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Ein Lesebuch und seine Geschichte

Ein Lesebuch und seine Geschichte

Ein Lesebuch und seine Geschichte

Hauke Grella
Hauke Grella Museumsleiter
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Lesebuch Foto: Deutsches Museum Sonderburg

Beim Durchblättern fällt auf, dass die Seiten 161 bis 188 fehlen / Der Grund: Ihr Bezug zum Nationalsozialismus / Doch warum wurden sie entfernt?

Die Abbildung zeigt das „Deutsche Lesebuch für Volksschulen – 5. und 6. Klasse“ in sechster Auflage, herausgegeben vom Verlag Lipsius & Tischer in Kiel und Meyersche Hofbuchhandlung in Detmold. Im Buch finden sich zwei Stempel. Zum einen der des „Deutschen Schulvereins Nordschleswig“ und zum anderen findet sich der Stempel der Deutschen Privatschule Stübbek (Stubbæk).

Die Deutsche Schule Stübbek wurde laut unseren Informationen im Oktober 1933 als Privatschule eröffnet und bestand  bis Ende des Krieges fort. In diesem Zeitraum schwankten die Schülerzahlen zwischen 14 und 25. Von 1940 bis zur Schließung der Schule sollte Frederik Christensen Schulleiter sein, der später dann Schulrat des Deutschen Schul- und Sprachvereins für Nordschleswig wurde.

Das Lesebuch wurde 1935 herausgegeben und zeigt bei der oberflächlichen Betrachtung keine Besonderheiten auf. Erst wenn man die Seiten durchblättert zeigt sich, dass einige Seiten im Buch fehlen. Glücklicherweise befindet sich in der Sammlung des Deutschen Museums Nordschleswig auch eine Ausgabe des Lesebuches, in dem die Seiten nicht fehlen. Deswegen lässt sich auch leicht nachvollziehen, welche Inhalte entfernt wurden.

Lesebuch mit fehlenden Seiten Foto: Deutsches Museum Sonderburg

Aus dem Lesebuch wurden die Seiten 161 bis 188 entfernt. Inhaltlich wurden Texte zum Beispiel über  den Reichsparteitag 1929 in Nürnberg, ein Gedicht von Baldur von Schirach, ein Text über „den toten Kameraden“ und Zitate aus Hitlers Reden entfernt. Baldur von Schirach stand an der Spitze der deutschen Hitlerjugend.

Es stellt sich nun aber die Frage, wann die Seiten entfernt wurden. Vor Mai 1945 wurden die Unterrichtmaterialien der  deutschen Abteilungen an den dänischen Schulen natürlich kontrolliert. Gesetzlich war dies auch an den Privatschulen möglich, wurde aber in der Praxis nicht betrieben.

Nach Mai 1945 machte man sich diese gesetzliche Grundlage aber zunutze und veranlasste eine Kontrolle sämtlicher Unterrichtsmaterialien. Dies führte mit der Enteignung von Schulgebäuden und der Inhaftierung dazu, dass die Schulen zwangsweise schließen mussten, es aber keine direkte Anweisung dieser Schließung gab.

Die abgebildete Fotografie zeigt die deutsche Schule Broacker. Vor der Schule stehen Widerstandskämpfer mit gefüllten Säcken auf Lastwagen. In den Säcken befanden sich zum Teil die Unterrichtsmaterialien.

Wie beschrieben, so war Frederik Christensen bis zur Schließung der Stübbeker Schule dort Schulleiter. In einem Schreiben der Stübbeker Schulkommission an die Schuldirektion wird festgestellt, dass aus einigen Büchern schon die nationalsozialistischen Inhalte entfernt wurden. Es wurde vermutet, dass er die Seiten wohl kurz nach der Kapitulation selbst entfernt hatte und der „Zensur“ zuvorkam.

Dies half aber auch nicht, die Schließung der deutschen Schule in Stübbek zu verhindern. Die neu gegründeten deutschen Schulen, von denen die ersten im Herbst 1946 wiederöffneten, mussten sich daran gewöhnen, dass ihnen bei der Wahl der Unterrichtsmaterialien über die Schulter geschaut wurde.

Ein Lesebuch, das anfänglich zur Verfügung stand und in dem Sinne auch durch die Kontrollinstanzen gutgeheißen war, ist das abgebildete Lesebuch von 1945. Dies wurde von der dänischen Flüchtlingsverwaltung herausgegeben und durfte explizit auch an deutschen Privatschulen genutzt werden.

Die Handhabung der Kontrolle von Unterrichtsmaterialien nahm den gleichen Verlauf wie die allgemeine Gesetzgebung der Rechtsabrechnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit den Jahren entspannte sich die Situation. Das Gesetz Nr. 214 vom 7. Juni 1952 brachte einige Erleichterungen für das deutsche Schulwesen in Nordschleswig. So mussten u. a. die Lehr- und Lesebücher sowie Schulbuchsammlungen nicht mehr vorher genehmigt werden.

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