Diese Woche in Kopenhagen

Keine Zeit für Häme

Keine Zeit für Häme

Keine Zeit für Häme

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
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Foto: dpa

In welcher Welt sind wir gelandet, wenn Mütter ihren Kindern rote T-Shirts anziehen, bevor sie in Afrika in die Boote steigen, um zu uns zu gelangen, in der Hoffnung, dass ihre Kinder mit einem roten T-Shirt eher aus Seenot gerettet werden, fragt der Leiter des Kopenhagener Sekretariats der deutschen Minderheit in Dänemark, Jan Diedrichsen.

Der erbitterte Streit zwischen Bundeskanzlerin Merkel und ihrem CSU-Innenminister Seehofer über die Asyl- und Flüchtlingspolitik hat in Dänemark in einigen Kreisen Schadenfreude und gar Häme hervorgerufen. Nach dem Motto: Wir haben es ja schon immer gesagt; unsere „stramme“ Ausländerpolitik zeigt den richtigen Weg. 
„Zero-Toleranz“ ist der einzig wirksame Hebel, um dem steigenden Migrations- und Flüchtlingsaufkommen effektiv entgegenzutreten. Haben die DF-Politiker, Facebook-Kommentatoren und Journalisten-Hardliner Recht, wenn sie die Diskussion der letzten Tage in Deutschland als späten Sieg der Vernunft in einer verfehlten Ausländer- und Asylpolitik sehen? 

Wird Deutschland von Dänemark den richtigen Weg lernen (müssen)? Die nicht als linkslastig verdächtige Berlingske Tidende hat am Wochenende zu Recht vor Schadenfreude gewarnt. Denn, um es plastisch zu formulieren, würden sich alle Länder in Europa verhalten, wie Dänemark, wäre die Europäische Union mausetot. Wie sich dann die Frage der Flüchtlings- und Migrationspolitik gestalten würde, mag man sich nicht wirklich vorstellen. Was für Dänemark „funktioniert“ und von Seehofer teilweise angedacht wurde – Deutschland schließt die Grenzen nach dänischem Muster – hätte eine sofortige Kettenreaktion zur Folge. 

Österreich hat bereits angekündigt, dann ebenfalls die Grenzen zu schließen. Wer in Dänemark nun klammheimlich über die Krise in Deutschland jubiliert, sollte sich ausmalen, was es für Dänemark bedeuten würde, wenn alle EU-Staaten, die Politik kopieren würden. Italien, Spanien, Griechenland würden dann mit Sicherheit die Eintreffenden nicht einseitig aufnehmen, sondern weiterreisen lassen. Auch das würde zu einem Dominoeffekt wachsen und dann wäre – konsequent zu Ende gedacht – Dänemark das letzte Land im Norden. Die dänische Haltung ist nur möglich, da die entscheidenden Mitgliedsstaaten der EU weiterhin konträr zur dänischen Praxis an einer solidarischen Lösung festhalten (Merkels Mantra: „Keine Entscheidungen zu Lasten Dritter). 

Die Zahlen der Geflüchteten, die in Europa ankommen, sind derzeit so niedrig, wie vor dem Krisenjahr 2015. Aber es ist in der Tat nicht auszuschließen, dass sich ein Szenario wie 2015 wiederholt. Man muss sich nur die fatale Situation in einigen Staaten der Welt anschauen und die Tatsache hinzunehmen, dass immer mehr Menschen nicht einsehen können und wollen, warum sie ein Leben in Armut oder Unsicherheit fristen müssen, während „wir“ im Reichtum schwelgen und in Sicherheit leben. Die Frage des Umgangs mit Migration und den Geflüchteten wird unseren politischen Diskurs auch in der Zukunft prägen und dabei definieren, in welchen Gesellschaften wir zukünftig leben werden. Der deutsche Bundespräsident Steinmeier hat zu Recht angemahnt, dass wir Acht geben müssen, wie wir sprechen. Welche Sprache wir bedienen. Denn der Duktus wird immer kälter, ja menschenverachtender. Sprache gibt nicht nur die Realität subjektiv wieder, sie kreiert auch die Wirklichkeit. Daher sind alle Alarmzeichen angebracht, betrachtet man die Verrohung unserer Sprache. Wir vergessen manchmal, dass wir über Menschen reden. Ich will am Ende noch mal deutlich werden: Seit wann ist es ein Verbrechen, Menschen vor dem Ertrinken zu retten? In welcher Welt sind wir gelandet und wie verzweifelt müssen die Menschen sein, wenn Mütter ihren Kindern rote T-Shirts anziehen, bevor sie in Afrika in die Boote steigen, um zu uns zu gelangen, in der Hoffnung, dass ihre Kinder mit einem roten T-Shirt, eher gerettet werden, wenn die Boote kentern. 

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