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Komponist Wolfgang Rihm gab den Takt seiner Generation an

Komponist Wolfgang Rihm gab den Takt seiner Generation an

Komponist Wolfgang Rihm gab den Takt seiner Generation an

dpa
Karlsruhe
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Der Komponist Wolfgang Rihm ist im Alter von 72 Jahren gestorben (Archivbild). Foto: Uli Deck/dpa

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Er war ein Weltstar der zeitgenössischen Musik und lebte doch zurückgezogen abseits der Metropolen: Wolfgang Rihm war zeitlebens ein ebenso scheuer wie genialer und produktiver Künstler.

Lebensfroh war er, immer randvoll mit Ideen und schöpferischer Kraft und trotz seines immensen Erfolgs doch gänzlich unprätentiös. Wolfgang Rihm, einer der wichtigsten Komponisten der Gegenwart, war ein Weltstar. Nun ist er im Alter von 72 Jahren in Ettlingen bei Karlsruhe gestorben.

Mit seinen mal düsteren, mal machtvoll rhythmischen, mal durchscheinend zerbrechlichen Werken rüttelte er sogar Menschen auf, die mit neuer Musik vielleicht nicht so vertraut waren. Seine Musik war so wenig elitär wie der gefeierte und vielfach ausgezeichnete Künstler selbst. 

Kaum ein Instrument, für das er nicht geschrieben hat

Der gebürtige Karlsruher hinterlässt ein unglaubliches Universum von weit mehr als 500 Werken. Ein riesiges Oeuvre, das Opern und große Orchesterwerke ebenso umfasst wie Kammermusik etwa für Violine und Klavier, Konzerte für Trompete, Horn, Cello sowie Musiktheater und Vokalstücke. Kaum ein Instrument, für das er nicht geschrieben, kaum ein Format, das er ausgelassen hat. Vom nur wenige Sekunden langen Klavierwalzer bis hin zum fast zweistündigen Monsterballett für großes Orchester «Tutuguri» war alles dabei.

Rihm belieferte die internationalen Opernhäuser, Kammermusiker rissen sich um Uraufführungen seiner Werke. Vielen seiner Schüler schrieb Rihm, der auch als Lehrer bewundert und verehrt wurde, Stücke geradezu auf den Leib. Die Hamburger Elbphilharmonie schmückte sich zur Eröffnung mit einem «neuen Rihm».

Schon mit elf Jahren machte er die ersten Gehversuche als Komponist. Später studierte er, selber noch Schüler, Komposition an der Hochschule für Musik (HfM) bei Eugen Werner Velte und ging später nach Köln, um bei Karlheinz Stockhausen zu lernen. Auch Wolfgang Fortner prägte sein späteres Schaffen, ebenso wie Luigi Nono. 

1985 wurde Rihm Nachfolger seines einstigen Lehrers Velte als Professor für Komposition an der Karlsruher Musikhochschule HfM. Ab 2016 war er künstlerischer Leiter der Lucerne Festival Academy, die sich um Nachwuchstalente kümmerte. Junge Komponisten rissen sich darum, bei ihm lernen zu dürfen.

Immerzu Begegnung mit der eigenen Endlichkeit

Ohne ständig das Rampenlicht zu suchen, war er zeitlebens umtriebig und unermüdlich. Und auch durch eine schwere Krebserkrankung ließ er sich nicht in die Knie zwingen, wie er in der SWR-Doku «Das Vermächtnis» deutlich machte: «Ja soll ich mich jetzt zum Sterben zurücklehnen? Ich fühle mich nicht so ... es geht mir gut», sagte er. 

Überhaupt, so formulierte er es später, sei ihm die Begegnung mit der eigenen Endlichkeit seit frühester Jugend nichts Fremdes. Die Fixierung auf sein bevorstehendes Ende im Angesicht der Krankheit war ihm dann manchmal zu viel. Musik war seine Kraft, «meine Atmosphäre, die mich mit geistigem Sauerstoff versorgt», betonte er kurz vor seinem 70. Geburtstag.

Geschätzt wurde Rihm nicht nur als Komponist, sondern vor allem als Lehrer und als Leitstern der modernen Musik mit einem immensen Schaffensdrang. Die Liste der Preise und Auszeichnungen, die er im Laufe seines Lebens eingeheimst hat, ist lang. Darüber freute er sich: «Man weiß, die Klänge und Noten sind angekommen.» 

Auszeichnung «stört bei der Arbeit»

Von der Arbeit ließ er sich aber auch davon nur ungern abhalten. 2003, als Rihm von der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an ihn hörte, einer der höchsten Auszeichnungen für Musik, soll er ausgerufen haben: «Wunderbar! Aber es stört bei der Arbeit.»

Die Musik des Karlsruhers ist oft düster, doch auch populär und eingängig, ohne sich anzubiedern. «Crossover» war für Rihm ein Gräuel, ein «Verbindungsgematsche». Er beherrschte die kompositorischen Mittel der Avantgarde ebenso virtuos wie traditionelle Techniken. 

Kaum eine Gattung, die er nicht bedacht hat: vom Streichquartett über Oper, Lied, Sakralmusik, Sinfonie bis hin zum Ballett. Er schuf Orchesterstücke wie das vom Klang von Bassklarinette, Kontrafagott, Celli und Kontrabässe geprägte «Dunkles Spiel», aber auch Klavierstücke wie «Mehrere kurze Walzer», die vom Spielerisch-eleganten plötzlich in wilde Ausbrüche umschlagen.

Er wusste eine gute Zigarre zu schätzen

Rihms Werke reißen den Hörer mit und sie sind - selten für einen zeitgenössischen Komponisten - ins normale Orchester- und Kammermusik-Repertoire übergegangen. Für seine Freunde komponierte er schon mal Miniaturen, so dass selbst Klavieranfänger zu Hause einen «echten Rihm» aufführen konnten. «Rihm ist ein Musiker, der über eine äußerst beneidenswerte erfinderische Leichtigkeit verfügt», sagte sein 2016 gestorbener Komponistenfreund Pierre Boulez über ihn.

Als «Schreibmusiker und Musikschreiber» und in der Vereinigung beider Formen der «charakteristischste Kopf unserer Zeit», beschrieb ihn die Jury des Robert-Schumann-Preises für Dichtung und Musik. Doch er war nicht nur künstlerisch äußerst vielseitig. Der Fan des frühromantischen Schriftstellers Novalis war auch bekennender Feinschmecker, Weinexperte, Whiskyliebhaber und wusste eine gute Zigarre zu schätzen. 

Seiner Geburtsstadt Karlsruhe ein Leben lang treu

Wie ein so barocker Mensch ein so umfangreiches Werk schaffen konnte, ist vielen ein Rätsel. Aber Rihm war eben auch ein hochdisziplinierter Arbeiter. Seine Parole: «Abends Wein, tagsüber nur Wasser!»

Seine schöpferische Kraft bezog er aus der Ruhe zu Hause: Der Vater zweier erwachsener Kinder lebte mit seiner Frau in einer Wohnung voller Bücher, Platten, Noten, Kunstwerken und einem Flügel. Er blieb seiner Geburtsstadt Karlsruhe ein Leben lang treu. Die ehrte ihn schon zu Lebzeiten, etwa mit einem Rihm-Tag zum 60. Geburtstag. 

Den 70. Geburtstag, noch inmitten der Corona-Pandemie, verbrachte Rihm stiller und zurückgezogener. Der Tod machte ihm nach eigenen Worten keine Angst. «Musik ist Leben», sagte er.

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