Chronik

„Die Südtiroler Sprachgruppen-Erfahrung“

Die Südtiroler Sprachgruppen-Erfahrung

Die Südtiroler Sprachgruppen-Erfahrung

Georg Schedereit
Meran
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Südtirol-typische Haflingerpferde auf Meran Foto: Georg Schedereit

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Auch in Südtirol gibt es zwei Sprachgruppen, die nebeneinander existieren. Für Georg Schedereit ist die Zwei- und Mehrsprachigkeit der einzige realistische Weg für eine zukunftsfähige Verständigung. Das vielfältige, friedliche Nebeneinander in Europa sieht er als leuchtendes Alleinstellungsmerkmal unseres Kontinents.

Meine Heimat Südtirol war lange ein Musterbeispiel für Ethnisierung der Politik. Heute gelten wir weltweit als Modell für geglückten Minderheitenschutz. Wie das?

Ich bin in Meran zu Hause, der einzigen Stadt der Welt, in der gleich viele deutsche wie italienische Muttersprachler leben. Eher neben- als miteinander; aber nicht schlecht.

Südtirol-Alto Adige ist die nördlichste Provinz Italiens, auch die autonomste, und inzwischen die wohlhabendste. Die einzige, in der nur etwa ein Viertel der Bevölkerung italienischer Muttersprache ist. Vor 1918, vor der Annexion des südlichen Teils des österreichischen Tirol durch Italien, war es kaum ein Zwanzigstel.

Die überwältigende Mehrheit dieser autonomen Provinz ist seit Jahrhunderten deutscher Zunge. Die älteste, kleinste und am wenigsten geschützte Minderheitensprache in dieser Alpengegend ist das rätoromanische Ladinisch.  

Wir haben in Südtirol kein liebevolles Miteinander von Sprachgruppen. Aber wo gibt es das schon? Jammern gibt es auch bei uns, wie überall. Am liebsten über andere Ethnien, je fremder, desto lauter. Man braucht eben Sündenböcke für alles, was einen verunsichert, oder was man selbst nicht auf die Reihe kriegt. 

Es ist ein unspektakuläres, aber vergleichsweise erfolgreiches Nebeneinander, das wir in unserer mehrsprachigen Europaregion leben.

Ein friedliches bis freundliches, pragmatisches bis opportunistisches, respektvolles bis wohlwollendes Nebeneinander. Ist doch was, oder? Eigentlich unglaublich viel wert, finde ich; geradezu kostbar, wenn wir nicht unrealistische Ansprüche hegen – und wenn wir uns umsehen in der Welt von heute – und in der Welt von gestern. 

Sprachgruppentrennung? Ja, vor 100 Jahren: da gab es bei uns eine scharfe Trennung nach Sprachgruppen. Bald nach der territorialen Abtrennung Südtirols von Nord- und Osttirol: als Benito Mussolini damit begann, die Tiroler südlich des Brenners zwanzig Jahre lang gründlich und gröblich italienisieren zu wollen. Übrigens im vollen Einvernehmen mit seinem großen Bewunderer Adolf Hitler. 

Das hat dem Zusammenleben der Sprachgruppen schwer geschadet. Aber letztlich ist die Zwangsassimilierung der traditionell deutschsprachigen Bevölkerung südlich des Brenners den Faschisten nie nachhaltig gelungen. Ganz im Gegenteil: für die Italianità insgesamt war das nachhaltig von Nachteil, bis heute. 

Dass Assimilierungsdruck von oben oft das Gegenteil bewirkt, das ist bei uns Jahrzehnte nach dem Untergang der beiden unterschiedlichen Faschismen allen, auch deren Möchtegern-Nachfolgern, endgültig klar geworden: seit 1972, als die Republik Italien das Zweite Autonomiestatut für Südtirol erließ, und erst recht seit 1992, als Österreich den Streit um Italiens Versäumnisse, der auch bei den Vereinten Nationen aktenkundig war, für beigelegt erklärte. 

50 oder 30 Jahre nach diesen beiden Wegmarken im internationalen Minderheitenschutz beglückwünschen sich nun die höchsten Vertreter beider Staaten, der Europaregion und der autonomen Provinzen Südtirol und Trentino zu Recht zu dem, was hier seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geleistet worden ist von politischen, kirchlichen und sozialpartnerschaftlichen Persönlichkeiten – mit diskreter, aber eiserner Beharrlichkeit, strategischer Weitsicht, taktischem Geschick, konsensfähiger Intuition, gutem Willen und Wollen im besten europäischen Geist.

Schutz der Sprachminderheit statt Territorialautonomie

1946 in Paris war im Degasperi-Gruber-Abkommen ja erst einmal nur das Wesentliche formuliert worden. Es stellte kaum jemanden zufrieden, wurde lange nicht sonderlich ernst genommen. Aber jener knappe, konkrete Text wurde dann zum Grundstein für jahrzehntelange und letztlich vorbildlich erfolgreiche Verhandlungen zwischen Rom, Wien und Bozen plus Trient. Er ermöglichte nicht nur einen realistischen Interessenausgleich, sondern auch eine gewisse internationale Verankerung des Südtiroler Minderheitenschutzes, bis auf die UN-Ebene hinauf. 

In jenem Text von 1946 stand nichts von einer Territorial-Autonomie, wie sie manchen heute wünschenswerter, zeitgemäßer, gerechter erschiene als dieser besondere Schutz einer Sprachgruppe: in jenem Abkommen ging es ausdrücklich und ausschließlich um ein „Framework of special provisions to safeguard the ethnical character and the cultural and economic development of the German-speaking element“.

Die viele Jahrzehnte währenden Verhandlungen zur praktischen Verwirklichung jenes Autonomieversprechens gestalteten sich unglaublich zäh. Dabei hatte sich das demokratische Italien 1946 nur auf Grundrechte wie die folgenden verpflichtet, die für eine autochthone Sprachgruppe, der zwei Drittel der Bevölkerung angehören, eigentlich völlig unstrittig sein müssten: 

Wiederherstellung des Schulunterrichts in der Muttersprache; Wiederlegalisierung der angestammten deutschen Orts- und Familiennamen; Zweisprachigkeit in öffentlichen Ämtern und Dokumenten; gleichberechtigter Zugang zu öffentlichen Stellenausschreibungen in einer Art ethnischem Proporz („with a view to reaching a more appropriate proportion of employment between the two ethnical groups“) und sogar gesetzgebende sowie und Exekutiv-Befugnisse.

Bis die Zweisprachigkeitspflicht im öffentlichen Dienst und Stellenbesetzung gemäß Sprachgruppenproporz, samt den dafür notwendigen Zählungen, wenigstens teilweise verwirklicht wurden, dauerte es noch sehr lange. Bombenjahre mit Attentaten kamen dazwischen. Vor und hinter den Kulissen blieb die konkrete Ausgestaltung der obigen Grundpfeiler der Autonomie zwischen Rom und Bozen heftig umstritten. 

Ein heikles Thema sind bis heute die nach Sprachen getrennten Schulen und Kindergärten. Denn für die große Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung, „gebrannte Kinder“ nach den zwanzig Jahren faschistischer Totalverbote, hatte die größtmögliche Emanzipation und Trennung des eigenen vom italienischen Schulwesen höchste Priorität.

Hingegen sehen vor allem italienische, aber auch zweisprachige Familien und interethnische Bewegungen noch immer unnötige bis undurchdringliche Trennwände zwischen „ethnischen Käfigen“. Sie träumen seit langem von einem gemeinsamen mehrsprachigen Bildungssystem nach europäischem Muster, so wie es bisher in Südtirol nur auf der Hochschulebene aufgebaut werden konnte.

Sprachgruppenbezogenes Malaise, Unbehagen, Disagio wird eher auf italienischer als auf deutscher Seite geäußert, am ehesten in den Städten. Aber über die Jahrzehnte hinweg immer weniger, wie der Politikwissenschaftler Hermann Atz anhand vieler amtlicher Statistiken und Befragungen nachgewiesen hat („Europa Ethnica“ 1/2, 2022, S. 92-108).

Ganz ohne sprach-chauvinistische Regungen, Reibungen und Missverständnisse geht es wohl an keiner europäischen Sprachgrenze ab: weder in Katalonien noch im Baskenland, weder am Balkan noch in Ungarn noch in Kärnten; ja nicht einmal in der Schweiz, stolz auf ihre vier Nationalsprachen, oder in Belgien mit deren drei.

Ob sich die Südtiroler Selbstverwaltung alles in allem bisher besser bewährt hat als beispielsweise die Autonomie der Åland-Inseln (die zu Finnland gehören, aber Schwedisch als einzige Amtssprache haben) oder als die Minderheiten-Regelungen südlich und nördlich der deutsch-dänischen Grenze, das kann ich nicht beurteilen.

Neue Prioritäten, neuer Pragmatismus, neuer Pluralismus

Im 21. Jahrhundert muss die Autonomie aus mehreren Gründen zunehmend pragmatisch gehandhabt werden. Der demografisch und abwanderungsbedingt verschärfte Mangel an qualifizierten Fachkräften, die auch noch zweisprachig sein müssen, macht auch dieser Hochpreis- und Niedriglohnprovinz zu schaffen. Das beeinträchtigt Justiz, Polizei und andere staatliche Dienste, aber auch Gesundheits-, Sozial- und andere Bereiche der Landesverwaltung, der weitaus größten Arbeitgeberin Südtirols. 

Allgemein verlaufen die Trennungslinien in Südtirol heutzutage etwas weniger als früher entlang der beiden großen Sprachgruppen. Verständnisschwierigkeiten und Ängste gibt es allerdings zunehmend mit Einwanderern; sie machen inzwischen mehr als zehn Prozent der Bevölkerung aus, in Kindergärten und Schulen sogar viel mehr – ein Stressfaktor mehr für die – theoretisch einsprachigen – beiden Bildungssysteme. 

Ansonsten tritt Trennendes in Südtirol wie überall am ehesten bei konkreten gegensätzlichen Interessen und Einstellungen zutage: zwischen Stadt und Land, Tourismus und Heimatpflege, Wirtschaftswachstum und Klimaschutz, Verein und Individuum, Jung und Alt: ob es nun um die Zukunft des Wintersports geht, um die Corona Impfung, oder um Wutbürgertum – man ist durchaus auch mal geteilter Meinung; auch und gerade, wenn man die gleiche Sprache spricht und etwa auch noch der gleichen „Sammelpartei“ angehört.

Der jahrzehntelang unbestrittene ethnopolitische Zusammenhalt hat zu bröckeln begonnen. Auch in Südtirol sind Gesellschaft und Politik pluralistischer geworden.

Von militanter Einsprachigkeit zu passiver Mehrsprachigkeit

Nach meiner Erfahrung ist Zwei- und Mehrsprachigkeit, bei der man ungefähr versteht, was gesagt wird, in der eigenen Sprache antwortet, und ebenfalls in etwa verstanden wird, gesehen der einzige realistische zielführende Weg aus der Sackgasse der Einsprachigkeit hinaus in zukunftsfähige Verständigung.

Die Kenntnis anderer Sprachen bereichert uns menschlich, beruflich, wirtschaftlich und kulturell wie kaum etwas anderes. Dieses so vielfältige friedliche Nebeneinander auf so engem Raum ist für mich das strahlendste Alleinstellungsmerkmal unseres Kontinents.

Europäer, die nur die eigene Muttersprache verstehen und kaum ein Wort der anderen hören wollen, gibt es im 21. Jahrhundert immer weniger. Umso häufiger werden diese wenigen sich abgehängt fühlen müssen, unbehaglich, benachteiligt. Das sind sie ja wirklich, auch auf dem Arbeitsmarkt.

In ihrer fortdauernden Einsprachigkeit wirken sie in einer immer mehrsprachigeren Gesellschaft wie aus der Zeit gefallen. Ihre Klagen finden zuweilen Lautsprecher bei jenen Kräften, die von der ethnischen Zuspitzung jedes kleinen Sprachenstreits oder sonstigen Interessenkonflikts leben.

Sie mögen ihr Manko nicht nur auf eigene Schwächen und Versäumnisse zurückführen, vielmehr auf jene ihrer Vorfahren, ihrer Lehrerschaft, ihrer Schulbehörden, ihrer gewählten Politiker. Sie mögen auch historischen Groll oder Neid gegen anderssprachige und mehrsprachige Nachbarn in sich hochkommen lassen. Ganz zu schweigen vom globalen Sprachengewirr allüberall: es kann verwirren und verunsichern.

So kann man anfällig werden für Minderwertigkeits- bzw. Überlegenheitskomplexe, für territoriale Trennungs- und Phantomschmerzen, sogar für demografische „Todesmarsch“-Ängste, schlimmstenfalls für revanchistische, nationalistische, auch faschistische Töne, bis hin zu ethnischen Säuberungsphantasien. Alles schon mal dagewesen. Da und dort wieder im Kommen?

Wer sich hingegen – wie wohl die Leserschaft dieser Zeilen – neben der Muttersprache täglich auch einer zweiten, dritten oder gar vierten Sprache ausgesetzt sieht, wer sich sogar in mehreren Sprachen verständigen kann, der/die muss sich nie abgetrennt fühlen von der Welt von heute.

Trennend wirkt nicht das Nebeneinander von Sprachen. Sondern das Verharren in und das Pochen auf Einsprachigkeit. Das ist es, was Menschen trennt statt zusammenführt in den mehrsprachigen Kontexten der Welt von heute.

Das sage ich als Bürger von Meran, der einzigen Stadt der Welt, in der zwei große europäische Sprachen in gleicher Stärke ein relativ gutes Auskommen gefunden haben, miteinander oder genauer gesagt nebeneinander.

Georg Schedereit
Skt.Valentinstraße 2e
39012 Meran (BZ)
Südtirol/Italien

Georg Schedereit ist langjähriger Südtiroler Rundfunkjournalist bei BBC London und RAI Bozen, promovierter Politikwissenschaftler, deutsch-italienischer Doppelstaatsbürger und ehemaliger Synodalpräsident der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien. Foto: Privat
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