Afghanistan

Warten auf Taliban-Regierung - UN wollen weiter helfen

Warten auf Taliban-Regierung - UN wollen weiter helfen

Warten auf Taliban-Regierung - UN wollen weiter helfen

dpa
Kabul/Washington
Zuletzt aktualisiert um:
Eine der letzten US-Militärmaschinen startet vom Flughafen Kabul. Foto: ---/AP/dpa

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In Afghanistan beginnt ein neues, ungewisses Kapitel. Viele sorgen sich über eine mögliche Rückkehr zur alten Schreckensherrschaft der Taliban. Die UN wollen notleidende Menschen so gut es geht versorgen.

Die US-Truppen sind nach fast 20 Jahren aus Afghanistan abgezogen - nun richten sich die Blicke ganz auf die erneute Herrschaft der militant-islamistischen Taliban.

Diese würden wohl «in Kürze» eine neue Regierung vorstellen, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am Dienstag bei einem Besuch in Islamabad im benachbarten Pakistan. Angesichts der humanitären Krise mit vielen Millionen Hilfsbedürftigen im Land will das UN-Nothilfebüro (OCHA) seinen Einsatz unvermindert fortsetzen.

Die Taliban, die das zentralasiatische Land bereits von 1996 bis 2001 beherrschten, gratulierten den Afghanen zum US-Abzug und sagten, «dieser Sieg gehört uns allen». Am Dienstag, dem ersten Tag nach dem Abzug, schien die Lage in der Hauptstadt Kabul zunächst ruhig. Viele im Land sorgen sich aber, dass die Gruppe erneut durch Unterdrückung und mit drakonischen Strafen herrschen könnte. Die Islamisten haben versprochen, auch andere politische Kräfte in ihre neue Regierung einzubinden.

Der Abzug der letzten US-Soldaten aus Kabul in der Nacht zu Dienstag bedeutete auch das Ende der militärischen Evakuierung von US-Bürgern, Verbündeten und schutzbedürftigen Afghanen. Zurückgebliebene Amerikaner und andere Schutzsuchende wollen die USA nach Worten von Präsident Joe Biden aber weiter mit diplomatischen Mitteln soweit möglich aus dem Land holen. Biden wollte sich am Dienstag (19.30 Uhr MEZ) in einer Ansprache an die Nation zum Abzug äußern.

«Die Vereinten Nationen bleiben»

Mit dem Abzug überlässt der Westen das Land wieder jenen Islamisten, die er Ende 2001 entmachtet hatte. Die USA und ihre Verbündeten hatten teils mehr als 100.000 Soldaten dort im Einsatz, wobei die USA die schwersten Verluste verzeichneten. «Wir haben 2461 Soldaten in diesem Krieg verloren», teilte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zum Ende der Mission mit. Zehntausende weitere hätten sichtbare und unsichtbare Verletzungen erlitten. «Die Narben des Kampfes heilen nicht leicht und heilen oft überhaupt nicht», erklärte Austin.

Das Welternährungsprogramm will eine humanitäre Luftbrücke ins Land aufrechterhalten. Am Montag erreichte zudem ein Versorgungsflug der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Masar-i-Scharif. In den nächsten Tagen seien zwei weitere Flüge geplant, die auch Kabul anfliegen sollten, sagte eine WHO-Sprecherin in Genf. Sie sollen Material ins Land bringen und Menschen ausfliegen. «Die Armeen sind abgezogen, die Vereinten Nationen bleiben», sagte OCHA-Sprecher Jens Laerke in Genf. Nach UN-Schätzungen sind im Land rund 18,4 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen.

Bundesaußenminister Maas rief dazu auf, sich vor Militäreinsätzen künftig besser über die Ziele klar zu werden. Militäreinsätze seien nicht geeignet, «um langfristig eine Staatsform zu exportieren», sagte Maas in Islamabad. Der Versuch sei in Afghanistan gescheitert. Bundesinnenminister Horst Seehofer sprach sich bei einem EU-Sondertreffen in Brüssel unterdessen gegen konkrete Kontingente für Schutzbedürftige aus. Man wolle keinen «Pull-Effekt» (Sogeffekt) auslösen.

Die Bundeswehr hatte ihre Evakuierung Schutzbedürftiger bereits am Donnerstag beendet, Frankreich, Spanien und Großbritannien folgten am Freitag und Samstag. Immer noch befinden sich aber Zehntausende Menschen in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen - die meisten davon sind Afghanen. Laut US-Außenministerium sind auch noch zwischen 100 und 200 US-Amerikaner in Afghanistan, die das Land verlassen wollen, und dem britischen Außenminister Dominic Raab zufolge eine «niedrige dreistellige» an Briten. Die meisten davon seien wegen fehlender Papiere «schwierige Fälle», sagte Raab.

In einer gewaltigen Evakuierungsmission, die US-Präsident Biden als «größte Luftbrücke in der Geschichte der USA» bezeichnete, hatten die Vereinigten Staaten und ihre Partner Landsleute sowie afghanische Schutzbedürftige ausgeflogen. Allein das US-Militär flog General Kenneth McKenzie zufolge 79.000 Zivilisten aus Kabul aus, darunter rund 6000 Amerikaner. Nach seinen Worten brachten die USA und ihre Verbündeten gemeinsam mehr als 123.000 Menschen außer Landes. Die Bundeswehr flog mehr als 5000 aus.

Erlauben die Taliban weitere Ausreisen?

Bei weiteren Evakuierungen sind westliche Staaten nach dem US-Abzug jetzt auf Zusammenarbeit mit den Taliban angewiesen. Diese haben zumindest zugesagt, Ausreisen zu gewähren. Außenminister Maas reist derzeit durch mehrere Nachbarländer Afghanistans, um über die Aufnahme afghanischer Schutzsuchender zu sprechen. Deutschland will mehr als 40.000 Menschen bei der Ausreise unterstützen - auf dem Landweg oder direkt per Flugzeug aus Kabul. Derzeit kann der beschädigte zivile Teil des Flughafens allerdings keine Flüge abfertigen.

Der UN-Sicherheitsrat hatte am Montag den Druck auf die Taliban erhöht, die Menschenrechte zu wahren und Ausreisewillige ungehindert passieren zu lassen. UN-Resolutionen sind völkerrechtlich bindend. Eine UN-Sicherheitszone, die zuletzt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ins Spiel gebracht hatte, erwähnt die Resolution aber nicht.

Bewohner Kabuls sprachen am Dienstag von einem insgesamt ruhigen Tagesbeginn. Die meisten Geschäfte im Stadtteil Schahr-e Nau seien geöffnet, sagte etwa Lotfullah, der im Zentrum lebt. Ein paar Banken hätten große Filialen nach zwei Wochen wieder geöffnet. Hunderte stünden an, um Geld abzuheben. Viele Taliban seien nicht zu sehen. Ein Bewohner des Stadtteils Dascht-e Bartschi im Westen Kabuls sagte, private und öffentliche Schulen hätten erstmals seit der Taliban-Machtübernahme wieder geöffnet. Alle Schülerinnen und Schüler bis zur sechsten Klasse seien wieder im Unterricht. 

Die bekannte Frauenrechtlerin Fausia Kufi forderte von den Taliban, das Land gemeinsam aufzubauen. Der Reichtum Afghanistans seien seine jungen Menschen, Mädchen und Jungen, jene, die im Land seien, und jene, die in der Zukunft zurückkehrten, schrieb Kufi auf Twitter. «Dieses Land gehört uns allen.»

Pandschir im Nordosten ist derzeit die einzige von 34 Provinzen, die noch nicht unter Kontrolle der Taliban steht. Die Taliban versuchten nach Angaben von Widerstandskämpfern, dort vorzudringen. Die Islamisten hätten bei Gefechten sieben oder acht Kämpfer verloren, sagte der Sprecher der Nationalen Widerstandsfront, Fahim Daschti. Die Taliban, die Pandschir auch während ihrer ersten Herrschaft nicht erobern konnten, äußerten sich zunächst nicht dazu.

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