EU-Vorsitz

Merkel: Zu Großem fähig

Merkel: Zu Großem fähig

Merkel: Zu Großem fähig

Verena Schmitt-Roschmann, Michel Winde und Amelie Richter, dpa
Brüssel
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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht im Plenum des Europäischen Parlaments. Foto: Yves Herman/Reuters Pool/AP/dpa

Selten gibt sich Angela Merkel beim Thema Europa persönlich und leidenschaftlich. Zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft trifft sie einen neuen Ton und findet viel Unterstützung. Doch einer ist definitiv anderer Meinung.

Am Ende wurde Angela Merkel persönlich. Als Musikliebhaberin, sagte die Kanzlerin am Mittwoch im Europaparlament, höre sie die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven - die Europahymne - immer wieder neu. So sei es auch mit Europa: „Es lässt sich immer wieder neu entdecken und es beeindruckt mich immer noch“, sagte Merkel. „Welche Botschaft könnte passender sein als diese, dass dieses Europa zu Großem fähig ist, wenn wir einander beistehen und zusammenhalten.“

„Leidenschaft“, „Vision“, „Hoffnung“: Für Merkel war es eine ungewöhnliche Rede, die sie vor den EU-Abgeordneten zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hielt. Sie sprach über das inzwischen schon mehrfach präsentierte Programm für die nächsten sechs Monate - den Kampf gegen die dramatischen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, den Abschluss des Brexits, Klimaschutz, Digitalisierung. Aber eben bisweilen in ungewohnter Tonart. 

Insgesamt wirkt die CDU-Politikerin dieser Tage, als hätte sie nach fast 15 Jahren Kanzlerschaft nun wirklich Europa als Herzensangelegenheit entdeckt. „Ich glaube an Europa“, rief sie den Abgeordneten zu. „Ich bin überzeugt von Europa - nicht nur als Erbe der Vergangenheit, sondern als Hoffnung und Vision für die Zukunft.“

Redefreiheit

Eindringlich pochte sie auf den Erhalt der Grundrechte wie Redefreiheit, Gleichberechtigung und religiöse Vielfalt in der EU. „Die Grundrechte, das ist das erste, was mir in der Ratspräsidentschaft am Herzen liegt“, sagte Merkel. Während der Corona-Pandemie seien sie eingeschränkt worden, aber: „Eine Pandemie darf nie Vorwand sein, um demokratische Prinzipien auszuhebeln.“ 

Das ging wohl auch an die Adresse des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, wie Merkel Mitglied der Europäischen Volkspartei. Den Namen nannte Merkel hier aber ebensowenig wie bei der Spitze, die sich mutmaßlich gegen US-Präsident Donald Trump gerichtet haben dürfte: „Mit Lüge und Desinformation lässt sich die Pandemie nicht bekämpfen, so wenig wie mit Hass und Hetze»´“, sagte Merkel. „Dem faktenleugnenden Populismus werden seine Grenzen aufgezeigt.“

Ausdrücklich umwarb Merkel die direkt gewählten Abgeordneten als Vermittler der europäischen Sache - und auch ganz konkret für die erste und vielleicht schwierigste Aufgabe der deutschen Präsidentschaft: eine Einigung auf das geplante Konjunktur- und Investitionsprogramm zur wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Krise.

„Viel Arbeit nötig“

Sie hatte zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein Volumen von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen, die als Zuschüsse an die EU-Staaten gehen sollen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sattelte noch 250 Milliarden Euro als Kredite drauf, also zusammen 750 Milliarden. Alles finanziert über gemeinsame Schulden über Jahrzehnte. Ende nächster Woche soll ein EU-Gipfel darüber beraten.

Allerdings sind immer noch alle wichtigen Punkte umstritten, wie Ratspräsident Charles Michel im Parlament deutlich machte. Darunter sind der Umfang des Pakets, die Kriterien für die Verteilung der Konjunkturhilfen und die zentrale Streitfrage: Sollen als Schulden aufgenommene Gelder als Zuschuss an EU-Staaten vergeben werden? „Enorm viel Arbeit ist noch nötig“, sagte Michel.

Warnschuss an Dänemark und Co.

Von der Leyen betonte in ihrer Rede im Plenum noch einmal auffallend, dass die Empfänger der Hilfen dafür Bedingungen erfüllen müssten, nämlich Reformen angehen. „Jeder Mitgliedstaat ohne Ausnahme muss seine Hausaufgaben machen“, sagte von der Leyen. Der Hinweis sollte offenbar die sogenannten Sparsamen Vier beruhigen - Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark -, die immer noch große Bedenken gegen das Milliardenprogramm haben.

Merkel mahnte erneut zur Eile. „Wir dürfen keine Zeit verlieren, darunter würden nur die Schwächsten leiden“, sagte die Kanzlerin. Sie hoffe sehr, dass eine Einigung noch im Sommer gelinge. Das war später auch die Botschaft nach einem Treffen Merkels mit von der Leyen, Michel und Parlamentspräsident David Sassoli: Das Konjunkturpaket habe höchste Priorität, hieß es in einer Erklärung am Abend. Wichtig sei ein Konsens der EU-Staaten bereits beim anstehenden Gipfel. Denn danach müsse noch mit dem Europaparlament verhandelt werden.

Kritik von der AfD

Dort tragen die großen Fraktionen das Corona-Hilfsprogramm weitgehend mit, obwohl von Liberalen, Grünen und Linken im Plenum auch kritische Anmerkungen kamen. Eine volle Breitseite gegen das Hilfsprogramm und gegen Merkel feuerte indes AfD-Chef Jörg Meuthen ab. „Ignoranz, Infamie, Ideologie“, warf der Europaabgeordnete der Kanzlerin vor, zählte sie zu den „Totengräbern“ der europäischen Idee, zu den Verfechtern eines «sozialistisch motivierten Staatspaternalismus». 

Spätestens da fand Merkel zu alter Sachlichkeit zurück. Den „Absolutheitsanspruch bestimmter Meinungen“ halte sie für falsch, konterte sie Meuthen trocken. „Da werden wir zu keinen Lösungen kommen.“

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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