Grenzland-Serie 2020
Weichenstellung mit zweierlei Maß
Weichenstellung mit zweierlei Maß
Weichenstellung mit zweierlei Maß
Für die Volksabstimmung vor 100 Jahren wurde die Marschroute bei den Friedensverhandlungen von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg abgesteckt. Eine Kommission aus Franzosen, Briten, Amerikanern, Italienern und Japanern entschied. Während die Runde aus Dänemark sogar private Lobbyisten empfing, verweigerte sie deutschen Unterhändlern den Kontakt
Eigentlich durchweht der Duft der großen weiten Welt den Vertrag von Versailles. Über sechs Monate ausgehandelt zwischen 32 Staaten, ordnete das 440 Artikel starke Dokument nach dem Ersten Weltkrieg Europa neu. Bei aller großen Perspektive – zugleich wird es in dem Text vom Juni 1919 sehr lokal: Kleinste Dörfer aus dem Umland Flensburgs wie etwa Jarplund, Munkbrarup, Langballig, Goldelund oder Joldelund und viele mehr finden in seinem „Abschnitt XII Schleswig“ Erwähnung. Die Aneinanderreihung steckt genauestens ab, in welchem Gebiet die Bevölkerung darüber abstimmen soll, ob sie weiter zu Deutschland oder lieber zu Dänemark gehören will. In Artikel 109 bis 114 regelt das Abkommen, wie es im hohen Norden weitergeht.
Das Plebiszit dort wird das erste von vieren sein, die „Versailles“ vier deutsche Grenzregionen bringt. Die anderen betreffen die Nachbarschaft zum wiedergegründeten Polen und zu den Kriegsgegnern Frankreich und Belgien. Dänemark hat bei der Friedenskonferenz als einziges neutrales Land ein Referendum beantragt. Weitere Besitzungen wie Elsass-Lothringen oder Posen muss Kriegsverlierer Deutschland ohne Volksabstimmung sofort an Frankreich und Polen abtreten.
Regierung in Kopenhagen sorgt für Erstaunen
Am 28. Februar 1919 tagt in Paris zum ersten Mal die Kommission, die sich sowohl ums deutsch-dänische als auch deutsch-belgische Grenzgebiet kümmert. Elf Mitglieder stellen unter Vorsitz des Franzosen André Tardieu bei elf Sitzungen die Weichen für den Norden der bis dahin preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Neben Franzosen sitzen Briten, Amerikaner, Italiener und Japaner am Tisch.
Die Karten stehen für Deutschland schlecht. Nicht nur schieben die Alliierten ihm die alleinige Schuld am Krieg zu. Eine persönliche ausgeprägt anti-deutsche Einstellung Tardieus kommt dazu. In seinem Erinnerungsbuch „Schleswig auf der Friedenskonferenz“ von 1926 macht der Vertraute von Ministerpräsident Georges Clemenceau daraus keinen Hehl. Dass Preußen sich nach dem Krieg gegen Dänemark 1864 ganz Schleswig und Holstein einverleibt hat, bezeichnet er gar als „Verbrechen“ – ausblendend, dass Auslöser des Waffengangs ein Verstoß Dänemarks gegen internationale Verträge über Schleswig war.
Im Zentrum steht der nördliche Teil Schleswigs
Dem sozialliberalen Kabinett in Kopenhagen unter Ministerpräsident Carl Theodor Zahle bescheinigt Tardieu, dass es „eine auffällige Bescheidenheit an den Tag legt“. Eine Abstimmung möchte Kopenhagen am liebsten nur in einem Gebiet, das nahezu dem später von Deutschland abgetretenen entspricht: zwischen der Königsau in Höhe Kolding und einer Linie von nördlich Flensburg bis südlich Tondern. Dort ist man sich einer dänischen Mehrheit sicher. Jedenfalls, wenn die Ergebnisse aus allen Städten und Gemeinden zu einem Resultat zusammengefasst werden. So fordert es auch die „Apenrade-Resolution“ des Nordschleswigschen Wählervereins. Diese Erklärung der dänisch gesinnten Basis hat das Kabinett zur Grundlage seines Antrags an Versailles gemacht. Mit dem Zusatz: Angrenzende Distrikte in Mittelschleswig sollen bei einer gesonderten Abstimmung zu erkennen geben, ob sie zu Dänemark kommen wollen. Ein Appell, der vor allem auf das prestigeträchtige große Flensburg zielt.
Die Rolle „wirtschaftlicher Betrachtungen“
Beiden Punkten folgt die Kommission mit Einrichtung der Abstimmungszonen 1 und 2. Eine Mehrheit des Gremiums möchte, dass die Menschen in der Zone 2 bei ihrem Votum das Ergebnis der ersten Zone in ihre eigene Entscheidung einfließen lassen können. „Ohne Zweifel“, urteilt Tardieu, sei zwar „die Mehrzahl der Einwohner Flensburgs deutsch. Die Stadt beherbergt indes eine ansehnliche dänische Minderheit, und es ist nicht ausgeschlossen, dass wirtschaftliche Betrachtungen die deutschen Einwohner dazu bringen können, sich Dänemark anzuschließen.“
Phantom-Zone bis an Schlei und Eider
Zum Entsetzen der deutschen Seite sieht die belgisch-dänische Kommission in ihrem Beschlussvorschlag vom 19. März noch eine dritte Abstimmungszone bis zu einer Linie von der Schlei zur Eidermündung vor. Es hat Früchte getragen, dass neben einer dänischen Parlamentarier-Abordnung und dem Botschafter private dänische Lobby-Organisationen bei den Unterhändlern in Frankreich empfangen worden sind. Sie haben 65000 Unterschriften und die Rückendeckung von 302 dänischen Organisationen für eine derart südliche Grenze vorgelegt. Am weitesten gehen die Vorstellungen der „Danewerk-Bewegung“: Sie verlangen eine so südliche Grenze mit der Berufung auf ein vermeintliches historisches Recht sogar ohne Plebiszit.
Demgegenüber blitzen sowohl die Berliner Regierung als auch deutsche Kreise aus Schleswig-Holstein ab mit dem Versuch, persönlichen Kontakt zur Kommission in Frankreich herzustellen.
Als „Karikatur einer Volksabstimmung auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips“ bezeichnet der dänische Außenminister Erik Scavenius ein Abstimmungsgebiet deutlich südlich über Flensburg hinaus. Er verweigert sich „Gegenden, die seit Bewusstwerden des Gegensatzes zwischen Dänisch und Deutsch nie eine Spur dänischen Nationalgefühls gezeigt haben“.
Wie die deutschen Kontrahenten sorgt sich Scavenius, dass Menschen sich nicht aus Überzeugung, sondern „aus Not“ für Dänemark entscheiden – „die Unbemittelten, um zu leben, die Besitzenden, um ihr Vermögen in Sicherheit zu bringen“. Seine Regierung will eine große deutsche Minderheit innerhalb Dänemarks als potenziellen Unruheherd und Einfallstor für Einmischungen aus Deutschland vermeiden. Bei einer Schleigrenze wären dem Königreich mindestens 200000 Deutsche zugefallen.
Intervention der „Oberen Vier“
Zur Erleichterung auch der schleswig-holsteinischen Seite kippt der Viererrat der Friedenskonferenz die dritte Zone: Der US-Präsident sowie die Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich und Italien streichen sie in der endgültigen Fassung der Schleswig-Bestimmungen. Das passiert am 14. Juni 1919 – nur zwei Tage, bevor der Vertrag der deutschen Delegation überreicht wird.
Note der deutschen Regierung unberücksichtigt
Unberücksichtigt geblieben ist eine Note der Berliner Reichsregierung an die Friedenskonferenz vom 13. Mai. Kernpunkte sind die Ablehnung der zweiten Abstimmungszone mit dem Raum Flensburg und dem nördlichen Nordfriesland. Das direkt angrenzende und mehrheitlich deutsche Tondern wollte Berlin aus der Zone 1 herausnehmen. Innerhalb Nordschleswigs verlangte Deutschland, die Stimmen einzeln nach Kommune zu werten – und nicht en bloc. Denn für nicht wenige Einzelorte zeichneten sich durchaus Chancen auf deutsche Mehrheiten ab. Zudem drängte Berlin auf Abstimmungstermine erst, wenn sich die Nahrungsmittelversorgung normalisiert hat.
Keiner weiß, wie lange die Uhr tickt
Auch mit der Endfassung des Vertrags bleibt offen, wie viel Zeit beide Seiten für den erbittert geführten nationalen Wahlkampf haben: Im Text steht nur, dass spätestens zehn Tage nach Inkrafttreten des Abkommens beide Zonen einer Internationalen Kommission mit Sitz in Flensburg unterstellt werden. Und wiederum drei Wochen später in Zone 1 und spätestens fünf Wochen darauf in Zone 2 abgestimmt werden soll. Aber keiner weiß, dass sich das Inkrafttreten des Versailler Vertrags bis zum 10. Januar hinziehen wird. So lange soll es dauern, bis alle Unterzeichner-Staaten – bis auf die USA – das Abkommen ratifiziert haben. So ergeben sich schließlich die Abstimmungsdaten 10. Februar 1920 für Zone 1 und 14. März 1920 für Zone 2.