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„Europas Herbst – Die Weltordnung am Scheideweg“

Europas Herbst – Die Weltordnung am Scheideweg

Europas Herbst – Die Weltordnung am Scheideweg

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Berlin
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Die Zeit des bequemen Ausruhens scheint endgültig vorbei. Jetzt ist es an Europa, eine klare Position zu finden und entschlossen zu handeln, schreibt unser Kolumnist Jan Diedrichsen zur aktuellen politischen Weltlage.

Gestern Morgen, nach den ersten Ergebnissen der US-Wahlen und den ernüchternden Nachrichten aus Berlin, wo das Regierungsbündnis zerbrochen ist, wollte ich nichts mehr lesen. Eine Mischung aus Erschöpfung und leiser Angst hielt mich davon ab, weiter durch die endlosen Analysen und Prognosen zu scrollen. Heute, mit etwas Abstand, versuche ich, das Gelesene und Gehörte zu ordnen – ein fast unmögliches Unterfangen, aber eines, das den Zustand unserer Zeit widerspiegelt. Es ist, als stünden wir am Beginn eines langen europäischen Herbstes, wie ihn Rilke beschrieben hat: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ Ein melancholisches Bild – und doch trifft es meine Stimmung angesichts der geopolitischen Entwicklungen, die uns in Europa mehr betreffen, als es uns lieb ist.

Mit der erneuten Präsidentschaft von Donald Trump kehrt eine politische Ära zurück, die man sich noch vor wenigen Jahren kaum hätte vorstellen können. Ausgestattet mit einer stabilen Mehrheit im Kongress, könnte Trump eine neue, autoritäre Phase in den USA einläuten. Checks and Balances, einst Markenzeichen der amerikanischen Demokratie, scheinen zu schwinden. In Europa blicken nicht nur die demokratischen Kräfte auf diese Entwicklungen, sondern auch die Autokraten in Ländern wie Ungarn, Serbien und der Slowakei, die nun Rückenwind für ihre eigenen Ambitionen spüren und ihre autoritären Bestrebungen offen vorantreiben. Die Vorstellung, dass die Demokratie in Europa erodiert, erscheint immer weniger abwegig.

Wer soll diese Männer aufhalten?

Was uns früher wie ein politischer Horrorfilm erschien, rückt heute in den Bereich des Realen: Die Vorstellung, dass reine Machtpolitik in der internationalen Ordnung wieder die Oberhand gewinnt, dass die Welt in Interessenssphären aufgeteilt wird – ein Albtraum, der durch die wachsende Entschlossenheit autokratischer Führer greifbar wird. Wer könnte in einer solchen Welt Trump, Putin oder den chinesischen Präsidenten Xi davon abhalten, ihre Einflusssphären neu zu verhandeln? Erinnern wir uns an den Moment, als Trump als damaliger Präsident öffentlich die Insel Grönland für die USA beanspruchte. Wer würde ihn heute daran hindern, solche Forderungen zu wiederholen? Es klingt drastisch, aber der Gedanke ist nicht mehr ganz abwegig. Die Frage bleibt: Wer soll diese Männer (sic!) aufhalten? Wer soll verhindern, dass Europa zum Spielball im globalen Machtpoker wird?

Die Folgen für die Ukraine, deren Überlebenskampf gegen die russische Invasion seit fast tausend Tagen andauert, könnten verheerend sein. Sollte Trump die US-Unterstützung einstellen, wäre die Ukraine von einem wichtigen Verbündeten abgeschnitten. Notfallmaßnahmen der Nato könnten eine Lücke füllen, aber die Existenz einer souveränen Ukraine stünde auf dem Spiel. Der Gedanke an ein verlassenes und isoliertes Kiew ist schwer zu ertragen – nicht nur für die Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern für ganz Europa.

Eine Mahnung an Europa

In diesen unsicheren Zeiten habe ich kürzlich den Nordischen Rat in Island besucht. Dort hat Präsident Selenskyj eindringlich von der Bedeutung der europäischen Solidarität gesprochen, die in den nordischen Ländern deutlich spürbar ist. Beeindruckend war auch die Anwesenheit der belorussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die trotz der Inhaftierung ihres Mannes seit über 500 Tagen unermüdlich für Demokratie und eine europäische Zukunft Belarus kämpft. Tichanowskajas Mut und Entschlossenheit sind ein starkes Beispiel dafür, was persönliche Opfer für eine größere Sache bedeuten – und eine Mahnung an Europa, für seine Werte einzustehen.

Kurz darauf trafen wir uns in Tallinn mit Abgeordneten der parlamentarischen Ostseekooperation. Die Sorgen und Ängste der baltischen und polnischen Kolleginnen und Kollegen waren in jeder Diskussion spürbar. Diese Länder, geografisch und historisch besonders nah an Russland, blicken mit wachsender Sorge auf die weltpolitische Lage. Immer wieder richtete sich der Blick nach Deutschland und in die EU, verbunden mit der Hoffnung auf Unterstützung und echte Solidarität in Zeiten der Unsicherheit und Bedrohung. 

Zeit des Ausruhens ist vorbei

Die Europäische Union steht nun vor der Wahl: Gestalten wir aktiv unsere Rolle in dieser neuen Weltordnung oder lassen wir die Ereignisse über uns ergehen? Die Zeit des bequemen Ausruhens scheint endgültig vorbei. Jetzt ist es an Europa, eine klare Position zu finden und entschlossen zu handeln, um Freiheit, Demokratie und den Zusammenhalt auf unserem Kontinent zu verteidigen – bevor der Herbst endgültig zum Winter wird.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

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