Minderheit

„Hier sind wir unter uns“ – so leben die Menschen in der Sinti-Siedlung „Maro Temm“ in Kiel

„Hier sind wir unter uns“ – Sinti-Siedlung „Maro Temm“ in Kiel

„Hier sind wir unter uns“ – Sinti-Siedlung „Maro Temm“ in Ki

Inga Gercke
Kiel
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Virginia Fabienne Peters (13) und ihre 11-jährige Cousine Shanaya Franz (v.l.) sind in der Sinti-Siedlung „Maro Temm“ in Kiel Gaarden aufgewachsen. Auch Ewald Weiss (54) lebt hier schon viele Jahre. Zwar liegt ihr Zuhause mitten in einem Industriegebiet, doch die Bewohner sehen viele Vorteile. Foto: Victoria Lippmann

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Sie sind laut, feiern gerne und haben viele Verwandte. Die Kieler Sinti-Siedlung liegt abgeschieden in einem Industriegebiet. Warum die Bewohner das gar nicht so schlecht finden, wie die Großfamilien dort wohnen und mit welchen Vorurteilen sie le...

Wie eine Grenze teilt der viel befahrene Kieler Ostring den Stadtteil Gaarden in zwei Bezirke. Westlich reihen sich Wohnhäuser aneinander, im Osten liegt ein Industriegebiet. Hier, vorbei an einem Recyclinghof, immer an den Bahnschienen entlang, liegt am Ende einer kurvigen Straße ein Wendehammer. Der Straßenlärm ist in der Entfernung noch zu hören, aber ganz leise. Von der gekennzeichneten Sackgasse geht noch eine kleine Stichstraße ab. Hier, mitten im Industriegebiet, liegt eine Reihenhaussiedlung mit 13 Einheiten – weiße Fassade, orangene Dachpfannen. Vor jeder Eingangstür ein kleiner Vorgarten. Auf der gegenüberliegenden Seite ist ein Spielplatz für Kinder.

Eine belebte Wohnsiedlung

Verhältnismäßig viele Autos parken hier. Und auch sonst ist für einen kalten, grauen Novembertag viel los. Menschen gehen von Haus zu Haus, die meisten Eingangstüren sind einen Spalt weit geöffnet, andere gucken aus den Velux-Fenstern und beobachten das Geschehen auf der Straße, einige Männer stehen zusammen, rauchen, unterhalten sich. Kinder flitzen durch die vollgestellten Vorgärten rüber zum Spielplatz und zurück. Hier scheint jeder jeden zu kennen. „Maro Temm” steht auf einem Schild bei der Einfahrt.

Maro Temm – eine Sinti-Siedlung in Kiel

„Maro Temm“ ist Romanes und bedeutet „Unser Land / unser Platz“. 2007 wurde die Sinti-Siedlung im Kieler Osten gegründet. „Wir sind hier praktisch nur zwei Familien. Ich, meine Frau, ihre Schwester, von meinem Onkel die Söhne, sein Bruder, meine Tante – besser geht es eigentlich nicht”, sagt der 54-jährige Ewald Weiss, ein Bewohner von Maro Temm und einer von etwa 5.000 deutschen Sinti in Schleswig-Holstein. In Deutschland leben etwa 70.000 deutsche Sinti und Roma.

Sinti & Roma seit zehn Jahren in der Landesverfassung SH

Vor genau zehn Jahren, am 14. November 2012, hat Schleswig-Holstein als erstes Bundesland die deutschen Sinti und Roma als Minderheit in die Landesverfassung aufgenommen. Daneben sind noch die friesische Volksgruppe und die dänische Minderheit als nationale Minderheiten anerkannt.

Familienfeiern und Geheimsprachen

„Wir sind eine riesige Familie”, sagt Ewald Weiss. Allein seine verstorbene Oma habe 168 Enkel- und Urenkel. Zwar können man nicht bei jedem Geburtstag dabei sein, trotzdem wird in der Sinti-Siedlung gerne und oft gefeiert.

„Wir setzen uns hier abends hin, machen unser Feuer, unsere Musik. Die Kinder wachsen miteinander auf, die Sprache wird sehr gut erhalten und man ist auch nicht allein.“ Neben Deutsch sprechen hier viele als zweite Muttersprache die Minderheitensprache Romanes, auch Romani genannt.

Zu laut? Gibt es nicht

Die 11-jährige Shanaya Franz und ihre 13-jährige Cousine Virginia Fabienne Peters, sind beide in der Siedlung aufgewachsen und nutzen die Sprache gerne als eine Art Geheimsprache – zum Beispiel in der Schule, wenn keiner etwas mitbekommen soll.

Auch wenn ihr Zuhause in einem Industriegebiet liegt, sehen die beiden Mädchen Vorteile: „Hier ist eigentlich immer was los, jeden Tag“, sagen sie. Von Langeweile keine Spur. Und noch etwas gefällt ihnen besonders gut: „Man kann so laut sein, wie man will“, sagt Shanaya. Meckernde Nachbarn kennen sie nur aus Erzählungen von Freunden.

Alle sind miteinander verwandt

Wie viele Menschen in „Maro Temm“ aktuell leben, kann keiner so genau sagen, täglich kommt Besuch. „Meine Schwestern wohnen hier, Cousins und Cousinen – wir sind alle irgendwie verwandt”, sagt Reinhold Weiss (39). „Es ist immer schon so gewesen, dass die deutschen Sinti gerne zusammen sind. Wir können eigentlich gar nicht ohne die Familie“, sagt er. Der 17-jährige Miguel Brühl ergänzt: „Selbst wenn man nicht blutsverwandt ist, dann ist man körperlich und geistig verwandt. Egal wie man ist, man gehört zur Familie. Ich kann mir keinen besseren Platz vorstellen.“

Diskriminierung und Straftaten

„Maro Temm“ ist wie eine Art Mikrokosmos. Hier fühlen sich alle Bewohner und Besucher wohl. Außerhalb der Siedlung aber erfahren viele Sinti nicht selten Diskriminierung.

„Ich habe mal ein Erlebnis gehabt, das vergesse ich nie. Da war ein älterer Herr, der war so um die 80 Jahre. Es ging wirklich nur um einen Parkplatz. Der hat sich darüber aufgeregt, dass ich da nicht so korrekt stehe, kam raus und hat gesagt: Der Hitler hat vergessen, euch zu vergasen. Nach zehn Minuten kam er zurück und hat sich entschuldigt. Dann habe ich ihm erklärt, dass ich ein deutscher Sinto bin und dass meine Oma und mein Opa und viele meiner Familie in einem KZ gestorben sind. Da hatte er dann Tränen in den Augen”, sagt Reinhold Weiss.

Antiziganismus: LKA registriert Straftaten gesondert

Das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein (LKA-SH) registriert sogenannte antiziganistische Straftaten gesondert. Antiziganismus ist die spezifische Form des Rassismus, die sich gegen Gruppen richtet, die als sogenannte „Zigeuner” wahrgenommen und stigmatisiert werden. Die tatsächliche Nationalität des Opfers wird hierbei nicht aufgenommen, so Jana Maring vom LKA.

Seit 2020 wurden insgesamt 13 Straftaten in Zusammenhang mit Antiziganismus gemeldet - davon waren alleine zehn Anzeigen wegen Beleidigungen.

Hohe Dunkelziffer

Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, denn längst nicht alle Vorfälle werden angezeigt. Die Bewohner von „Maro Temm“ sprechen nicht gerne über solche Vorfälle. Fast jeder von ihnen kennt Vorurteile. Ewald Weiss kann das nicht nachvollziehen: „Wir sind nicht anders als andere auch. Nur dass wir eine andere Sprache sprechen und etwas andere Dinge machen. Aber ansonsten sind wir eigentlich genauso kultiviert.“

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