Gastkommentar

„Nordschleswig aus ungarischer Sicht: Die Regeln, die zur Freiheit führen können“

Nordschleswig aus ungarischer Sicht: Die Regeln, die zur Freiheit führen können

Die Regeln, die zur Freiheit führen können

Judit Kürthy
Judit Kürthy
Apenrade/Aabenraa
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Judit Kürthy
Die ungarische Journalistin Judit Kürthy ist aus der Slowakei zu Gast und blickt mit frischen Augen auf den Alltag in Nordschleswig. Foto: Cornelius von Tiedemann

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Utopie Nordschleswig: Für unsere Kollegin Judit Kürthy ist Dänemark ein seltsam aufgeräumtes Land. Sind die Menschen hier freier als in ihrer Heimat, der Slowakei? In ihrem Gastkommentar geht sie auf die Suche nach Antworten.

Ich bin für zwei Wochen in Dänemark und schreibe für eine Zeitung, die der Zeitung, für die ich zu Hause in der Slowakei arbeite, sehr ähnlich ist. „Der Nordschleswiger“ befasst sich mit der deutschen Minderheit – so wie sich „Új Szó“ mit der ungarischen Minderheit in der Slowakei beschäftigt.

Nicht nur als Korrespondentin, sondern auch als Angehörige der ungarischen Minderheit in der Slowakei bin ich neugierig auf das Leben der einheimischen Deutschen und der fleißigen Redaktionsmitglieder.

Wenn ich mich hier umsehe, habe ich das Gefühl, dass alles seinen Platz und eine bestimmte Zeit hat, und die Menschen hier halten sich so diszipliniert an dieses System, dass es wie eine unendliche Freiheit erscheinen kann.

Judit Kürthy

Ich bin erst kurze Zeit hier, und meine erste und auffälligste Erfahrung ist die sorgfältig strukturierte Umgebung. Die Menschen gehen auf dem ihnen zugewiesenen Weg, die Fahrzeuge fahren nicht schneller als die zulässige Höchstgeschwindigkeit, die Höhe des Rasens ist in jedem Garten fast gleich, vom Baumschnitt bis zur Unkrautbekämpfung, als ob jede Handlung eine Reihe bewusster, überlegter Entscheidungen wäre.

Wir haben schon mehrere Sitzungen im Medienhaus erlebt, und es war ein Vergnügen, die umfassende Diskussion über jedes Detail der Planung und Vorbereitung zu beobachten. Die Kolleginnen und Kollegen bilden sich eine Meinung, lassen sie aufeinanderprallen: Sie sind entscheidungsfreudig und selbstbewusst. 

Wenn ich mich hier umsehe, ob es nun in der Nähe oder in der Ferne ist, habe ich das Gefühl, dass alles seinen Platz und eine bestimmte Zeit hat, und die Menschen hier halten sich so diszipliniert an dieses System, dass es wie eine unendliche Freiheit erscheinen kann. Ich kann nicht allzu weit in die Irre gehen, denn so viel Vertrauen in dieses gemeinsam gepflegte mentale und strukturelle System lässt die Freiheit der Meinungsäußerung zu und damit auch die Möglichkeit der Konfrontation, die zu einem breiteren, von der Mehrheit getragenen Konsens führt.

Judit Kürthy ist im Rahmen eines redaktionellen Austauschprogramms der europäischen Minderheiten-Medienorganisation Midas beim „Nordschleswiger“ zu Besuch. Foto: Cornelius von Tiedemann

Der schwerwiegendste Verstoß gegen die Moral war bisher die laute Musik, die aus einem der vorbeifahrenden Autos ertönte. 

Judit Kürthy

Wer die nordschleswigsche Region um Apenrade oder Aabenraa im Süden Dänemarks, nahe der deutschen Grenze, besucht, wird Zeugnis von dieser Zufriedenheit ablegen können. Bitte nicht wundern, wenn dich auf der Hauptstraße die Kellnerin anlächelt, die du erst fünf Minuten zuvor kennengelernt hast und die dich nach deiner Herkunft gefragt hat. 

Oder über die Tatsache, dass die Einheimischen ganz offen vor den Augen der Passanten ihrem täglichen Leben nachgehen. Es gibt kein einziges verdunkeltes Fenster, keinen Betonzaun – der bei uns so in Mode ist – und keine Trennwand. Selbst wenn es eine gibt, ist sie eher eine Hecke. 

Für mich war es utopisch, dass es in dem riesigen Lidl in der Nähe keine Musik gab. In keinem der Läden, in denen ich war, gab es Musik. Die Räume sind weitläufig, es gibt viel Platz zum Atmen und natürlich zum Spazierengehen an der Strandpromenade. 

Dennoch kann sich diese Freiheit, die sorgfältig eingegrenzt ist, auch ein wenig einschränkend anfühlen. 

Natürlich ist es nicht möglich, die Mentalität der Bevölkerung einer fremden Region nach 24 oder 48 Stunden zu verstehen und dann in Worte zu fassen. Auch nach 24 oder gar 48 Jahren wäre dies nicht richtig. 

Allerdings frage ich mich, wie wilde Triebe in diese tüchtig aufgeräumte und schöne Umgebung passen. Vorausgesetzt, es gibt welche. Zurzeit sind sie nicht sichtbar. Der schwerwiegendste Verstoß gegen die Moral war bisher die laute Musik, die aus einem der vorbeifahrenden Autos ertönte. 

Ich bin gespannt, wie es weitergeht – und suche inzwischen einen Ort, an dem ich ohne Gewissensbisse eine Zigarette rauchen kann.

Redaktioneller Hinweis

Die in diesem Kommentar vorgebrachten Inhalte sind nicht von der Redaktion auf ihre Richtigkeit überprüft. Sie spiegeln die Meinung der Autorin oder des Autors wider und repräsentieren nicht die Haltung des „Nordschleswigers“.

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