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„Die Geschwindigkeit des Krieges – kein Stein bleibt über dem anderen“

Die Geschwindigkeit des Krieges – kein Stein bleibt über dem anderen

Kein Stein bleibt über dem anderen

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Brüssel/Apenrade
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Die Aussichten seien für die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer trotz ihres Kampfeswillen düster, so die Einschätzung von Jan Diedrichsen. Er befürchtet, dass Wladimir Putin demnächst maximale Gewalt einsetzen wird, um die Ukraine zu erobern.

Wir alle sitzen seit einer Woche vor dem Fernseher, hören Radio, lesen Zeitungen, informieren uns im Internet. Das Leid, welches uns entgegenschlägt und das die Ukrainerinnen und Ukrainer derzeit durchleben müssen, ist herzzerreißend. Wir bezeugen eine Umbruchzeit mit offenem Ausgang.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Während ich schreibe, wird schon von rund einer Million Flüchtenden berichtet. Ein UN-Mitarbeiter wird zitiert, er habe noch keinen Krieg erlebt, in dem so schnell so viele Menschen fliehen.

Und ja, – es gibt einen Schuldigen für diese katastrophale Entwicklung und die Auswüchse, die da noch kommen mögen: Wladimir Putin. Ein Kriegsverbrecher, der vor den Internationalen Strafgerichtshof gehört. Und wenn es auch Jahre oder Jahrzehnte dauern mag, – er muss sich vor einem Weltgericht verantworten.

Einordnungen sind in diesen Tagen der Echtzeithorrorinformationen schwierig und mit Blick auf die schwindelerregende Dynamik der vergangenen Woche mit Vorsicht zu genießen. Das gilt für eine Vorhersage des Kriegsverlaufs und für die künftige Verfasstheit Europas gleichermaßen.

Wenn ich es dennoch versuchen darf: Die Aussichten sind für die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer trotz ihres Kampfeswillen düster. In den nächsten Tagen sind verheerende Angriffe auf die großen Städte des Landes zu erwarten. Der Plan Putins (so hatte er nach der Annexion der Krim 2014 geprahlt), er könne in fünf Tagen Kyjiw einnehmen, ist bereits gescheitert. Wenn er sich nicht zurückziehen will (was ausgeschlossen erscheint), bleibt ihn nur der Einsatz maximaler Gewalt. Bereits jetzt berichtet die ukrainische Seite von über 2000 toten Zivilisten – was mag da noch auf die Menschen in dem Land zukommen, die sich weigern, ihre Städte zu verlassen und kämpfen wollen.  Es ist zu vermuten, dass Putin nun zum Großangriff ruft und alle Hemmungen fallen. Wir haben es gesehen in Grosny, im Tschetschenien-Krieg und in Aleppo, Syrien. Ein grausames Szenario.

Der Krieg hat in nur 48 Stunden die politische Wirklichkeit in Europa komplett und wohl auch unwiderruflich verändert. Was das langfristig bedeutet –, niemand vermag das zu sagen. Innerhalb von zwei Tagen haben sich Schweden, Finnland und die Schweiz von ihrer Neutralität verabschiedet, und Deutschland hat sich in einer politischen Kehrtwende, die es seit 1945 nicht gegeben hat, von seinem Nachkriegspazifismus verabschiedet. Nur um zwei Beispiele unter vielen zu nennen.

Eine Freundin von mir, die aus Lwiw/Lemberg stammt und in Berlin wohnt, durchlebt schlaflose Nächte. In den Wochen vor dem Angriffskrieg waren es vor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich durch Ruhe und Gelassenheit auszeichneten. Putin wird niemals die gesamte Ukraine angreifen und wenn, dann ist Lemberg immer noch sicher, es liegt doch direkt in Europa, nur 800 Kilometer von Berlin entfernt. Meine Freundin versucht nun händeringend, ihre Familie aus dem Land zu bringen – Lemberg ist (wieder einmal) eine Flüchtlingsstadt geworden. Ihre Brüder dürfen nicht ausreisen. Wer zwischen 18 und 60 Jahren alt ist, muss bleiben. Kämpfen gegen Putins Truppen.

Der Krieg trifft die gesamte Bevölkerung, unabhängig welcher politischen Observanz, egal ob Minderheit oder Mehrheit. Aller politischer Streit tritt in den Hintergrund. Wenn Putin eines bereits geschafft hat, dann ist es, die Ukraine zu vereinen. Bei VOICES werfen wir einen Blick auf die Nationalitäten (Minderheiten) in der Ukraine, die wie alle anderen auch unter dem Krieg leiden:

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Die Nationalitätenfrage: Russlands Angriff auf die Ukraine versetzt eine gesamte Region in den Ausnahmezustand

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