Leitartikel
„Reichsgericht als TV-Show – oder nicht?“
Reichsgericht als TV-Show – oder nicht?
Reichsgericht als TV-Show – oder nicht?
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In den beiden Vorschlägen Inger Støjbergs, selbst Hauptperson des im September beginnenden Reichsgerichtsverfahrens, die Verhandlungen live im Fernsehen zu übertragen und die Entscheidung der einzelnen Richter offenzulegen, liegen erfrischende Möglichkeiten und wohl zu bedenkende Risiken gleichzeitig, meint Nils Baum.
Inger Støjberg ist zwar inzwischen nicht mehr Mitglied der Partei Venstre, aber sie ist immer noch Abgeordnete im Folketing und hat damit die Möglichkeit, Gesetzesvorschläge einzubringen.
Und von dieser Möglichkeit will sie in der kommenden Woche just zweimal Gebrauch machen. Das Delikate daran ist allerdings, dass die Motivation für beide Gesetzesinitiativen ihrer eigenen Causa entspringt.
Støjberg schlägt nämlich vor, dass das Reichsgerichtsverfahren, in dem sie ab September die Hauptperson darstellt, live im Fernsehen übertragen werden soll. Dann wird sie Angesicht zu Angesicht mit 26 Richtern des Höchsten Gerichts (højesteretsdommere) und politisch ernannten Richtern in einem Saal sitzen, um im Falle der gesetzwidrigen Anordnung zur Trennung minderjähriger Asylpaare im Jahr 2016 Frage und Antwort zu stehen.
Ihr zweiter Vorschlag zielt darauf ab, dass die Sichtweise der 26 Richter auf den Fall offen dargelegt werden soll, sodass klar ersichtlich wird, welcher Richter wie abgestimmt hat.
Die Angeklagte und Initiatorin selbst begründet ihre beiden Vorschläge vor allem damit, dass der gemeine Bürger womöglich nur einmal im Leben die Chance habe, ein Reichsgerichtsverfahren mitverfolgen zu können. Außerdem sichere eine Fernsehübertragung volle Transparenz, da alle den gesamten Prozess mitverfolgen können, und nicht nur die Teile, über die die Presse berichtet. Und außerdem habe sie nichts zu verbergen.
Als weiteres Argument führt Støjberg zudem den politischen Charakter des Reichsgerichts ins Feld, da die Hälfte der Richter politisch ernannt wird und das Folketing als Anklageinstanz auftritt. Damit sei das Verfahren in etwa eine Verlängerung des politischen Instruments der Anhörung, die oftmals von den Ausschüssen des Parlaments genutzt wird, um sich genauere Informationen zu einer Thematik einzuholen, bevor konkrete Empfehlungen für den weiteren Gesetzgebungsprozess abgegeben werden. Und derartige Anhörungen würden schließlich auch im Fernsehen gezeigt.
Auf der anderen Seite steht der Vorsitzende der Dänischen Richtervereinigung, Mikael Sjöberg, der keine große Begeisterung für Støjbergs Vorhaben zeigt. Sein Argument lautet, dass es der dänischen Rechtspraxis und Tradition entgegenstehe, besondere Regeln für Einzelverfahren zu schaffen. Außerdem gelte es, auf die Angestellten im betroffenen Ministerium Rücksicht zu nehmen, die in der Angelegenheit als Zeugen auftreten müssen. Für sie ist es nämlich verpflichtend, vor dem Reichsgericht auszusagen. Aber sollen sie deswegen auch für alle sichtbar im Fernsehen zu sehen sein?
„Volle Transparenz“, lautet die Begründung der Urheberin der Vorschläge. „Schutz der Zeugen und der Rechtssicherheit“, heißt es auf Seite der Juristen. Was also ist zu tun?
Ein öffentliches Interesse genießen im Grunde genommen alle rechtlichen Verfahren. Aus diesem Grunde sind Verhandlungen auch grundsätzlich offen für Publikum und zugänglich für die Presse. Das gilt auch für das Reichsgericht. Nur muss sich nach den bisherigen Gepflogenheiten ein interessierter Bürger aus Apenrade dann auf den Weg nach Kopenhagen machen, um leibhaftig der Verhandlung folgen zu können.
Eine Übertragung im Fernsehen hingegen wird kaum verhindern können, dass die Aussagen durch die große Medienmaschinerie gewälzt werden und sich eine Schar von Experten dann auf allen Ebenen und sämtlichen Kanälen daran abarbeitet. Am Ende des Tages könnte das Reichsgericht so zur TV-Talkshow werden. Das zumindest ist die Befürchtung Mikael Sjöbergs, und er findet, dass die Angelegenheit dafür viel zu Ernst sei, und irgendwie möchte man ihm recht geben.
Dennoch gilt es zu bedenken, dass, da es sich bei Støjbergs Ansinnen um Gesetzesvorschläge handelt, auch einzig und allein das Folketing die Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung selbiger treffen kann. Ob wir das Verfahren gegen Støjberg dann alle live im Fernsehen mitverfolgen können oder nicht, hängt also davon ab, wofür sich die Mehrheit im Folketing ausspricht. Genauso wie die Frage, ob Støjberg vor ein Reichsgericht gestellt werden solle, vom Folketing entschieden wurde.
Somit bleibt es also den demokratisch gewählten Volksvertretern überlassen, eine Entscheidung zu fällen. Vielleicht bietet gerade der seltene Fall eines Reichsgerichts eine gute Gelegenheit, die Wirkung einer öffentlichen Fernsehübertragung einer solchen juristischen Causa zu testen.
Auf der anderen Seite ist die Rechtssicherheit ein hohes Gut. Die Vorstellung, dass das Strafverfahren eines Angeklagten vor dem Gericht in Sonderburg öffentlich im Fernsehen oder gar auf einem eigenen Streamingkanal des Gerichts übertragen wird, wirkt irgendwie beklemmend.
Vielleicht ist der Mittelweg wieder einmal die beste Lösung. Dies würde für die Beibehaltung der momentanen Gepflogenheiten sprechen. Öffentlicher Zugang zum Reichsgericht und öffentliche Berichterstattung ja, aber keine live-Übertragungen. Dies sichert, dass die Ereignisse journalistisch eingeordnet und analysiert werden.
Und hier kann jetzt der nächste Einwand kommen. Wir haben ihn in den vergangenen vier Jahren oft aus dem Munde des US-amerikanischen Präsidenten gehört: „Fake-News“ lautet die Anklage gegen die etablierte Presse, mit geheimen Mächten gemeine Sache zu machen.
Womit wir bei der Frage nach dem legitimen Gatekeeper angekommen sind. In Zeiten vor Online-Blogs und Social Media Portalen war es der Chef vom Dienst, der für die Auswahl der Themen in der Zeitung am nächsten Tag oder in der Nachrichtensendung am Abend verantwortlich zeichnete. Und der auch dafür sorgte, dass das Thema irgendwie eingeordnet wurde. Sprich: jemand, der für Orientierung sorgte.
In der vergangenen Dekade sind wir dann jedoch alle zu unseren eigenen Chefs vom Dienst geworden, da wir online nach unseren persönlichen Interessen und Präferenzen Themenbereiche auswählen können, die uns besonders interessieren, und die uns dann vorwiegend angezeigt werden, sei es auf individualisierten Nachrichtenplattformen oder auf Facebook. Das Problem daran: es sind intransparente Algorithmen, die die Filterung der Themen automatisiert vornehmen und uns in unsere eigene Filterblase schicken. Die Einordnung bleibt uns dann selbst überlassen.
So ist es auch bei einem ungefiltert gesendeten Gerichtsverfahren. Es nimmt uns als Betrachter von außen ein Stück weit die Orientierung und Einordnung der Geschehnisse durch professionelle Berichterstatter und bürdet uns somit selbst ein größeres Maß an Eigenverantwortung auf. Dadurch kann es aber auch Mythen vorbeugen und das Aufkommen von Konspirationstheorien abbremsen.
Oder es kann dazu führen, dass sich eine Eigendynamik entwickelt, die wir mit Ausgangspunkt in den sozialen Medien in der jüngeren Vergangenheit des Öfteren beobachten konnten. Stichworte „MeToo-Debatte“, „Black Lives Matter Bewegung“, „QAnon“ oder die Stürmung des US-Kongresses. All diese Beispiele zeigen, wohin es führen kann, wenn sich bestimmte Themen ohne einen professionellen Filter (Stichwort „Chef vom Dienst“) entwickeln können. Im Guten wie im Schlechten.
Und deshalb ist in der Frage einer TV-Übertragung des im September beginnenden Reichsgerichtsverfahrens Augenmaß gefordert.
Die Mediengewohnheiten und das, was in einer Gesellschaft als opportun und legitim angesehen wird, ändern sich stetig. Gerade im Bereich der Medien ist in den vergangenen Jahren unheimlich viel in Bewegung geraten. Aus diesem Grunde könnte eine öffentliche Übertragung des Reichsgerichtsverfahrens gegen Støjberg ein lohnenswerter Versuch sein. Doch die benannten Risiken bleiben.
Gut, dass die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung der beiden Gesetzesvorschläge, die Støjberg nun einbringen will, dem Folketing obliegt. So wird es, egal wie die Entscheidung ausfällt, die von den Wählern demokratisch legitimierte Mehrheit sein, die den Weg weist.