Das Ende einer Ära

Der letzte Gipfel: Merkel verabschiedet sich bei der EU

Der letzte Gipfel: Merkel verabschiedet sich bei der EU

Der letzte Gipfel: Merkel verabschiedet sich bei der EU

dpa
Brüssel
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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) winkt bei ihrer Ankunft zu einem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs. Foto: Yves Herman/Pool Reuters/AP/dpa

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An mehr als 100 EU-Gipfeln hat Kanzlerin Merkel in 16 Jahren teilgenommen. Als Krisenmanagerin hat sie Erfolge erzielt. Als Visionärin wird sie aber nicht in die europäische Geschichte eingehen.

Das vermutlich letzte Abendessen von Angela Merkel im EU-Ratsgebäude in Brüssel begann ungewöhnlich spät und es endete ungewöhnlich früh.

Erst gegen 22.30 Uhr kam am Donnerstagabend die Nachricht, dass sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten zum Dinner zurückgezogen haben - keine eineinhalb Stunden später fuhren dann schon die ersten gepanzerten Limousinen vor, um Merkel & Co in ihre Hotels zu bringen.

Die für die deutsche Bundeskanzlerin vorgesehene Abschiedsfeier sei auf den Freitagvormittag verschoben worden, hieß es danach knapp. Zu lange hätten sich am Nachmittag und Abend die Diskussionen über die drastisch gestiegenen Energiepreise und den Streit um Polens Umgang mit EU-Recht und Rechtsstaatlichkeit hingezogen.

Zumindest beim letzten Thema bemühte sich Merkel dabei wieder einmal darum, zu vermitteln und eine weitere Eskalation zu verhindern. «Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Bestands der Europäischen Union», sagte sie schon zum Auftakt. «Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen.»

Als Hoffnungsträgerin gestartet: «Europa ist weiblich»

In die Rolle, die sie seit rund 16 Jahren inne hat, schlüpfte Merkel schon bei ihrem ersten EU-Gipfel im Dezember 2005. Es ging damals um den EU-Finanzplan für die Jahre 2007 bis 2013, zwischen London und Paris hakte es gewaltig. Merkel vermittelte zwischen Frankreichs Präsident Jacques Chirac und dem britischen Premierminister Tony Blair - mit Erfolg.

Für die Einigung im Haushaltsstreit wurde Merkel über alle europäischen Grenzen hinweg gefeiert. Die linksliberale Wiener Zeitung «Der Standard» schrieb damals: «Die Union lebt. Und Europa ist weiblich. Quasi über Nacht hat sie eine Hoffnungsgestalt bekommen. Ihr Name: Angela Merkel.»

Pragmatismus als Erfolgsrezept

Der Pragmatismus Merkels, ihre Fähigkeiten als Moderatorin haben der EU durch zahlreiche Krisen geholfen. Da waren die Weltfinanzkrise ab 2007, die Eurokrise ab 2010, die Flüchtlingskrise 2015 und nicht zuletzt der Brexit und die Corona-Pandemie. Wenn es darum ging, den Laden zusammenzuhalten, war Merkel zur Stelle.

Als europäische Vordenkerin wird die CDU-Politikerin allerdings nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Ihre Kritiker werfen ihr vor allem vor, dass sie auch nach 16 Jahren an der Spitze des bevölkerungs- und wirtschaftsstärksten EU-Landes keine Vision für das Europa der Zukunft entworfen habe. Einige sind sogar der Ansicht, dass sie eine Mitschuld an den autoritären Entwicklungen in Ländern wie Polen und Ungarn trage, weil sie selten rote Linie zieht.

EU nach Ära Merkel am Scheideweg

Am Ende ihrer Amtszeit steht die EU nun an einem Scheideweg: Vorwärts zu immer mehr Gemeinsamkeit in Europa, wie es Gründerstaaten wie Deutschland und Frankreich wollen. Oder zurück zu mehr Nationalstaatlichkeit, wie es die immer rebellischer werdenden Länder Polen und Ungarn anstreben.

«Wir werden entschlossen der Gefahr entgegenarbeiten, dass sich dauerhaft ein tiefer Spalt durch Europa zieht», hatte Merkel im vergangenen Jahr zum Auftakt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gesagt. Während der folgenden sechs Monate konnte sie den Spalt zwar mit Kompromissen zur EU-Finanzplanung und zum Klimaschutz notdürftig kitten. Die Gefahr hat sie aber nicht gebannt, sie wächst sogar wieder.

Wie tief der Riss durch die EU jetzt schon ist, wird Merkel bei ihrem nach offiziellen Angaben 107. EU-Gipfel noch einmal vor Augen geführt. Wie der Streit mit Polen um den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht gelöst werden soll, ist völlig unklar. Es fallen Worte wie «Erpressung» und «Hexenjagd». Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban spricht von einer «Schlacht», die gerade erst eröffnet sei.

Rufe nach mehr Härte und weniger Moderation

Diese Auseinandersetzung wird jetzt ohne Merkel weitergeführt. Wenn SPD, Grüne und FDP ihren am Donnerstag vereinbarten Zeitplan für die Koalitionsverhandlungen einhalten, wird Olaf Scholz beim nächsten EU-Gipfel am 16. und 17. Dezember Merkels Platz einnehmen. Ob der SPD-Politiker auch ihre Moderatorenrolle bei den Gipfeln unverändert übernimmt, bleibt abzuwarten.

Aus den Reihen seiner möglichen künftigen Koalitionspartner kommen bereits Forderungen nach einem deutlich härteren Kurs gegenüber Polen und Ungarn. «Die nächste Bundesregierung muss sich viel stärker für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa einsetzen und sie mit allen Mitteln verteidigen», sagt die Grünen-Politikerin Franziska Brantner, die in den Koalitionsverhandlungen für ihre Partei die Arbeitsgruppe Europa leitet.

Nicht der letzte Abschiedsgipfel für Merkel

Damit hat Merkel nichts mehr zu tun und ihre Partei auch nicht. Die Abschiedstournee der Kanzlerin geht aber noch ein bisschen weiter. Nächste Woche geht es noch nach Athen und zum G20-Gipfel nach Rom. Da ist dann sogar ihr wahrscheinlicher Nachfolger in seiner jetzigen Funktion als Finanzminister dabei. Dann folgt wahrscheinlich noch ein Auftritt bei der Weltklimakonferenz in Glasgow. Danach dürfte dann aber so langsam Schluss sein mit dem Reisen. Nach der Konstituierung des neuen Bundestags am kommenden Dienstag ist Merkel schließlich nur noch geschäftsführend im Amt.

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