Literatur

In diesen Tagen

In diesen Tagen

In diesen Tagen

Feridun Zaimoglu
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Feridun Zaimoglu
Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu. Foto: Karin Riggelsen

Der Verband Deutscher Büchereien Nordschleswig hat den Schriftsteller Feridun Zaimoglu um einen exklusiven Text zur Krise unserer Zeit gebeten.

Vorspann: Eigentlich und hätte – die beiden kleinen Wörtchen bedeuten in diesen Tagen, dass etwas abgesagt, verschoben oder ins Digitale verlegt wurde. Oder aber eine andere Form annimmt. Im Fall Feridun Zaimoglu gilt letzteres. Eigentlich hätte er auf dem Volkstreffen des Stifts Ribe Ende Mai die verbalen Klingen mit Knud Romer kreuzen sollen. Es kommt anders. Der Verband Deutscher Büchereien Nordschleswig, der Mitarrangeur gewesen wäre, hat sich deshalb entschlossen, den Schriftsteller um einen Text zu bitten. Hier – exklusiv in unserer deutschen Tageszeitung – die Worte Zaimoglus zur Krise unserer Zeit.

Claudia Knauer, Büchereidirektorin 
Verband Deutscher Büchereien Nordschleswig

Feridun Zaimoglu wurde 1964 im anatolischen Bolu geboren und verbrachte die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens in München, Berlin und Bonn, bevor er 1985 nach Kiel kam, um dort Kunst und Humanmedizin zu studieren. Die Türkei ist das Heimatland seiner Eltern. Für ihn, Feridun Zaimoglu, ist es jedoch Deutschland - und seine Heimatstadt ist Kiel.

Er verfasst außer seinen preisgekrönten Büchern Theaterstücke und Drehbücher, ist bildender Künstler und Kurator und beteiligt sich auch an politischen Debatten.  2016 wurde ihm die Ehrenprofessur des Landes Schleswig-Holstein verliehen.

1

Der Selbstmord der Dichterin hat mich erschüttert. Ich dachte: In der Kleinstadt lebt man lang. Ich dachte: Der Himmel spannt zwar nur einen kleinen Bogen über die Dächer. Aber die Kleinstädter, sie sind in ihrer Lustigkeit nachahmenswert. Da gibt es Männer, die vor dem ersten Biß die Stoffserviette lose am Nacken knoten. Da gab es auch die Dichterin: Sie nannte sich ein altes Mädchen der Peripherie. Sie war Anfang zwanzig, als ich in einem Salon erlebte, wie sie ihre Gedichte vortrug: Sie las, als wollte sie mit einem Schablonenmesser einen Backstein in kleine Brocken schneiden. Im Publikum saßen Menschen mittleren Alters. Sie wußten nicht, ob die Frau am Lesetisch der Schwung ihrer Worte mitriss. War diese Lesung eine brauchbare Sache? Sollten sie ein Glücksgefühl empfinden, weil sie einem echten Schauspiel beiwohnten? Die Dichterin hat an diesem Abend nicht den kommenden Ruin ihrer Welt besungen. Sie las dunkle, sehr dunkle Poeme. Es wagte kein Mensch mittleren Alters, eine Frage zu stellen. Es saßen danach an zwei zusammengeschobenen runden Tischen ihr hasenschartiger Freund, einige ältere Freundinnen, ihr Bruder mit seiner Freundin. Sie waren aus der Kleinstadt hergefahren. Ich kam hinzu, ich lobte nicht, ich schmeichelte nicht, ich schwieg. Ich starrte auf die Tropfenfänger der langen schmalen Kerzen. Die Milch flockte im Kaffee, ich rührte und rührte. An diese Bilder kann ich mich gut erinnern. Auch an den Hasenschartigen, der sich mit Messer und Gabel an seiner Gutsherrenwurst zu schaffen machte. Die Dichterin war bewundernswert, das sagte ich ihr vor allen ihren Leuten, ihr Freund wurde auf einen Schlag mißmutig. Hatte ich vor, mit ihr zu tändeln? Ihre Sachlichkeit und mein schafsfrommes Gesicht beruhigten ihn, vielleicht verdaute er auch nur die Wurst. Ich wünschte eine gute Rückfahrt und gute Tage. Ein Woche später bekam ich Post von ihr. Ihr Brief bestand aus zehn vollgeschriebenen Seiten. Sie schrieb, daß sie oft fiebere, daß sie oft den Tränen nahe sei. Der Anblick von Gewitterfliegen zerrisse ihr das Herz. Ich schrieb zurück, ich schickte ihr eine Postkarte, ich konnte ihr nicht wirklich antworten, ich blieb höflich.

Vor fünf Wochen, nach langer Zeit, bekam ich einen zweiten Brief von ihr. Die Angst vor dem Keim höhle sie aus. Der Anblick ihrer an den Fersen fadenscheinigen Strümpfe machte sie traurig. Ich wollte ihr schreiben: Ich kenne das, diese Furcht ist ein stinkendes Gefühl. Meine Worte brachten mich in Wut - wollte ich etwa mit der Dichterin wetteifern? Sie hatte Angst, auf Knöpfe und Tasten zu drücken. Sie hatte Angst, angesteckt zu werden von einem Passanten, der im Vorbeigehen die Keime streute. Sie las die Schlagzeilen und zitterte. Sie nähte sich einen dicken Mundschutz, sie konnte nicht richtig atmen und riss sich die Maske auf offener Straße herunter. Man sprach vom Krieg: Wer siegte und wer wurde besiegt? Sie wollte nicht warten. Sie starb.

 

2

Marsch durch die Stadt im Licht. Reflexe. Sprenkel aus scharfer Helligkeit, auf allen dunklen Flecken liegt ein Glanz. Der Frühling leuchtet voraus. Ich bin in meinen vier Wänden halbverrückt geworden: Am Fenster stehen und schauen macht mürbe. Hinaus. Ich atme eine andere Luft. Wir, die wir uns draußen begegnen, verhalten uns, als wäre die Keuschheit in Mode gekommen. Wir stehen einander gegenüber wie schüchterne Liebende. Wir sehen aus wie Chirurgen in der Operationspause. Wie Menschen mit einer Mundwunde. Mit dem Tod ist nicht zu spaßen, ich höre auf mit den blöden Vergleichen. Keine Zeit für Philosophie. Aber: Man denkt sich ein Loch in den Kopf, in dem sich die halben Sätze der Angst zu einer langen Schlange kuppeln. Ich schwitze in den Lederhandschuhen, ich schwitze im schwarzen Wollmantel, ich schwitze in den dicken Wanderstrümpfen. Was will ich? Ich will einen Bruch mit meinen Tagesgeschäften, mit dem immergleichen Ablauf. Die lange Verschanzung tat mir nicht gut. Bloß keine Verkühlung, nicht in dieser Zeit. Ich stapfe durch die Straßen wie ein Pestdoktor, es fehlt nur die Schnabelmaske. Wieder ein blöder Vergleich. Aber: Wenn ich mich nicht durch Lächerlichkeit entheroisiere, werde ich zum Hysteriker. Ein krummer schiefer Satz, die Worte hallen lange nach. Die pneumatische Tür des Seniorenheims ist mit einem großen Andreaskreuz aus Absperrbändern beklebt. Es saßen immer rauchende Damen vor dem Eingang, sie hielten die schlanke Zigarette unnachahmlich schön zwischen den schlanken Fingern. Ich werde auf einen Schlag traurig. Was nützt den vertriebenen Damen meine Sentimentalität? Ich eile weiter, ich wahre den Abstand, der Schweiß steht mir auf der Oberlippe. Ich klappere die Drogeriemärkte nach feuchten Reinigungstüchern ab, im fünften Markt habe ich Glück. Das Versprechen auf der Verpackung: Entfernt 99,9 % der Bakterien und spezielle Viren. Was ist mit dem fehlenden Zehntel? In den Supermärkten fehlen die scharfen Putzmittel. In den ersten Tagen der Seuche machte auch ich mich auf zum Beutegang. Ich gehörte zu den lächerlichen verhöhnten Zivilisten, die sich wider alle Vernunft bevorrateten. Es sprachen nicht wenige vom Krieg, es war nicht verkehrt, Klorollen zu stapeln. Dann legte sich die Aufregung. Jetzt fragen sich die Sorgenbürger: Wie lange wird es gehen? Der Trotz belebt, der Widersinn macht mutig. Ein Endsechziger will näher rücken als erlaubt, ich bringe ihn mit einem gebellten Mahnwort zum Halten. Ich fühle mich sofort schlecht, ich fühle mich wie ein Kind, das Grenzwächter spielt, meine Wangen brennen vor Scham. Dann aber sagt er: ‚Mich kriegt das Virus nicht, an mir bricht es sich die Zähne aus.‘ … Ich denke: Bist du dann ein Seuchenträger? Willst du, daß ich elendig ersticke? Zur Buße bin ich dem Mann gegenüber übertrieben freundlich, zum Abschied verbeuge ich mich tief, er ist sehr verwundert. Was sind das für Zeiten, in denen man den Herrn um Keimfreiheit bittet? Was trennt mich denn schon von einem Bauern vor tausend Jahren, der Schutz vor der Seuche erflehte? Der dauergesunde Übermensch ist ein böser faschistischer Traum. Maskiert sind die Wenigsten, unbekümmert sich die Wenigsten, mitteilsam sind die Meisten. Der Bahnhofsvorplatz ist leer gefegt, die Säufergemeinde hat sich gezwungenermaßen auf später vertagt. Ich treffe auf einen Bekannten, der mit halblaut erzählt, daß er seine Mutter in der Parterrewohnung nicht besucht. Er wohnt im selben Haus im fünften Stock. Sie steht am straßengewandten Fenster auf Kippe, er steht draußen zwischen den geparkten Autos, sie rufen einander Gesundheitswünsche zu. Das ist mein Stichwort, ich eile nach Hause. Es wird Zeit, meine Eltern anzurufen.

 

3

Meine Mutter sagt: ‚ Das Leben ist zerbrochen‘. Sie sagt: ‚Wir sind nicht verloren, solange wir am Leben sind.‘ Sie kämpfen Tag für Tag. Meine Mutter ist achtundsiebzig, mein Vater wird im Juni neunundachzig. Er hat eine schwere Grippe überlebt. Totenschwer war sein Leib geworden, mit fast erloschenen Augen hat er meine Mutter angesehen, die am Krankenbett wachte. Essiggetränkte Wickel hat sie ihm auf die Stirn gelegt. Er ist genesen, er muß schleunigst zunehmen, er ist zu einem Gerippe abgemagert.  Ich lausche den Worten meiner Mutter, ich beiße in die Handknöchel vor Gram. Seit Wochen herrscht in der Türkei für die Überfünfundsechzigjährigen eine Ausgangssperre. Meine Eltern leben unter Quarantäne, sie sehen es als eine vernünftige Maßnahme an: Sie halten nichts von der behaupteten Lebenslust der Südländer, sie sind nach knapp dreißig Jahren Aufenthalt in Deutschland schön verdeutscht. Ich bin der Sohn, der noch weiter in die Ferne gerückt ist. Ich kann ihnen nicht helfen: Der Hausmeister besorgt das Brot, die Eier und die Butter vom Krämer, er hängt die halbvolle Einkaufstüte draußen über den Türknauf. Wer kümmert sich aber um den Großeinkauf auf dem Markt? Wer hebt auf der Bank das Geld ab und bezahlt die Rechnungen? Wer holt von der Apotheke die Medikamente? Wer sorgt für einen halbwegs reibungslosen Verlauf? Das sind die Helfer in weißen Überziehanzügen und mit großen Masken im Gesicht. Jeden Tag treten im Halbdämmer zur verabredeten Stunden die Menschen auf die Balkone, sie schlagen mit dem Kochlöffel gegen die Pfanne, sie scheppern mit den Topfdeckeln, sie machen Krach als Zeichen ihrer Hochachtung vor den Helfern, die sich in Lebensgefahr begeben. Ich lausche meiner Mutter am Telefon, ich bin sehr beschämt. Ich spreche nicht einmal so gut Türkisch, daß ich sie in einfühlsamen und undramatischen Worten trösten könnte. Ich kann nicht am Fenster stehen und ihnen zuwinken. Kaum sticht mich der Schmerz, ermahne ich mich zur Nüchternheit. Nur die Gaukler täuschen Gefühlstiefe vor. Was ist zu tun? ‚Wir sind versorgt‘, sagt meine Mutter, ‚deinem Vater geht es gut, er schläft wie ein Murmeltier. Und ich tu mein Möglichstes, um nicht durchzudrehen. Heute morgen habe ich den Kühlschrank aufgerissen und immer wieder hinein geschrien. Dein Vater stürmte herbei. Er war fast versucht, sich neben mich zu stellen und mitzuschreien. Die alte Welt ist dahin, sie verschwindet nicht langsam.‘

Ich spreche mit meiner Schwester über die Worte unserer Mutter. Sie lebt mit ihrer nicht mehr jungen Hündin in Berlin. Sie glaubt, daß sie geträumt wird von einer Frau, die mit entsetzlichen Kopfschmerzen ins Bett ging. Ich erzähle von meinem Traum: In einer Szene schneide ich einen Räucheraal in Scheiben. In der nächsten Szene muß ich zur Strafe so lange schrumpfen, bis ich in eine Aalreuse hinein passe. Das ist Leben ist ein surrealistischer Akt. Meine Mutter, meine Schwester, mein Vater: Sie sind wach. Ich gehe halbwach durch die Tage, ich habe das wenigste verstanden, ich wasche mir die Hände zwei dutzend Male täglich, ich huste, wenn ich denn husten muß, in die Armbeuge. Ich bin ein erschrockener Dilettant. Meine Schwester hat im Sperrmüll einen Schreibtisch gefunden, ein gutherziger Lieferant half ihr mit der Sackkarre aus. Sie hat den Tisch auf Glanz poliert, die Hündin schnüffelt misstrauisch an dem neuen Möbel. 

Meine Schwester lauscht meinem fragwürdigen Bericht aus meiner Seuchenzone. Ich lausche ihrer schönen Geschichte von ihren Streifzügen durch Berlin. Wir legen gleichzeitig auf. Dann stapfe ich im schönen Licht durch die Straßen meines Viertels. Ich treffe unterwegs auf keinen grämlichen Mann, auf keine klammherzige Frau. Was schadet, was hilft? Die Unreinlichkeit schadet. Hygiene hilft. Vernunft hilft. Gebete helfen.

Mehr lesen

Dänemarkurlaub

Rekordjahr für den Tourismussektor – Weitere Investitionen in Natur- und Küstent

Tondern/Tønder Der Tourismussektor in Dänemark und Nordschleswig sorgt vor allem dank der deutschen Gäste für beeindruckende Zahlen im Jahr 2023, das sich als Rekordjahr bezüglich der Anzahl der Touristenübernachtungen abzeichnet. Eine Mehrheit im Folketing hat nun entschieden, den Natur- und Küstentourismus in Dänemark zusätzlich zu stärken und sich darauf geeinigt, hierfür 42,1 Millionen Kronen bereitzustellen.