Leitartikel

„Schieflage im Grenzland“

Schieflage im Grenzland

Schieflage im Grenzland

Nordschleswig/Sønderjylland
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Wenn die deutsch-dänische Grenze nur einseitig von deutscher Seite geöffnet wird, dann schafft die dänische Regierung eine Schieflage, die sich negativ auf die Wirtschaft in Nordschleswig auswirken wird, befürchtet Chefredakteur Gwyn Nissen.

Es ist wahrlich ein Balanceakt, wie die dänische Regierung das Land wieder aus der Corona-Zwangsjacke befreit: Die gesundheitlichen Schutzmaßnahmen stehen den Wirtschafts- und Gesellschaftsinteressen gegenüber – und beides ist manchmal nur schwierig zu vereinen.

Außerdem wird in diesen Wochen deutlich, dass wir beim Krisenmanagement von einer EU-Zusammenarbeit weit entfernt sind. Nicht einmal auf Nachbarschaftsbasis ist eine Kooperation möglich: Dänemark führt keine Gespräche mit Deutschland. Dabei ist es gerade in dieser Zeit bitter nötig.

Dabei werden Deutschland und Schleswig-Holstein ab nächster Woche die Grenze zu Dänemark schrittweise öffnen, während vom dänischen Justizminister Nick Hækkerup (Soz.) am Mittwoch zu hören war, dass Dänemark vorläufig keine Pläne hat, die Grenze für deutsche Touristen zu öffnen.

Wenn das der Fall ist, dann gerät das deutsch-dänische Grenzland in eine Schieflage: Dänen könnten über die Grenze fahren, um in Deutschland einzukaufen, Restaurants zu besuchen, das Auto repariert zu bekommen oder zum Friseur zu gehen.

Dabei erleben die dänischen Supermärkte und Geschäfte vor allem in Nordschleswig gerade, welchen Effekt der Grenzhandel hat. Nicht, dass sie es nicht schon wüssten. Aber Dänen werden bald wieder bei Fleggaard Schlange stehen, und anders herum würden keine deutschen Ausflügler zum Einkaufsbummel nach Tondern oder zum Hotdog-Essen nach Süderhaff kommen dürfen.

Auch wenn Restaurants und Cafés laut Mette Frederiksen ab nächster Woche in Dänemark vielleicht wieder öffnen könnten: In Nordschleswig fahren dann wieder viele  über die Grenze zum Griechen nach Süderlügum oder zum Italiener in Flensburg.

Ein Großteil der Wirtschaft in Nordschleswig hat sich auf die deutschen Gäste spezialisiert – und freut sich gerade darüber, dass viele Dänen „zu Hause" einkaufen müssen. Eine einseitige Grenzöffnung Deutschlands wäre daher ein harter Schlag gegen die örtliche Wirtschaft, aber diese Grenzland-Zusammenhänge bleiben im dänischen Parlament oft ungeachtet.

Die Frage ist, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage die Entscheidung der Grenzschließung basiert? Steigt die Anzahl der Corona-Fälle durch eine Grenzöffnung nach Deutschland? Vermutlich nicht, denn Deutschland ist in Sachen Corona-Bekämpfung Klassenbester – und hat eher zu befürchten, dass die dänischen Einkaufshorden in den Grenzgeschäften den Coronavirus mit nach Deutschland schleppen, während sie Bier kistenweise mit nach Hause transportieren.

Doch wir wissen es nicht, weil es in den Entscheidungsprozessen in Verbindung mit den Corona-Maßnahmen zu wenig Transparenz über die wissenschaftlichen Grundlagen gibt. Das würde gegebenenfalls zum Verständnis beitragen, warum die Grenzen zubleiben müssen – oder auch zeigen, dass die Grenzschließung wirklich nur Symbolpolitik ist.

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