Prozess

KZ-Sekretärin vor Gericht: Nebenklage-Anwalt erinnert an die Geschichten der Überlebenden

KZ-Sekretärin vor Gericht: Geschichte der Überlebenden im Fokus

KZ-Sekretärin vor Gericht: Überlebende im Fokus

Florian Kleist
Flensburg/Flensborg
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Sie sitzen sich im Gerichtssaal gegenüber: Wolf Molkentin (links), Anwalt und Verteidiger der Angeklagten, und Rajmund Niwinski, Anwalt und Nebenklagevertreter, hier bei einem Gespräch in einer Verhandlungspause. Foto: Georg Wendt

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Das Verfahren gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. nähert sich dem Ende. Anwalt Rajmund Niwinski nutzt sein Plädoyer, um noch einmal an die Geschichten der Überlebenden zu erinnern. shz.de gibt das Protokoll auszugsweise wieder.

Als der Prozess gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. vor mehr als einem Jahr begann hatten sich 31 Überlebende des Konzentrationslagers Stutthof bereiterklärt, als Nebenkläger in dem Verfahren aufzutreten. Hinter der Anklage „Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen“ verbergen sich viele ihrer Brüder, Schwester, Väter und Mütter, die in dem Lager ihr Leben verloren haben. Vertreten werden diese Überlebenden von Anwälten wie Rajmund Niwinski.

In seinem Plädoyer sprach Niwinski nicht nur über die Schuldfrage, die sich das Gericht mit Blick auf ein Urteil gegen die 97-jährige Angeklagte stellen muss. Er erinnerte vor allem an die Menschen, die zum Teil vor Gericht von ihrem Leid erzählt hatten. Die Menschen, die er vertritt. Und er erinnerte auch an Halina Strnad, die nur wenige Wochen nach ihrer Aussage im Juni 2022 vor dem Landgericht Itzehoe im Alter von 95 Jahren starb.

Der Schlussvortrag von Rajmund Niwinski liegt shz.de vor. Wir geben ihn hier auszugsweise wieder. Die Passagen, in denen er von den Überlebenden erzählt, die am Verfahren gegen Irmgard F. beteiligt sind:

„Der Nebenkläger Jack Mandelbaum war selbst nicht in Stutthof. Er ist aber Überlebender mehrerer Konzentrationslager, unter anderem der Lager Auschwitz und Groß-Rosen. Seine Familie stammte aus dem Danziger Umland. Seine Mutter, sein Bruder und die gesamte Familie seines Onkels starben in Auschwitz. Sein Vater, Majloch Mandelbaum wurde direkt nach Kriegsbeginn im September 1939 verhaftet und nach Stutthof verbracht. Er starb dort im Herbst 1944. 

Jack Mandelbaum wandert kurz nach Kriegsende in die USA aus. Er gründet eine Familie und ist beruflich erfolgreich; es geling ihm, die Erinnerungen an den Holocaust lange von sich fernzuhalten. Bis er 1975 von einem amerikanischen Nachbar gefragt wird, was für Sportarten man in Auschwitz treiben konnte. Ihm wird bewusst, wie wenig die Menschen um ihn herum über die Konzentrationslager und den Holocaust  wussten. Er gründet daraufhin in Kansas City ein Holocaust-Bildungszentrum. Er finanziert auch die Errichtung und Erhaltung des Denkmals für Jüdische Gefangene in der heutigen Gedenkstätte Stutthof. 

Und obwohl er in diesem Verfahren nicht als Zeuge aussagt leistet er einen überaus wichtigen Beitrag zu diesem Verfahren. Denn Jack Mandelbaum finanzierte die englische Übersetzung der einstigen Doktorarbeit von Frau Danuta Drywa, des Buches ,The Extermination of Jews in Stutthof Concentration Camp‘, das als Standartwerk zum Komplex Stutthof vom Sachverständigen Dr. Hördler immer wieder bei der Erstattung seines Gutachtens zitiert wurde.“

„Frau Halina Strnad wurde mit ihren beiden Eltern im Jahr 1940 aus der Heimatstadt Posen in das Ghetto Litzmannstadt verbracht. Im Sommer 1944 kommt die Familie nach Auschwitz. An der dortigen Rampe sieht Frau Strnad ihren Vater zum letzten Mal. Im September 1944 werden Mutter und Tochter nach Stutthof verbracht. Die Mutter erkrankt Anfang 1945 am Fleckfieber und stirbt in den Armen ihrer Tochter. Halina Strnad überlebt.  

1948 wandert sie nach Australien aus. Im Jahr 2011 schreibt sie unter Ihrem Mädchennamen Halina Wagowska das Buch ,The Testimony‘, ein eindrucksvolles Zeugnis des Holocaust. Danach möchte Frau Strnad sich nicht mehr erinnern müssen und sie möchte nicht mehr Opfer sein. Doch das Hamburger Verfahren gegen Bruno Dey und das Verfahren hier in Iztehoe nimmt sie zum Anlass, erneut Zeugnis abzulegen, weil sie und ihre Leidensgenossinnen in Stutthof es sich wechselseitig versprochen haben, dies so lange wie möglich zu tun.

Halina Strand war für mich eine Freundin. In Ihrem Wohnzimmer hing ein Foto meiner Tochter an der Wand. Ihre Videovernehmung in diesem Verfahren war ein letzter Kraftakt. Wenige Wochen danach starb sie im Alter von 95 Jahren.“ 

„Herr Zigi Shipper ist Überlebender von Auschwitz und Stutthof. Nach Stutthof kommt er mit einem jener Großtransporten aus Auschwitz. Aus Stutthof wird er über die Ostsee nach Neustadt evakuiert, in einer der Barken, die dort am 2. Mai 1945 in der Bucht ankern. Er überlebt die Gewaltexzesse vom 3. Mai und wird befreit. Er ist in einem so schlechten Zustand, dass er drei Monate lang im Krankenhaus behandelt werden muss. Vor seiner Auswanderung nach England lebt er für eine kurze Zeit in Hamburg.

Zigi Shipper gründet eine große Familie und setzte sich noch bis vor wenigen Jahren als Zeitzeuge engagiert für das Gedenken an den Holocaust.  

Im Jahr 2016 reist er zusammen mit dem von Herrn Kollegen von Münchhausen (Anmerkung der Redaktion: Nebenklagevertreter Ernst Freiherr von Münchhausen) vertretenen Überlebenden Manfred Goldberg nach Stutthof, zusammen mit Mitgliedern der britischen königlichen Familie, Prinz Andrew und seine Frau Kate.  Beide Überlebende führen das königliche Ehepaar durch das Lagergelände, bewacht vom britischen Geheimdienst. Doch als Zigi Shipper nach dieser Führung bemerkt, dass eine gruppe polnischer Überlebender zwar anwesend ist, aber doch auf Abstand gehalten wird, bricht er das Sicherheitsprotokoll. Er besteht energisch darauf, dass alle Überlebende zusammengesetzt werden.“

„Der Nebenkläger Marek Dunin-Wasowicz wird als junges Mitglied des polnischen Widerstands im Mai 1944 zusammen mit seinem Bruder Krzysztof nach Stutthof verbracht. Beiden Brüdern gelingt auf dem sogenannten Todesmarsch Anfang 1945 die Flucht.

In seiner Videovernehmung aus einem Warschauer Gerichtssaal berichtete er uns nicht nur vom Hunger und Kälte und Erschöpfung und dem Geruch brennender Leichen. Er berichtet auch sehr offen von einer Krankheit, mit der die Gefangenen von ihren Peinigern infiziert wurden, und zwar von der Gleichgültigkeit, der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid Anderer, denn irgendwann konnte man nur an das eigene Überleben denken.

Insgesamt drei der polnischen Nebenkläger kämpften als Soldaten und Soldatinnen der sogenanten AK, der Armia Krajowa – übersetzt Heimatarmee – im Warschauer Aufstand, dessen Nachwirkungen auch in Stutthof deutlich spürbar werden.“  

„Herr Piotr Lubienski mischt sich nach Zerschlagung des Aufstands unter die aus Warschau deportierten Zivilisten und wird in das Durchgangslager 121 in Pruszkow verbracht und von dort aus nach Stutthof. Ähnlich wie der Nebenkläger Shipper, wird Herr Lubienski aus Stutthof über die Ostsee nach Neustadt evakuiert und ist Zeuge des dortigen Massakers. Herr Lubienski starb im März dieses Jahres im Alter von 95 Jahren.“

„Die Nebenklägerinnen Frau Maria Kowalska und Frau Helena Majkowska kämpften in der gleichen AK Einheit in Warschau. Sie wurden gefangen genommen und zusammen mit 40 weiteren Soldatinnen des Aufstands nach Stutthof verbracht und dort im Block 27 des neuen Lagers untergebracht. In Stutthof gelten sie offiziell als Kriegsgefangene. Unter den Mithäftlingen genossen diese 40 Frauen als sogenannte Pistolen-Frauen hohes Ansehen.

Frau Kowalska wurde am 25. Januar 1945 auf einen „Todesmärsch“ geschickt und konnte auf dem Marsch fliehen. Frau Majkowska blieb in Stutthof bis zur Befreiung des Lagers am 9. Mai 1945.

Für diese Nebenkläger war der Warschauer Aufstand das prägende Ereignis des zweiten Weltkriegs, mehr noch als Stutthof. Der Aufstand dauert vom 1. August bis zum 2. Oktober 1945. Die Aufständischen werden geschlagen. 15.000 Kämpfer der Heimatarmee werden getötet.“

Rajmund Niwinski wurde 1971 in Breslau geboren und studierte in den 1990ern Jura in Trier. Seit 2003 ist er selbstständiger Rechtsanwalt in Düsseldorf.

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