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„Die grünen Dächer im Sönke-Nissen-Koog: Friesischer Wohltäter hatte Blut in Namibia an seinen Händen“

Friesischer Wohltäter hatte Blut in Namibia an seinen Händen

Friesischer Wohltäter hatte Blut in Namibia an seinen Händen

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Wer den Sönke-Nissen-Koog an der Westküste Schleswig-Holsteins besucht, wird nicht als Erstes an Kriegsverbrechen in Namibia vor mehr als hundert Jahren denken. Doch eben jener Sönke Nissen war an der Ausbeutung bis zum Tod des Volkes der Herero, Nama und Ovambo beteiligt. Jan Diedrichsen hat in seiner Kolumne die Spuren zurückverfolgt.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Von 1904 bis 1908 führten deutsche Kolonialherren einen brutalen Vernichtungsfeldzug gegen das Volk der Herero, Nama und Ovambo im heutigen Namibia. Mehr als ein Jahrhundert später hat die deutsche Regierung den Völkermord offiziell anerkannt und Namibia ein Hilfspaket angeboten. Viele Herero, Nama und Ovambi sind jedoch der Meinung, dass die deutsche Ankündigung nicht annähernd für Gerechtigkeit sorgt.

Es sollte ein guter Bekannter aus der Gesellschaft für bedrohte Völker sein, der mich kürzlich darauf aufmerksam machte, dass auch „mein“ Grenzland noch heute sichtbare Verbindungen mit diesem Menschheitsverbrechen trägt.

Die deutschen Kolonialverbrechen in Namibia führen uns nämlich auch in den äußersten Nordwesten Deutschlands, zu Sönke Nissen (1870-1923), der sein friesisches Heimatdorf Klockries/Klookris bei Risum-Lindholm/Risem-Lonham verließ, um als reicher Ingenieur in die Heimat zurückzukehren. Dort als Wohltäter unvergessen und hochgeschätzt.

Doch die Geschichte des lokalen Helden muss neu erzählt werden. Das hat der dänische Historiker Marco Petersen, der im Archiv der dänischen Minderheit in Flensburg arbeitet, mit seinem Sammelband „Sønderjylland-Schleswig. Kolonialismens kulturelle arv i regionen mellem Kongeåen og Ejderen (Das kulturelle Erbe des Kolonialismus in der Region. Zwischen Eider und Königsau) und das von ihm in dem Band veröffentlichte Kapitel „Deiche, Tod und Diamanten. Erinnerungsarbeit zur Biografie des nordfriesischen Kolonialakteurs Sönke Nissen“ eindrucksvoll herausgearbeitet.

Doch der Reihe nach. Wen es in den Sönke-Nissen-Koog, an die Westküste Schleswig-Holsteins verschlägt, der wird die grünen Blechdächer nicht übersehen können. Sieben der Höfe im Koog tragen gar so seltsame Namen wie: Kalkfontein, Karrasland, Lüderitzbucht, Kolmanskuppe, Elisabethbay, Keetmanshoop, Seeheim.

Die Namen sind auf Sönke Nissen zurückzuführen, der die Eindeichung des weiten Vorlandes westlich von Bredstedt/Bräist nach dem Ersten Weltkrieg mitfinanzierte. Er ließ sich damals für 600.000 Reichsmark 40 Prozent des bedeichten Landes übertragen. Die dort errichteten Höfe erhielten die exotischen Namen nach den Haltestrecken auf der Bahnstrecke von Lüderitzbucht nach Keetnabshoop in dem damaligen Deutsch-Südwest, die Nissen als Hauptingenieur bauen ließ.

Der junge Friese aus Klockries, der erst in der Schule Deutsch lernte, brachte es bis zum Ingenieur, der vor allem in Afrika tätig war. Glück kam auch noch hinzu: Als er 1906 bis 1908 den Bau der Bahnstrecke von Lüderitzbucht nach Keetnabshoop verantwortete, stieß ein Arbeiter an der Strecke auf Diamanten.

Jahrzehnte wurde die Geschichte des berühmten Sohnes der Region mit Stolz erzählt. Auch weil Sönke Nissen nach seiner Rückkehr aus Afrika das 500-Hektar-Gut Glinde bei Hamburg kaufte und zu einem sozialen Vorzeigebetrieb aufbaute. Seinen Arbeitern zahlt er im Krankheitsfall den Lohn weiter, was in der damaligen Zeit ungewöhnlich war, und er richtete ein Altenheim ein, baute Wohnungen für seine Arbeiter. Der Mehrfachmillionär als Gönner und Arbeiterfreund? Oder war es doch das schlechte Gewissen, das ihn antrieb, weil er genau wusste, wie sein Reichtum zustande gekommen war: wortwörtlich auf dem Rücken der Herero, Nama und Ovambo, die sich bei dem Bahnbau als Arbeitssklaven buchstäblich zu Tode schuften mussten.

Der Historiker Marco Petersen hat sich in Namibia durch die Archive gelesen und lässt keinen Zweifel. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Sönke Nissen ein ausbeuterisches System für seinen Reichtum ausgenutzt hat. Von 2.014 zur Arbeit gezwungenen Herero, Nama und Ovambo sind 1.359 bei den Arbeiten ums Leben gekommen. Sönke Nissen hat entsprechende Belege unterzeichnet. Extrem harte Arbeit, mangelhafte Ernährung, das raue Klima am Atlantik – die Herero, Nama und Ovambo kamen aus dem viel wärmeren Landesinneren, und die einsetzenden Krankheiten waren die Ursachen für den Tod von rund 70 Prozent der durch Sönke Nissen eingesetzten Sklavenarbeiter.

Zum Abschluss: Nein, mir geht es nicht darum, dass die Dächer im Koog nicht mehr grün sein dürfen oder dass die exotischen Hof-Namen sich ändern müssen. Vielmehr gilt es, Legenden und Mythen zu dekonstruieren, um einen unverstellten Blick auf die Geschichte zu ermöglichen und im besten Fall auch auf das unbeschreibliche Leid der Herero, Nama und Ovambo.

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