Geschichte Flensburgs hängt mit der Geschichte des Sklavenhandels zusammen. Foto: Flensburger Schifffahrtsmuseum

Doch ursprünglich wollten die Macher, wie Stoehr erklärt, nur Themen „antippen“, die heute in Flensburg diskutiert werden. Zum Beispiel das Thema „dänische Minderheit“.

Rund 20 Prozent der Flensburger sind dänischer Abstammung. Hohe Repräsentanten in dem Film sind Anke Spoorendonk, Justizministerin des Landes Schleswig-Holstein von 2012 bis 2017, und der ehemalige dänische Generalkonsul Hendrik Becker-Christensen.

Für den Konsul gibt es heute, knapp einhundert Jahre nach der Volksabstimmung von 1920, kein besseres Symbol für das harmonische Miteinander in Flensburg als die Statue des Idstedt-Löwen. Für ihn  ist es „ein Zeichen von Frieden und Vertrauen zwischen Dänen und Deutschen“.

Aus dem Dokumentarfilm: Es gibt wohl kein besseres Zeichen von Frieden und Versöhnung zwischen Dänen und Deutschen als den Idstedt-Löwen in Flensburg. Sagt Generalkonsul Hendrik Becker-Christensen. Foto: Stoehr/Wulf

Für eine weltoffene Heimat setzen sich auch die Kulturschaffenden, die im Film zu Wort kommen, ein. So ist sich die Flensburger Schauspielerin Renate Delfs bei einem ihrer letzten Auftritte vor der Kamera sicher: „Es ist hier alles Heimat, ob dänisch oder deutsch."

Delfs bleibt dafür bekannt, dass sie gerne Petuh, den Flensburger Dialekt, schnackte. Eine Kostprobe gibt sie mit Beispielen wie „Kinder abziehen“ für „Kinder ausziehen“ oder „Kinder einlegen“ für „Kinder zu Bett legen“.

Da steht Delfs ihr Künstlerkollege Rainer Prüß mit Plattdeutsch in nichts nach. Für Kunst oder Poesie hat er sein eigenes Rezept: „Um een Form to finden, wat een jeder verstoat, da hölpt mi platt denken“, verrät er.

Flensburger wollten nichts wissen von Sklaverei

Einfach sind seine Konzepte, keineswegs jedoch gefällig. So zum Beispiel sein Plakat zu der Ausstellung „Der Tod und das Meer“ über den früheren Handel der Flensburger Seefahrer mit afrikanischen Sklaven. In seinem Gedicht „Zuckerkram“ legt er nach: Wenn der Zucker aus den Sklavenplantagen in der Förde ankam (hier übersetzt), „da freuten sich (die Flensburger) und wollten nichts wissen von Sklaverei und Morden.“ – „Und diese Tradition die kannst du heute noch spüren.“

 

Jungen im Rumfass Foto: Flensburger Schifffahrtsmuseum

Um den Zusammenhang zwischen Sklavenhandel, Rum und Zucker in Flensburg zu verstehen, brauche man kein Wissenschaftler zu sein, betont die jamaikanische Kulturwissenschaftlerin Dr. Imani Tafari-Ama in dem Film: „Wir müssen das Leugnen beenden.“

So sieht Tafari-Ama den Flensburger Idstedt-Löwen auch kritisch als Fortsetzung des Kolonialismus: „Gibt es Löwen in Europa?“, fragt sie. „Wieder mal zeigt dies, wie Afrika um seine Machtsymbole beraubt wurde.“

Weitere Figuren in dem Film beschäftigen sich mit Sprache und sozialem Miteinander. Der türkischstämmigen Dolmetscherin Hülya Özdemir geht es um das Flensburger Hochdeutsch im Unterschied zum Hamburger Hochdeutsch.

Matthäus Weiß vom Verband der Sinti und Roma kann in Vorträgen an der Universität seine Muttersprache weitergeben – und sich starkmachen für Versöhnung. Die Nazis haben 1935 seine Angehörigen ermordet, doch er sagt: „Wir hegen keinen Hass. Und so versuchen wir auch unsere Kinder zu erziehen.“

So geht es im Dokumentarfilm in gewisser Weise auch um das Flensburg von morgen. Daran arbeitet gerade die Europa-Universität im Sinne eines weltoffeneren Europas. Professor Dr. Werner Reinhart, seines Zeichens Amerikanist, leitet die Universität. Er ist sicher: Wenn man den amerikanischen Traum kennt, dann weiß man, „wie notwendig wir einen europäischen Traum haben“.

Aus dem Dokumentarfilm: Die Jamaikanerin Imani Tafari-Ama kritisiert den Idstedt-Löwen als Fortsetzung des Kolonialismus. Ein Machtsymbol aus Afrika sei dafür missbraucht worden. Foto: Stoehr/Wulf

Eigentümlich verschollen wirkt diese Gegend, einsam, als wäre hier die Welt zu Ende, oder als wäre sie am Anfang, denn irgendwo muß sie doch beginnen …

Emmy Ball-Hennings, Schriftstellerin, 1938

So vielstimmig wie der Film waren auch die Meinungen im Publikum. Das schöne Stadtbild käme nicht zur Geltung, fand eine Zuschauerin.

Für andere wiederum sei der Titel richtig, denn es gehe um die Verbindung zwischen Stadt- und Weltgeschichte, wie das Kleine mit dem Großen zusammenhängt. Und wie das lokale Geschehen am Anfang oder am Ende globaler Entwicklungen stehe.

Schon die in Flensburg geborene Schriftstellerin Emmy Ball-Hennings wusste 1938: „Eigentümlich verschollen wirkt diese Gegend, einsam, als wäre hier die Welt zu Ende, oder als wäre sie am Anfang, denn irgendwo muß sie doch beginnen …“

 

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