Auf den Spuren der Vergangenheit

Grau in grau – 30 Jahre Mauerfall

Grau in grau – 30 Jahre Mauerfall

Grau in grau – 30 Jahre Mauerfall

Peter Buhrmann
Apenrade/Aabenraa
Zuletzt aktualisiert um:
Klaus Benthin vor dem Forsthaus der Heimvolkshochschule am Seddiner See (ehemalige Kaserne der Nationalen Volksarmee). Foto: Buhrmann

Peter Buhrmann hat sich auf die Spuren des Mauerfalls begeben – und dabei drei große Persönlichkeiten getroffen.

Peter Buhrmann

 Peter Buhrmann ist promovierter Germanist von der Universität Aarhus. Er ist Sohn eines deutschen Vaters und ist in Nordjütland zweisprachig aufgewachsen. Als er 2004 nach Apenrade gezogen ist, kam er zum ersten Mal mit der deutschen Minderheit in Berührung. 

 

Vor mir liegt ein faustgroßer, glanzloser Betonklotz. Mit seiner Gerhard-Richter-grauen Farbe macht er den Eindruck, er würde auf der Stelle alles Licht verschlingen. Rechts unten sind kaum bemerkbar noch die Spuren seines Eisenmarks eingeschrieben, das längst verrostet und deshalb verschwunden ist. Hilf- und nutzlos ist der Klotz, wie er auf dem Tisch vor mir liegt.

Seine Existenzberechtigung als Schutz von Volk und Staat ist ihm von einem Tag auf den nächsten entzogen worden; aus der Mauer in Berlin herausgebrochen habe ich ihn am Sonnabend, 11. November 1989, zwei Tage nach dem Mauerfall.

28 Jahre stand die Mauer, jetzt ist sie schon 30 Jahre weg. In Verbindung mit diesem Artikel hatte ich auch das große Glück, ein Interview mit Lothar de Maizière, dem letzten Ministerpräsidenten der DDR, führen zu dürfen, und ich habe ihn auf dem Kurfürstendamm mitten in Berlin getroffen.

In seinem Büro steht auch ein etwas größerer Stein. Das ist ein Bauteil aus dem Brandenburger Tor. De Maizière hat sich nach dem Ende seiner recht kurzen politischen Karriere für die Stiftung Denkmalschutz Berlin eingesetzt. Ganz passend steht bei dem Mann, der einer der Hauptakteure der deutsch-deutschen Einheit war, ein Stein der Einheit und nicht ein Mauerteil.

Der ehemalige Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, mit einem Stein aus dem Brandenburger Tor. Foto: Buhrmann

Erste Begegnung

Meine erste Begegnung mit der Mauer in Berlin liegt ungefähr 35 Jahre zurück. Als kleines Kind haben die vielen Gewehre, Wachttürme, Hunde und Todesstreifen einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.

Ich weiß noch wie ich an der Mauer stehend an die deutsch-dänische Grenze gedacht habe – die Fahndungsplakate in Krusau mit den unheimlichen schwarz/weiß/grauen Bildern von Mitgliedern der Roten Armee Fraktion waren noch, frisch in der Erinnerung. Von Flensburg bis Berlin und darüber hinaus war Deutschland ein Land, das sehr unheimlich wirkte auf ein kleines Kind.

Bei dem Besuch in Berlin ergab sich die Möglichkeit, zusammen mit meinem Vater auch die Zonengrenze zwischen West und Ost am Bahnhof Friedrichstraße überschreiten zu dürfen. Im Grenzgebäude wurde ich von Soldaten aus der Nationalen Volksarmee aus unausgesprochenen Gründen weggezogen und zu einer Fotozelle gebracht. Nachdem ich fotografiert worden war, durfte ich mich meinem Vater wieder anschließen, und wir konnten mit unserem Vorhaben weitermachen. An der Grenze herrschte Willkür.

Später im Leben habe ich ganz andere Grenzen überschritten, ich durfte nach China und in die Innere Mongolei, ich habe in Namibia in Südwestafrika in einer Privatschule Deutschunterricht für Kinder aus den lokalen Townships gegeben, und ich verbrachte ein Jahr in den Vereinigten Staaten, in Idaho.

Grau in grau

Nirgends in der Welt habe ich davor oder danach einen so großen Unterschied erlebt, wie den nur zwei bis drei Schritte beanspruchende Übergang von West- nach Ostberlin. Auf einmal war schlagartig alles anders. Hier war alles in Augenhöhe, alles klein, jedenfalls die Autos, die Geschäfte und irgendwie auch die Menschen.

Auch war hier eine ominöse Ruhe, die Westberlin nicht kannte – es war, als ob man sich drücken würde. Die Architektur aber war dagegen gewaltig und offensichtlich für die ganz große Pose angelegt – aber sie war grau. Grau in grau schien für mich das Motto dieses Landes zu sein. Das Brot, die Milch, die Häuser, die Straßen, ja selbst die Gerüche in den Zügen. Alles grau.

Der 9. November 1989 markiert den Höhepunkt einer Entwicklung, die vielleicht 1981 mit den Streiks in Gdansk, 1985 mit der Machtübernahme Gorbatschows oder im Herbst 1989 mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig ihren Anfang nahm.

Am 7. Oktober 1949 war die DDR gegründet worden und hatte sich als sozialistische Alternative zur Bundesrepublik definiert. Sich als Staat stabilisiert aber hat sich das Land nicht. Deshalb musste am 13. August 1961 die Mauer her. In der Führungsriege der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hat man sich Jahr für Jahr an diesem Datum getroffen, um den heimlichen Geburtstag der DDR zu feiern. Dass die DDR als Konsequenz des Mauerfalls unterging, könnte die Vermutung unterstützen, dass sie auch erst wirklich mit dem Mauerbau geboren wurde.

Verbundenheit

In Verbindung mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls habe ich drei Interviews mit Menschen geführt, die in den bewegten Tagen und Monaten vor und nach dem 9. November 1989 je auf ihrer Weise aktiv waren. Alle drei sind verbunden, unter anderem über ihr Verhältnis zur Kirche und Bildungsarbeit. Alle drei sind in der DDR geboren und aufgewachsen.

Hans-Christian Maaß wurde 1974 aus der DDR ausgebürgert und lebt seither in der Bundesrepublik. Er war sechs Jahre lang Leiter einer Bildungseinrichtung in  der Lüneburger Heide und wurde später Berater des Ministerrats der DDR für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Sein Freund Dr. Klaus Benthin hat einen landwirtschaftlichen Hintergrund und stammt aus Wildenbruch bei Berlin wie Hans-Christian Maaß auch. Nach der Wende war Klaus Benthin politisch aktiv und an der Gründung der Heimvolkshochschule am Seddiner See in einer ehemaligen Kaserne der Nationalen Volksarmee maßgeblich beteiligt. Heute lebt er in Wildenbruch und leitet die Heimvolkshochschule.

Lothar de Maizière beschrieb einmal in einem Interview sein Arbeitsleben als einen einzigen Abstieg: Angefangen hat er als Musiker, dann wurde er Anwalt und daraufhin Politiker. Am 10. November 1989, am Tag nach dem Mauerfall, hat er sich zum Vorsitzenden der CDU-Ost wählen lassen, ohne wirklich zu wissen, was damit auf ihn zukommen würde. Vier Monate später fand er sich dann als Ministerpräsident der DDR wieder, und fünf Monate später unterschrieb er stellvertretend für 16 Millionen Bürger der DDR den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Einheit ermöglichte und den Zweiten Weltkrieg beendete.

Kurz vor dem Examen exmatrikuliert

Sehr geehrter Herr Maaß, Sie sind Jahrgang 1950, Pfarrerssohn aus Wildenbruch ca. 30 Kilometer außerhalb von Berlin und somit in der DDR groß geworden. Können Sie in kurzen Zügen Ihre Geschichte zusammenfassen?

„Ich bin der Sohn ostpreußischer Eltern, die als Folge des Krieges ihre Heimat verloren hatten. Mein Vater war evangelischer Pastor, und 1953 zog er nach Wildenbruch am Seddiner See. Zu diesem Pfarrsprengel gehörten auch die Gemeinden Seddin und Neu-Seddin.

Oberschule in Potsdam zu besuchen und konnte dort das Abitur ablegen. Als Erich Honecker danach den Posten von Ulbricht übernahm, wurde es für Kinder aus kirchlichen Elternhäusern wesentlich schwerer, ja oftmals unmöglich, das Abitur abzulegen bzw. zu studieren.
Als ich nach dem Abitur eigentlich Politikwissenschaften studieren wollte, weil ich in der Schule in diesen Fächern nicht schlecht war, zeigten sich die Möglichkeiten für einen Studenten mit kirchlichem Hintergrund doch als begrenzt.

Deshalb habe ich angefangen, Landwirtschaft zu studieren. 1972 stand ich kurz vor dem Abschluss des Studiums und wurde von der Uni exmatrikuliert. Daraufhin habe ich mit zwei Freunden einen nicht erfolgreichen Fluchtversuch über die Ostsee unternommen, wurde in der DDR inhaftiert und kam 1974 durch Freikauf der Bundesregierung in die Bundesrepublik.

Wichtige Rolle im vereinten Deutschland

1976 habe ich dann schließlich mit zwei Jahren Verspätung mein Studium an der Technischen Universität Berlin beendet. In der BRD später hatte ich das Glück, persönlicher Referent für den niedersächsischen Kultusminister Dr. Werner Remmers zu werden, der für mich ein wichtiger Lehrer und großes Vorbild gewesen ist.

Über ihn kam ich in Verbindung mit der Bildungsstätte Barendorf in der Ostheide bei Lüneburg. Hier war ich in den Jahren zwischen 1982 und 1986 Leiter. Wir haben uns in Barendorf unter anderem intensiv mit der deutschen Gegenwartsgeschichte und der Teilung auseinandergesetzt. Im Vergleich zu anderen Bildungsstätten waren wir hier sehr stark engagiert. Somit unternahmen wir zusammen mit unseren Teilnehmern der verschiedensten Altersgruppen zum Beispiel 1985 nicht weniger als 52 Reisen in die DDR.

Nach meiner Zeit als Leiter der Heimvolkshochschule Barendorf bin ich dann nach Bonn gewechselt und habe dort zunächst die Funktion des stellvertretenden Sprechers der CDU Deutschlands übernommen. Später wurde ich Sprecher des Bundesverkehrsministeriums und des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Nach der Maueröffnung im November 1989 und der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 wurde ich zu einem der ersten Berater der frei gewählten DDR-Regierung berufen. Meine Aufgabe bestand darin, den noch vorhandenen Propaganda-Apparat der DDR abzubauen und ein Amt des Regierungssprechers der neuen gewählten Regierung aufzubauen.

Meine Kenntnisse der Verhältnisse in der DDR und im gesamten Deutschland waren in den Folgejahren dann Voraussetzung für meine verantwortlichen Beschäftigungen bei großen Unternehmen wie zum Beispiel VW, Daimler-Benz und Schaeffler AG.“

Das Gemeindehaus in Wildenbruch Foto: Buhrmann

Ein Fußballspiel wurde zum Verhängnis

Sie haben also Geschichte in und Erlebnisse mit beiden Teilen des geteilten Deutschlands. Können Sie den Hintergrund für den Umzug aus der DDR in die BRD genauer erläutern?

„Ich studierte Landwirtschaft an der Humboldt Universität in Ostberlin. Dieses Studium habe ich bis kurz vor der Diplomprüfung ohne Probleme absolviert. 1971, als Teil der Qualifikation für die damaligen Fußball-Europameisterschaften, fand in Warschau in Polen am 10. Oktober ein Spiel zwischen Polen und der BRD statt.

Ich als glühender Fußballfan wollte da unbedingt hin und habe mir zusammen mit zwei Freunden Karten besorgt. Das war ein ganz tolles Erlebnis. Wir haben beim Abholen der Tickets im Mannschaftshotel unter anderem mit Franz Beckenbauer und Günter Netzer sprechen können – das war damals problemlos möglich.

Als wir nichtsahnend aus Polen zurückkamen, wurden wir von der Universität exmatrikuliert. Wir als Studenten einer Hochschule hätten uns als Vorbilder aufzuführen und ein Fraternisieren mit dem Klassenfeind, das heißt, ein Fußballspiel zu sehen, sei als Verrat gegen den DDR-Staat einzustufen.

Man hatte seitens der Uni sogar dafür gesorgt, dass alle unsere Mitstudenten Papiere unterzeichnen mussten, die belegten, dass wir uns immer verräterisch gegenüber dem DDR-Staat benommen hätten. Ich hatte genug von Machtstaat, Kontrolle und Willkür und entscheid mich zu fliehen!

Zusammen mit einem Kumpel habe ich in der nächsten Zeit trainiert, damit wir in einem Schlauchboot von Rügen nach Falster in Dänemark rudern konnten. Ein etwas waghalsiges Unterfangen. Wir aber haben unser Vorhaben durchgezogen. In den Gewässern vor Falster sind wir aber mit unserem Schlauchboot nach 25 Stunden einem norwegischen Frachter, in der DDR gebaut und auf Probefahrt, begegnet.

Perverse Logik der DDR

Der Kapitän des Bootes hat mir gegenüber offen gestanden, dass er uns liebend gerne auf der dänischen Seite der Grenze ins Wasser gelassen hätte, dass aber er selbst in höchste Gefahr geraten würde, wenn irgendjemand aus dem Boot auch nur den leisesten Ton gegenüber der Stasi abgeben würde.

So pervers also war die Logik in der DDR – Vertrauen unter den Menschen wurde weniger hoch eingestuft als die Furcht vor Verrat. Also nahm er uns mit nach Rostock zurück, wo wir der Stasi übergeben wurden. Das Verhör war furchtbar. Ich kam für drei Monate ins Gefängnis. Durch eine völlig unerwartete Amnestie kam ich zwar wieder ,frei‘. In der DDR musste ich aber arbeiten, um nicht als sogenanntes „asoziales Element“ wieder eingesperrt zu werden, also habe ich in einem Heim für Körperbehinderte der Kirche Toiletten geschrubbt und Ähnliches. Mein Vater hat mich übrigens, als ich aus dem Gefängnis kam, mit dem Satz empfangen: ,Wärst du doch lieber im Gefängnis geblieben, dann hätte dich die Bundesrepublik doch wenigstens freikaufen können.‘

Ich hatte genug von der DDR, und auch heute noch ist bei mir keine Spur von Ostalgie. Rückblickend aber ist mir klar, dass ich großes Glück gehabt habe: Vieles hätte ganz anders gehen können. 1974 hatte auch der Staat genug von mir und am 22. Oktober wurde ich ausgebürgert – der wichtigste Tag meines Lebens.“  

Vielen ist es viel, viel schlimmer gegangen

Exmatrikulation von der Uni, lebensgefährlicher Fluchtversuch, Verhör, Inhaftierung, Ausbürgerung: Und dennoch sprechen Sie von Glück?

„Ja, das tue ich. Verstehen Sie, meine Biografie war nur Teil des ganz allgemeinen Betriebsgeräusches der DDR. Vielen ist es viel, viel schlimmer gegangen. Die ganze Geschichte hat mir viel Kraft und Disziplin für den Rest meines Lebens gegeben. Wenn man einmal im Gefängnis gewesen ist, weiß man, welchen Wert Freiheit hat – ich jedenfalls habe es niemals vergessen. Darum ist mir auch wichtig zu unterstreichen, dass ich, als ich als Berater der ersten frei gewählten DDR-Regierung den Propagandaapparat der DDR abzubauen half, das ohne Revanchismus tat. Ich habe nicht die Gelegenheit genutzt, mich bei dem einen oder anderen zu rächen. Wir haben die Aufgabe sachlich gelöst.“

Im Frühjahr und Sommer von 1990 waren Sie am Einheitsprozess beteiligt. Lothar de Maizière, der letzte Regierungschef der DDR, schreibt in seinen Erinnerungen, dass es „ohne verrückte Köpfe wie Sie“ zu keiner Einheit gekommen wäre. Wie sind Sie an die Aufgabe herangegangen?

„Die Bildungsarbeit liegt mir sehr am Herzen, und ich hatte viel Erfahrung in Barendorf gesammelt. Im Herbst von 1989 musste eine Brücke zwischen den potenziellen sozial-gesellschaftlichen Konflikten und dem Prozess der Einheit gebaut werden. Eine Brücke, die bei Gott nicht einfach zu bauen war und aus den Kirchen und den Bürgerbewegungen bestand. Diese machten im Grunde genommen eine sehr effektive, schnelle und intensive Bildungsarbeit. Und es ist ein großer geschichtlicher Erfolg, dass diese Bildungsarbeit so gut gelang, dass die Mauer, ohne dass auch nur ein einziges Mal geschossen wurde, gefallen ist.

Ich kannte die DDR aus den ersten 20 Jahren meines Lebens und die BRD aus den letzten 20. Nicht viele hatten diese doppelte Kenntnis. Ich habe im gesamten Prozess versucht, sämtliche demokratische Bewegungen zu unterstützen. Und weil ich den doppelten Hintergrund hatte, habe ich immer Kompromissbereitschaft, Gespräch und Verständnis in den Vordergrund gerückt.

30 Jahre lang wichtige Werte vergessen

Die Voraussetzung für Aufarbeitung und Unterstützung dieser menschlichen und für die Gesellschaft so wichtigen Qualitäten war da: Man freute sich in der DDR riesig über die neu gewonnene Freiheit, und deshalb ärgert es mich unglaublich, dass wir als Gesellschaft die letzten 30 Jahre es versäumt haben, über genau diese Werte zu sprechen.

Wir haben in der heutigen Gesellschaft die Kompromissfähigkeit verlernt. Wir verstehen die politischen Entschlussprozesse nicht mehr und fühlen uns deshalb nicht mehr beteiligt. Es ist für mich ganz klar: Wenn man Politikverständnis, Dialogbereitschaft und demokratische Gesinnung nicht stetig hegt und pflegt, verwelken sie und sterben aus.“

Sie haben mir erzählt, dass Sie schon zur Wendezeit Angela Merkel gut gekannt haben?

„Ja, das stimmt. Sie war im Herbst 1989 Mitglied der Partei Demokratischer Aufbruch und in dem Zusammenhang für die Pressearbeit verantwortlich. Sie und ich waren sozusagen Kollegen. Ich habe sie gut gekannt, und als Lothar de Maizière nach den gewonnenen Wahlen vom 18. März 1990 auf der Suche nach einem Pressesprecher für seine neue Regierung war, habe ich ihm Angela Merkel vorgeschlagen.

Angela Merkel empfohlen

Später hat Lothar de Maizière Helmut Kohl Frau Dr. Merkel dann für das Amt der Bundesministerin für Frauen und Jugend empfohlen. Die heutige Kanzlerin trägt für meine Begriffe ihre Geschichte mit sich. Merkels Kanzlerschaft ist von Disziplin, solider Vorbereitung und Bescheidenheit geprägt.

Sie ist in vielerlei Hinsicht eine unspektakuläre Kanzlerin. Sie ist das Gegenteil von Helmut Kohl, der weitgehend einerseits mit der Wiedervereinigung und andererseits mit der Parteispendenaffäre verbunden wird.

Solche Höhen und Tiefen wird es in Merkels Zeit nicht gegeben haben, dafür verhält sie sich pragmatisch und nüchtern zum Alltagsgeschäft, und das hat ihr viel Respekt gegeben. Auch sie geht an die Arbeit, ohne mit der Vergangenheit abrechnen zu müssen. Sie hat die Kompromissfähigkeit, von der ich sprach, und das hat für mich auch etwas mit ihrem Hintergrund und ihren Wendeerlebnissen zu tun.“

Welche Ereignisse sind für Sie die wichtigsten in den Wendejahren 89 und 90?

„Selbstverständlich ist die Bewegung in der Bevölkerung der DDR, die zum Mauerfall am 9. November führte, überaus wichtig. Diese Bewegung ist nämlich die Voraussetzung für den Höhepunkt des Gesamtprozesses, der vom Zwei-plus-Vier-Vertrag ausgemacht wird.

Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und die zwei Deutschlande unterzeichneten ein Papier, das de jure den Zweiten Weltkrieg zum Abschluss brachte. Erst mit der Unterzeichnung konnten die Truppen, die Deutschland besetzt hielten, zurückgezogen werden. Erst mit der Unterzeichnung war der Weg für die Wiedervereinigung frei.

Sensation: Erzfeinde fanden zusammen

Es ist für mich eine Sensation, dass ehemalige Erzfeinde in dieser Weise zusammenkommen konnten. Das sagt viel über die Zeit aus. Auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag folgte der Einigungsvertrag, der die DDR auflöste und die Einheit definierte.

Diese 800 Seiten haben einen sehr hohen Vollständigkeitsgrad und bildeten eine gute Grundlage. Ich hatte das Glück, bei der Gesamtkommunikation um den Einheitsvertrag herum ein wenig mitwirken zu dürfen. Das Schwierigste von vielen Schwierigkeiten zu der Zeit war, dass wir auf einmal die DDR abbauen und die Einheit aufbauen mussten. Alte Strukturen, die tief in Köpfen und Seelen verankert waren, mussten in kürzester Zeit beseitigt werden zugunsten von neuen Strukturen, die niemand kannte.

Ich weiß noch, wie ich einem Mitarbeiter eine Aufgabe stellte. Er fragte mich, wie ich ihn kontrollieren würde, woraufhin ich einfach antwortete: Ich vertraue Ihnen. Am nächsten Tag stand er wieder in meinem Büro, und verärgert habe ich gedacht, er hätte wohl die Aufgabe nicht richtig verstanden. Er aber schenkte mir einen Räucheraal – ein in der DDR hoch geschätztes und seltenes Gut.

Ich, der von Seiten der DDR so viel Böses über mich habe ergehen lassen müssen, schenke ihm mehr Vertrauen als 40 Jahre lang dieser Staat – so sagte er. Deshalb wollte er mir ein Geschenk machen. Bei geschichtlichen Ereignissen wie im Alltag: Es geht immer um Vertrauen. Im Großen wie im Kleinen. Das ist vielleicht das Allerwichtigste.“

Ein Stück weit fehlt mir diese Gemeinschaft

Ich treffe Dr. Klaus Benthin in der Heimvolkshochschule am Seddiner See, eine Bildungseinrichtung ungefähr 30 Kilometer außerhalb von Berlin. Klaus hat Landwirtschaft studiert und hinterher auch noch promoviert. Landwirtschaft gehört zur Kernkompetenz der Heimvolkshochschule, und sie ist eine von sechs Bildungseinrichtungen, die nach der deutsch-deutschen Einheit in den neuen Bundesländern entstanden sind.

Klaus hat mir versprochen, an diesem Vormittag nicht nur die Schule, sondern auch seinen Heimatort Wildenbruch zu zeigen. Somit fahren wir zusammen die nur wenige Kilometer kurze Strecke, ein kleines Stück Mark Brandenburg, von der Schule nach Wildenbruch zum kleinen Hof, den Klaus mit seiner Familie bewohnt. Hier also bist du zu Hause?

„Mein Heimatort ist Wildenbruch, ich bin hier aufgewachsen und ich bewohne heute noch mein Elternhaus. Hinter meinem kleinen Hof baut mein Sohn momentan sein Haus, und neben mir wohnt mein Bruder.

Den kleinen Hof haben wir schon vor der Wende landwirtschaftlich betrieben. Die rund 4.000 Quadratmeter waren mit Obst und Gemüse bepflanzt, wir hatten Gewächshäuser und eine Scheune. Mein Vater hat es stets vermieden, Teil einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zu werden. Der DDR-Staat hat Druck auf uns ausgeübt, uns zu beteiligen, zum Beispiel durften wir unser Spargelfeld nicht mehr bewirtschaften und mussten es an die LPG abgeben.

Als weiteres Stress- und Überredungsmittel wurden die Ställe und die Scheune für baufällig erklärt. Mein Vater musste die alte Scheune abreißen und zwei alte Satteldächer durch Flachdächer ersetzen – alles in Eigenleistung und unter akutem Materialmangel.

Wir haben beim Bestellen des Hofes alle mitgeholfen, und das war wichtig für unser Überleben. Wildenbruch aber war ein anderes Dorf vor der Wende. Es gab hier keine Tür und kein Tor, die abgeschlossen waren. Kinder und Tiere liefen frei zwischen Hof und Pflasterstraße. Man wurde dort mitversorgt, wo man gerade war – es wurde nicht gefragt, gezählt oder gerechnet.

Ein Stück weit fehlt mir dieses Gemeinsamkeitsgefühl. Heute sind hier so viele Autos, dass man vorsichtig sein muss, wenn man die Straße betritt.“

Die doppelte Wirtschaft der DDR

Die Wende und deutsche Einheit haben vieles verändert, sicher auch in Wildenbruch. Wie hast du diese Begebenheit in Erinnerung?

„Es war in der DDR bekanntlich eine Herausforderung, an bestimmte Dinge heranzukommen – es gab eine doppelte Wirtschaft. Ich war immer leidenschaftlicher Angler, und ich habe meine Jugend auf dem Seddiner See verbracht.

Ich weiß noch, wie es auf mich wie eine Folter wirkte, auf der Schulbank sitzen zu müssen, wenn ich wusste, dass die Aale gebissen haben. Angelrollen galten als sogenannte Bück-Dich-Ware in der DDR. Der Begriff Bück-Dich-Ware bezeichnete Gegenstände, die nicht ohne Weiteres im offiziellen Handel zu bekommen waren, und für die man sich deshalb unter den Ladentisch bücken musste.

1985 habe ich mir eine Rileh Rex Rolle organisieren können. Das war die Krönung für Angler, etwas Besseres gab es in der DDR nicht. Ungefähr zeitgleich hat mir ein Freund in der Bundesrepublik eine Shimano GT-R 3000 besorgt. Der Unterschied war nicht zu verkennen, und auch heute funktioniert die Shimano vorzüglich, was man von der Rileh Rex nicht sagen kann.

Es hat viele Schwierigkeiten zu DDR-Zeiten gegeben. Für mich persönlich war es immer ein ganz großes Problem, dass vieles doppelbödig war – oder sein musste.

Meine Kinder haben in ihren Schulbüchern Lobgesänge auf die Soldaten der Nationalen Volksarmee lesen müssen und wie der große Bruder, die Sowjetunion, sie beschützen würde. Das stimmte nicht gänzlich mit dem überein, was ich ihnen zu Hause erzählen musste. Mit der Wende war es vorbei mit der Doppelbödigkeit in diesem Sinn, mit der doppelten Wirtschaft, und besonders die ersten Jahre nach der Wende habe ich sehr positiv in Erinnerung.“

 
Die Kirche von Wildenbruch Foto: Buhrmann
Innenansicht der Kirche von Wildenbruch Foto: Buhrmann

Die Zahl der Kirchgänger stieg an

Gemeinsam fahren wir nach dem Gespräch durch das Dorf, und am Ende der kleinen Pflasterstraße zeichnet sich ein typisches Bild ab: rechts die Kirche, in der Mitte die Schule und links der Gasthof. Hier bist du also groß geworden?

„Ja, die Kirche spielte eine große Rolle für mich, und mein Freund Hans-Christian Maaß war der Sohn des örtlichen Pastors. Auch heute ist mir die Kirche wichtig. Zu DDR-Zeiten war sie innerlich mit hellblauen Wänden, ferkelroter Decke und gelbem Binnenchor verputzt und gestrichen. Der Putz gab einen modrigen Geruch von sich und nach der Wende haben wir uns in der Gemeinde zusammengetan und den Putz abgeschlagen.

Das war nur eine von vielen unabhängigen Initiativen, die in Wildenbruch unternommen wurden. Zum Vorschein kamen wunderschöne Granitbrocken aus dem 13. Jahrhundert, die wir weiß gekalkt haben. Ich erinnere mich noch gut an den letzten Pfingstgottesdienst vor der Wende mit sechs Gottesdienstbesuchern, davon drei aus meiner Familie.

Nach der Wende ist die Zahl der Kirchengänger ganz wesentlich gestiegen, und heute gibt es wieder ein reiches Kirchenleben in Wildenbruch. Vor der Wende hat die Kirche mich sogar aus einer potenziell gefährlichen Lage gerettet. Als junger Mann bekam ich von der hiesigen Polizei das Angebot, bei der Kripo zu arbeiten. Das klang ja interessant, so mit Blaulicht durch die Straßen zu rasen und Mordfälle aufzudecken. Das Angebot kam mit zwei Bedingungen: Zum einen musste meine Familie alle Kontakte zu Menschen im Westen abbrechen, und zum anderen musste ich mein kirchliches Engagement aufgeben.

Nach kurzem Hin und Her habe ich das Angebot abgelehnt, weil mir die Kirche doch zu wichtig war. Später ist mir klar geworden, dass die Stasi dadurch Personal angeworben hat, dass sie jungen Menschen das Angebot gemacht hat, bei der Kriminalpolizei zu arbeiten!“

Wahlraum im Gemeindehaus von Wildenbruch für die Kommunalwahlen am 26. Mai 2019 Foto: Buhrmann
Wahlurnen Foto: Buhrmann

Der Anglerverein kandidierte zur Wahl

„Meine ehemalige Schule liegt zwischen Kirche und Gasthof und ist heute in ein Gemeindehaus umgewandelt. Zu und nach Wendezeiten spielte dieses Haus eine wichtige Rolle. Am 6. Mai 1990 fanden die ersten freien Kommunalwahlen in der DDR statt.

Nach den Gesetzen der DDR durften nicht nur Parteien, sondern auch Massenorganisationen sich zur Wahl stellen. Die großen Volksparteien der CDU und SPD hatten sich noch nicht richtig organisiert, und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) war im Begriff, sich in die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umzuwandeln.

Also hat sich der hiesige Anglerverein engagiert, zu dessen weit über 100 Mitgliedern ich mich selbstverständlich auch zählte. Die Wahlen fielen tatsächlich so aus, dass wir die größte Fraktion im Gemeinderat ausmachten, und mein Freund aus dem Anglerverein wurde Bürgermeister.

Ich sehne mich heute noch nach diesen ersten Begegnungen mit der Demokratie und der Mitbestimmung. Wir waren 18 Mitglieder im Gemeinderat (fünf stellte der Anglerverein, vier die Freiwillige Feuerwehr), aber hinzu kamen immer 40-50 Menschen aus dem Dorf, die als Zuschauer die Sitzung umrahmten.

Diese haben bei den Debatten ihren Senf dazugegeben. Oft hat sich ein Mitglied zurückgehalten und gesagt, das könne er oder sie nicht mittragen. Diese Vorbehalte waren oft parteipolitisch ungebunden – man fand etwas gut oder schlecht und hat sich dementsprechend verhalten und geäußert.

Es hat Parteiautomatismen, wie wir sie heute aus der durchorganisierten Politik kennen, kaum oder überhaupt nicht gegeben. Wir verspürten damals ein großes Bedürfnis, uns zu beteiligen, weil uns das so lange Jahre untersagt gewesen war.“

Sitz des Anglervereins Wildenbruch Foto: Buhrmann

Ortsgebundene Demokratie setzt sich durch

Auch 2019 ist das Gemeindehaus Teil der kommunalen Demokratie, und als ich am Donnerstag, 29. August, Klaus Benthin besuche, werden gerade die Wahlurnen für die Landtagswahl für Brandenburg aufgestellt, die wenige Tage später stattfinden werden. Bei den zeitgleich durchgeführten Bürgermeisterwahlen für Wildenbruch (Gemeinde Michendorf) haben von 473 Wählern 70,2 Prozent die Kandidatin Claudia Nowka des Bündnisses für Michendorf gewählt und nur knapp 30 Prozent den Kandidaten der SPD. Also scheint sich die lokale, ortsgebundene Demokratie immer noch durchzusetzen.

Links neben der Schule und gegenüber der Kirche befindet sich ein Gasthof, der zu DDR-Zeiten schließen musste und als LPG-Büro diente. Der Gasthof wurde nach der Wende wiedereröffnet, in ein Edelrestaurant umgewandelt und zieht heute geldstarkes Publikum aus Berlin an.

Es gibt zwei Gasthöfe in Wildenbruch. In dem anderen Gasthof haben sich der Anglerverein und sein Vorstand getroffen, um Pläne und Politik zu diskutieren. In der Zeit unmittelbar nach der Wende tat sich nämlich Großes in Wildenbruch. Die Region war immer eine landwirtschaftliche Herausforderung mit sandig-trockenem Boden und wenig Wasser.

So gab es um das Dorf herum nur „krautige Brache“, wie der Schriftsteller Peter Huchel einmal diese Gegend beschrieb. Fanden sich nach der Wende keine Landwirte, welche die Fluren umsatzträchtig bestellen würden, plante dagegen schon 1992 ein Geschäftsmann mit einem berühmten Nachnamen Golfplätze bei Wildenbruch.

Golf and Country Club Seddiner See Foto: Buhrmann

„Ferdinand von Bismarck, der Ur-Ur-Enkel von Otto von Bismarck, wollte hier investieren und zwei Golfplätze bauen – einen für den öffentlichen Gebrauch und einen für Mitglieder des später entstandenen Golf and Country Club Seddiner See.

Da gab es natürlich eine rege Diskussion im Ort für und wider dieses Projekt. Es gab infrastrukturelle Herausforderungen sowie Naturschutzstatute, die beachtet werden mussten.

Ich war der Meinung, dass es für die Gemeinde doch nichts Schlechtes sei, Geld zu verdienen. Der Golfplatzbau wurde mit einem Projekt verknüpft, das 250 Familienhäuser entstehen lassen sollte, damit der Ort nicht zu einem Durchfahrtsort golfsüchtiger Berliner verkommen sollte.

Einwohnerzahl wurde fast verdoppelt

Das Projekt hat Konjunktur in die Gegend gebracht und dazu beigetragen, dass sich die Einwohnerzahl in Wildenbruch in den 90ern fast verdoppelte. Ein deutliches Zeichen für die Entwicklung wurde mit der neuen Schule gesetzt, die hier dringend nötig war. Finanziert wurde sie unter anderem durch den Verkauf von Gemeindeland – und einen Scheck des Investors Ferdinand von Bismarcks. 1991 wurde der Schulbau in die Wege geleitet, und 1998 war er fertig mitsamt Mehrzweckturnhalle.“

HVHS Seddiner See Foto: Buhrmann

Du warst auch maßgeblich an der Gründung und dem Aufbau der Heimvolkshochschule am Seddiner See beteiligt. Der große Seddiner See liegt unweit von Wildenbruch. Wie ist es dazu gekommen?

„Am 9. April 1992 wurde der Verein ,Ländliche Heimvolkshochschule am Seddiner See e.V.‘ gegründet. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der deutsch-deutschen Einheit hat sich für viele Menschen in den neuen Bundesländern alles verändert. Nicht zuletzt in der Landwirtschaft.

Ich hatte in der Bundesrepublik sehr positive Erlebnisse mit Bildungszentren gehabt. Ich war unter anderem in der Heimvolkshochschule Bad Waldsee in Baden-Württemberg gewesen und hatte deren Leiter Clemens Frede kennengelernt.

Da kam ich auf die Idee, dass man so etwas vielleicht zu Hause in Wildenbruch machen könnte – um den Menschen Orientierungshilfe und einen Ort für Dialog und Besinnung zu bieten. Am See stand damals ein Forsthaus frei, das von der Nationalen Volksarmee verlassen worden war. Dieses Haus bot sich zwar als Idealort für eine Heimvolkshochschule an, war aber auch schon von anderen Interessenten ins Auge gefasst worden.

Heimvolkshochschule: Gegen Investoren durchgesetzt

So kam es zu einem unschönen Kampf um das Haus, und dem Verein ,Ländliche Heimvolkshochschule am Seddiner See e.V.‘ wurde u. a. unterstellt, eine attraktive Immobilie für Investoren aus dem Westen kapern zu wollen. Wir haben uns aber durchsetzen können, und am 15. November 1993 konnte die Schule im Forsthaus unter Anwesenheit der damaligen Ministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, offiziell eröffnet werden.

Ich wurde als erster und bisher einziger Leiter eingestellt. Die Landwirtschaft stand nach der Wende vor großen Herausforderungen: Bei der Herstellung rechtsstaatlicher Betriebsstrukturen nach dem Ende der LPG mussten die Bodenreform und die Kollektivierung der DDR aufgearbeitet werden. Keine leichte Aufgabe.

Heute spielen auch für uns Themen wie Tierwohl, Nachhaltigkeit und Klima eine entscheidende Rolle. Die Schule aber versteht sich nach wie vor im Sinne von Grundtvig als Heimvolkshochschule mit dem Ziel, Leben und Lernen unter einem Dach zu verbinden.“

Lothar de Maizière mit Karikatur Foto: Buhrmann

Die friedliche Revolution

Sehr geehrter Herr de Maizière, wo haben Sie den 9. November 1989 verbracht?

„Ich war in der Französischen Friedrichstadt-Kirche am Gendarmenmarkt, denn die evangelische Kirche hat die Parteien der DDR zu einem Gespräch unter der Überschrift: ,Wie weiter in diesem Land?‘ eingeladen, und ich sollte als Repräsentant der CDU-Ost sprechen.

Während der Veranstaltung ist ein junger Mann hineingejagt und hat gerufen: ,Die Mauer ist gefallen.‘ Zwei Parteien aber waren noch nicht zur Sprache gekommen, und deshalb haben wir uns besonnen auf die nächsten zwei Beiträge konzentriert und sind nicht zur Mauer gelaufen.

Dieser Vorfall ist bezeichnend für die friedliche Revolution in der DDR: Wir gingen von 7 bis 17 Uhr arbeiten und haben Revolution in unserer Freizeit gemacht. Ich bin auch am Abend nicht zur Mauer gegangen, weil am nächsten Tag die Wahl zum Vorsitzenden der CDU-Ost anstand, und ich mich entschieden hatte, mich für diesen Posten zu bewerben.

Ich habe in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 nicht gut geschlafen und habe mir gedacht: Hoffentlich geht das alles gut. Im Nachgang hätte der Oberstleutnant Jäger, der an der Grenzübergangstelle Bornholmer Straße in Eigenverantwortung gehandelt hat, ein Bundesverdienstkreuz verdient. Er hat seine Leute entwaffnet und den Beschluss gefasst, jetzt machen wir auf.“

Der schnelle Aufstieg de Maiziéres

Der Vorsitz der CDU-Ost war, so wie ich es verstanden habe, Ihr erstes politisches Amt?

„Ja, das stimmt. Ich habe mich zwar in die CDU schon 1956 angemeldet und war seitdem allgemeines Mitglied. Mein erstes Amt war das des Vorsitzenden. Danach ist es schnell gegangen.

Am 18. November bin ich Kirchenminister und stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung von Hans Modrow geworden. Hans Modrow genoss zwar hohes Ansehen und hatte den Ruf, Reformer zu sein, aber ich musste mit der Kaderdisziplin der DDR Regierungstradition brechen und bin aus dem Schatten des Blockflötensystems hinausgetreten.

Ein Regieren nur mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands war nicht mehr möglich. Für die Wahlen am 18. März 1990 wurde die CDU-Ost Teil eines Wahlbündnisses. Auf einer Fahrt durch Westberlin ist mir ein Werbeposter mit der Aufschrift ,Hoffentlich Allianz versichert‘ aufgefallen, und da habe ich gedacht: Wir nennen uns doch ,Allianz für Deutschland‘.

Die Wahl hat die ,Allianz für Deutschland‘ mit 48,15 Prozent der Stimmen dann gewonnen.“

Das Tempo war hoch – die Luft bleib fast weg

Wie haben Sie die Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990 erlebt?

„Also das Tempo war so hoch, dass uns manchmal die Luft weggeblieben ist. Revolutionen haben ihr eigenes Tempo. Schon am 4. November 1989 habe ich auf dem Alexanderplatz erlebt, wie eine Million Menschen auf die Straße gegangen sind, um für Reformen zu werben.

Diese Demonstration war die erste, die vom System genehmigt worden war, und wir haben alle gespürt: Jetzt passiert etwas. Das war ein ganz großes Erlebnis. Besonders gefiel mir ein Banner mit der Aufschrift: ,Die beste Staatssicherheit ist die Rechtssicherheit‘. Das sprach natürlich einen Anwalt besonders an.

Später habe ich erlebt, wie der Witz in die Revolution Einzug hielt und Wandlitz, der Ort wo die Parteispitzen gewohnt haben, als größtes Altersheim der Republik bezeichnet wurde.

Die DDR hatte ja zwei Säulen: Die sowjetische Besatzungsmacht und die Berliner Mauer. Gorbatschow hatte schon am 25. Oktober bei einem Treffen mit dem finnischen Präsidenten den Schutz der Ostblockländer aufgehoben, und am 9. November fiel dann zusätzlich die Mauer.

Ich habe davor und danach in die Bürgerbewegungen und die Runden Tische investiert. Meine Töchter necken mich immer damit, dass ich, mitten im Trubel um Demokratie und Freiheit mich für die Runden Tischen um eine Geschäftsordnung gekümmert habe.“

Vier wichtige Dinge standen zur Wahl

Und am 18. März war es dann so weit, und aus den Wahlen ging hervor, dass die CDU-Ost stärkste Kraft geworden war. Wie haben Sie die Wahl erlebt?

„Ja, nur vier kurze Monate nach meiner Übernahme des CDU-Vorsitzes war es dann so weit. Die Wahl war eher ein Plebiszit als eine Wahl, denn es ging ja um vier Dinge: die deutsche Einheit, das Grundgesetz, die Rechtsstaatlichkeit und die soziale Marktwirtschaft, das heißt die D-Mark.

Als das Ergebnis vorlag und die CDU-Ost 40,8 Prozent der Stimmen bekommen hatte, war mir klar, dass ich mich der Verantwortung nicht entziehen konnte. Das war der größte Schreck meines Lebens! Wir waren nach der Wahl in einer ganz besonderen Situation, und in der ersten Kabinettssitzung am 12. April habe ich unseren Auftrag auf den Punkt gebracht: Wir müssen uns selbst abschaffen! Wir sollten ja nicht für die Wiederwahl arbeiten, und das war ein etwas befremdliches Gefühl. Nach der Wahl haben wir uns an die Arbeit gemacht und auch sehr hart gearbeitet. In der Zeit vom 18. März bis zum 3. Oktober hat diese Regierung 759 Kabinettsvorlagen gemacht, 143 Verordnungen erlassen, 96 Gesetze ausgeführt und 3 Staatsverträge unterschrieben. Wir waren das fleißigste Parlament in der deutschen Parlamentsgeschichte! Am 9. November 1989 habe ich 68 Kilogramm gewogen, am Tag der Deutschen Einheit nur noch 51. Ich habe mich in der Zeit zwischen dem 9. November und der Wiedervereinigung als Anwalt der 16 Millionen DDR-Bürger verstanden und deren Interessen vertreten. Wir haben ja auch viele Dinge durchgesetzt, die man in der Bundesrepublik gar nicht wollte. Einmal Anwalt, immer Anwalt.“

Menükarte vom 12. September 1990 für die Unterschreibung des Zwei-plus-Vier-Vertrags Foto: Buhrmann
Lothar de Maiziére mit der Menükarte vom 12. September1990 mit den Signaturen der Teilnehmenden Foto: Buhrmann

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist in die Geschichte eingegangen. Sie waren am 12. September 1990 in Moskau einer der Mitunterzeichner – wie haben Sie diesen Vorgang persönlich erlebt?

„Ja, das war selbstverständlich der Höhepunkt. Ich persönlich war mir dabei sehr bewusst, dass das der Friedensvertrag war, der den Zweiten Weltkrieg abgeschlossen hat. Das Dokument ist deshalb auch berechtigt ins Weltdokumentenerbe eingegangen. Ich bin kein Mensch, der sich mit Zeugnissen und Trophäen eines langen Lebens umgibt, aber ich habe die Menükarte vom Frühstück an dem Vormittag behalten. Auf der Rückseite haben wir Teilnehmer unterschrieben: James Baker, Roland Dumas, Eduard Schewardnadse, Douglas Hurd, Hans-Dietrich Genscher, ich selbst und Michail Gorbatschow. Das ist ein schönes Andenken, über das ich mich oft freue. Wenn Sie mich fragen, wie ich den Vorgang persönlich erlebt habe, möchte ich antworten, dass ich noch in Erinnerung habe, wie ich als Kind meine Großmutter gefragt habe, was der religiöse Begriff ,Gnade‘ eigentlich bedeuten würde. Da hat sie geantwortet, dass das ein großes und schwieriges Thema sei. Am 12. September 1990 habe ich den Begriff verstanden und tatsächlich so etwas wie Gnade empfunden. Die deutsche Geschichte wurde mit diesem Vertrag in gewisser Weise geschlossen. Mit Demut war das auch verbunden, ich war ja bis zum 10. November 1989 ein, wenn auch guter, doch schlichter Anwalt gewesen. Auf einmal durfte ich den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnen.“

Mit dem Wahlergebnis vom 18. März war auch klar, dass die Wiedervereinigung unverzüglich kommen sollte. Es gab ja andere Vorschläge, Günter Grass z. B. hat von zwei Staaten einer Nation gesprochen, und das deutsche Grundgesetz bot ja mehrere Möglichkeiten an.

„Ja, Günter Grass hat auch gesagt, die Teilung Deutschlands sei die gerechte Strafe für Auschwitz. Das Erbe der DDR ist ein anderes: Hat das nationalsozialistische Deutschland 6 Millionen tote Juden hinter sich gelassen, hat die DDR 6 Millionen Akten hinterlassen. Das ist schon ein Unterschied. Ich habe oft an Bertold Brechts Bukower Elegien gedacht, in denen es heißt: Wenn eine Regierung mit ihrem Volk unzufrieden ist, wäre es dann nicht praktisch, die Regierung würde das Volk auflösen und ein neues wählen? Die Friedliche Revolution in der DDR ist das beste Beispiel für ein Volk, das sich gegen die Regierung durchgesetzt hat und nicht umgekehrt. An den Wahlen am 18. März haben wir gesehen, was das Volk wollte, und danach haben wir uns als Regierung dann auch gerichtet.“

Karikatur von Lothar de Maizière, der die DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes zersägt Foto: Buhrmann

Was ist für Sie das wichtigste Ergebnis der Einheit?

„Es hat sich herausgestellt, dass Deutschland zusammengehört. Ein Beispiel für die Zusammengehörigkeit möchte ich gerne nennen: Von 1950 an bis in die 1990er haben zwei Institute an einer neuen Johann-Sebastian-Bach Ausgabe gearbeitet und zwar in Leipzig und in Göttingen – in der DDR und der Bundesrepublik also. Die Bände wurden zwar in der DDR und der BRD jeweils gedruckt, die wissenschaftliche Betreuung aber war gemeinsam. Bei Goetheausgaben ist es ähnlich gelaufen. Diese kulturellen Bündnisse sind nie abgerissen, und das hat sich mit der Einheit deutlich herausgestellt. Deutschland gehört zusammen. Wir sehen heute ein Europa, das auseinanderzufallen droht: Ich hatte damals nie damit gerechnet, dass die Tschechoslowakei auseinanderfallen würde, dann Jugoslawien, und heute will das Vereinigte Königreich die EU verlassen. Von einer Teilung Deutschlands spricht Gott sei Dank niemand! Der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD-Ost, Richard Schröder, hat sehr schön gesagt: Ich liebe alle Kinder, aber meine eigenen Kinder liebe ich ein bisschen mehr. So geht es mir mit den Ländern Europas. Zu einem Nationalgefühl ist es in der DDR nie wirklich gekommen. Das wichtigste Ergebnis des ganzen Prozesses ist aber für mich ein ganz anderes. Die größte Herausforderung in der DDR war immer, dass wir gezwungen waren, in gewissem Umfang unsere Kinder zu Janusköpfen zu erziehen. Wenn wir Hausaufgaben zu Hause gemacht haben, haben wir eine Antwort gefunden und dann nachträglich diskutiert, ob das nun auch die Antwort für die Schule sei. Der größte Gewinn ist der, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen.“

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