Diese Woche in Kopenhagen

„Eine historische Absprache“

Eine historische Absprache

Eine historische Absprache

Kopenhagen
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Die Vorsitzende der Sozialistischen Volkspartei, Pia Olsen Dyhr, unterzeichnet den „nationalen Kompromiss“ zur Verteidigungspolitik. Foto: Emil Helms/Ritzau Scanpix

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Am Sonntag haben die fünf „alten“ Parteien im Folketing eine Absprache zur Sicherheitspolitik unterzeichnet. Der Haushalt soll deutlich aufgestockt werden und über den EU-Vorbehalt zur Verteidigung soll abgestimmt werden. Warum das eine wie das andere historisch ist, erläutert Walter Turnowsky.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach in seiner Rede zur deutschen Sicherheitspolitik am 27. Februar von einer „Zeitenwende“. Seine dänische Amtskollegin Mette Frederiksen (Soz.) sprach am Sonntagabend von einem „nationalen Kompromiss“.

Den Ausdruck hat die Staatsministerin selbstverständlich nicht zufällig gewählt, denn er hat in der dänischen Politik eine ganz bestimmte Bedeutung. 1992 gab es einen solchen „nationalen Kompromiss“ nachdem die dänische Bevölkerung den Traktat zur Europäischen Union bei einer Volksabstimmung abgelehnt hatte. Der Kompromiss bestand in den vier EU-Vorbehalten und bei einer erneuten Abstimmung 1993 gab es dann ein knappes „Ja“.

Ganz maßgeblich war dabei, dass die damaligen Unionsgegner von der Sozialistischen Volkspartei (SF) dem Kompromiss zugestimmt hatten. Der Kompromiss bestand im Kern darin, dass sich die Parteien, die die Union befürworteten, mit SF geeinigt hatten.

Es ist daher mehr als nur eine Anspielung auf diese Situation, wenn Frederiksen in Zusammenhang mit der Ankündigung einer Volksabstimmung zur Abschaffung des einen der vier Vorbehalte den Ausdruck verwendet. Auch die Tatsache, dass SF wieder mit an Bord ist, muss als historisch bezeichnet werden.

Dies gilt nicht nur für den Vorbehalt, sondern auch für die Tatsache, dass die traditionell pazifistisch orientierte Partei einer massiven Aufrüstung zustimmt. 2033 will Dänemark das NATO-Ziel, 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes für die Verteidigung auszugeben, erreichen. Derzeit sind es knapp 1,5 Prozent. Der Verteidigungsetat soll also um ein Drittel erhöht werden.

Das ist an sich schon historisch – wenn auch nicht im gleichen Ausmaß, wie die von Scholz angekündigte Neuorientierung der deutschen Verteidigungspolitik – doch die breite Unterstützung ist es ebenfalls. Denn auch Radikale Venstre steht bei allem Pragmatismus militärischer Aufrüstung kritisch gegenüber.

Doch zurück zu den EU-Vorbehalten. 1992 war die Skepsis gegenüber der Europäischen Union (damals noch Europäischen Gemeinschaft) vor allem links verortet. Man befürchtete, mit dem Schritt zur Union wäre man auf dem Weg zu einem europäischen Superstaat.

SF plakatierte in Anspielung auf den damaligen Parteivorsitzenden Holger K. Nielsen „Holger og konen siger nej til Unionen“.

Nachdem das „Nein“ zur Union dann im Juni eine Tatsache war, wusste niemand, wie es weitergehen sollte. Es bestand keine Aussicht, dass die Maastrichter Verträge zur Union geändert werden konnten.

SF argumentierte, Dänemark solle in vier Bereichen, die die Partei als entscheidend für die Bildung eines EU-Staates betrachtete, nicht mitmachen. So entstanden die Vorbehalte zur Währungsunion (und damit dem Euro), zu einer gemeinsamen Rechtspolitik, zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und zur Unionsstaatsbürgerschaft. Letzterer ist mittlerweile hinfällig geworden, da laut Traktat die Unionsbürgerschaft die nationalen Staatsbürgerschaften nicht ersetzen soll.

Im Jahr 2000 versuchte die sozialdemokratische Regierung unter Poul Nyrup Rasmussen, den Euro-Vorbehalt aufzuheben. Die Volksabstimmung endete mit einem „Nein“. 2015 versuchte Venstre-Staatsminister Lars Løkke Rasmmussen es mit dem Rechtsvorbehalt – das Ergebnis wurde dasselbe.

Die Frage der Abschaffung von EU-Vorbehalten war von Anfang an ein politisch heißes Eisen, und seit dem letzten „Nein“ wollte keine Regierung sie mehr anrühren. Das Thema wurde kaum politisch diskutiert.

Dies hat der Angriff Putins auf die Ukraine binnen weniger Tage schlagartig geändert. Es ist selbstverständlich verfrüht, zu sagen, wie die Volksabstimmung am 1. Juni ausgehen wird. Doch alleine die Ankündigung hat innerhalb von wenigen Stunden die EU-Debatte im Land bereits verändert.

Und sollte es ein „Ja“ werden, so wird es auch die künftige EU-Politik ändern.

Der „nationale Kompromiss“, die „Zeitenwende“ und die Diskussion über die Neutralität Schwedens und Finnlands sind nur drei Beispiele dafür, dass sich die politischen Koordinaten in Europa in diesen Tagen vor einem grausamen Hintergrund grundlegend und bleibend verschieben.

Wie ein zukünftiges Europa aussehen wird, ist selbstverständlich auch in hohem Maß davon abhängig, wie der Krieg in der Ukraine sich entwickeln wird. Dass es, ob wir es wollen oder nicht, ein grundlegend anderes Europa sein wird, steht außer Frage.

 

 

 

 

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