NORDSCHLESWIG

Edzard Reuter und ein Stück Apenrader Weltgeschichte

Edzard Reuter und ein Stück Apenrader Weltgeschichte

Edzard Reuter und ein Stück Apenrader Weltgeschichte

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Edzard Reuter
Edzard Reuter, Sohn des ehemaligen Berliner Oberbürgermeisters und Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, neben dem Gemälde seines Vaters im Berliner Rathaus. Foto: Matthias Schumann/dpa

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Mit dem Tod des früheren Mercedes-Chefs Edzard Reuter endet auch ein Stück Apenrader Geschichte. Eine Geschichte, die einen (welt-) berühmten Sohn Apenrades sogar in den Brennpunkt der Weltpolitik rückte. Unvergessen ist bis heute Ernst Reuters dramatischer Berliner Appell „Ihr Völker der Welt“.

Am 27. Oktober starb der frühere Mercedes-Chef Edzard Reuter im Alter von 96 Jahren. Mit ihm geht auch ein Stück Apenrader Geschichte zu Ende, denn sein Vater, der legendäre erste Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, wurde in Apenrade geboren. Am 26. Juni 1991 besuchte Edzard Reuter die Geburtsstadt seines Vaters – unter dramatischen Umständen.  

Der Bericht von Journalistin Jutta Scheibe im „Nordschleswiger“ verrät einiges: „Als der aus Kiel kommende Hubschrauber mit dem passenden Namen ,Wiking' gestern um 16.30 Uhr in Apenrade landete, dachten die neugierigen Zuschauer wohl an einen unerwarteten Staatsbesuch. Geringer hätte er der Sicherheitsaufwand dafür auch nicht sein können.“ 

Auf dem Polizeihof des Alten Deutschen Gymnasiums war der Hubschrauber gelandet – und aus der Maschine stiegen nicht nur der Vorstandsvorsitzende der Daimler-Benz AG, Edzard Reuter, und seine Frau Helga, sondern auch mehrere schwer bewaffnete Leibwächter, die neben zahlreichen dänischen Polizeibeamten – unter den Augen von Polizeimeister Michael Mørup-Hansen – den hohen Gast aus Stuttgart in Apenrade beschützen sollten. 

Edzard Reuter
Edzard Reuter besuchte einst die Geburtsstadt seines Vaters. Foto: Privat

Der Hintergrund: Edzard Reuter war Gast mit Hochsicherheitsrisiko, besonders gefährdet, weil im Fadenkreuz der Roten-Armee-Fraktion von Baader-Meinhof, die bereits zahlreiche deutsche Industrielle ermordet hatten. Der eineinhalbstündige Besuch – vom deutschen Sekretariat Kopenhagen eingefädelt und organisiert – hatte nur ein Ziel: das Geburtshaus seines Vaters Ernst Reuter, im damaligen staatlichen Katasteramt neben dem alten Apenrader Krankenhaus, wo ein Jahr zuvor u. a. in Anwesenheit des späteren regierenden Berliner Bürgermeisters Walter Momper und des dänischen Sozialdemokraten Mogens Lykketoft eine Gedenktafel enthüllt worden war. Immo Doege, Leiter der Historischen Forschungsstelle der Deutschen Minderheit, erläuterte den Gästen die Geschichte der Familie Reuter, bevor Edzard Reuter in einem gepanzerten Wagen der Polizei zu einem kleinen Empfang ins damalige deutsche Generalkonsulat gebracht wurde.

Edzard Reuter: Stück Kern-Europa

In Anwesenheit u. a. von Amtsbürgermeister Kresten Philipsen erklärte Edzard Reuter in einer kurzen Ansprache: „Das deutsch-dänische Grenzland ist ein Stück Kern-Europa. Das ist nicht geografisch gemeint, sondern ein Beweis dafür, dass Deutsche und Dänen nach den bitteren Erfahrungen der Geschichte ein vorbildliches Miteinander gefunden haben. Mein Vater sei Deutscher gewesen, aber er war auch Europäer. Mich erfüllt es nun mit tiefer Genugtuung, dass das Werk meines Vaters heute mit der Überwindung der Teilung Europas praktisch vollendet wurde.“ 

„Der Nordschleswiger“ berichtete über den Besuch Edzard Reuters und seiner Frau Helga in Apenrade.
„Der Nordschleswiger“ berichtete über den Besuch Edzard Reuters und seiner Frau Helga in Apenrade. Foto: Archiv

Edzard Reuter: Wie viel Freude

Nach seiner Rückkehr bedankte sich Edzard Reuter in einem Schreiben an das Deutsche Sekretariat Kopenhagen mit den Worten: „Sie haben eine organisatorische Meisterleistung vollbracht, und Sie haben gemerkt, wie viel Freude wir beide an dem Besuch hatten.“ Reuter war von 1987 bis 1995 Chef des Daimler-Konzerns, ein umstrittener Visionär, dem jedoch sein Plan misslang, aus dem Autokonzern einen breit aufgestellten Technologiekonzern zu entwickeln. 

Nach seinem Ausscheiden bei Mercedes gründete er 1995 die „Helga und Edzard Reuter-Stiftung“ für Menschen und Projekte, die sich auf herausragende Weise um die Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller oder religiöser Herkunft verdient gemacht haben. 1998 wurde der Sohn von Ernst Reuter sogar zum Ehrenbürger von Berlin ernannt.  

Brief Sekretariat
Der Brief Edzard Reuters an das Kopenhagener Sekretariat der Minderheit. Foto: Privat

Wer war Ernst Reuter? 

Der Lehrer Wilhelm Reuter – der übrigens vorübergehend im früheren Gebäude des „Nordschleswigers“ an der Schiffbrücke wohnte – war seit 1889 Lehrer an der Königlichen Preußischen Navigationsschule, die 1890 gegründet worden war. Am 29. Juli 1989 wurde Ernst Reuter im Turmzimmer der Navigationsschule als zweiter Sohn von Wilhelm Reuter geboren, der in zweiter Ehe die gebürtige Wilhelmine Hagemann geheiratet hatte.

1892 zog die Familie ins ostfriesische Leer, doch damit war die Apenrader Geschichte des jungen Ernst Reuter noch nicht beendet. 

Ernst Reuter 1916 in Apenrade vermisst

Obwohl Pazifist – schon seit 1912 SPD-Mitglied – verließ er am 22. März 1915 Berlin, um seiner Einberufung Folge zu leisten – in der 1. Kompanie der 6. Jäger-Bataillon Apenrade. 

Ab April 1916 diente er an der Westfront und erlebte dort den Stellungskrieg mit den blutigen Materialschlachten. Ende Juli wurde seine Truppe zur Abwehr der Brussilow-Offensive an die Ostfront verlegt. Am 10. August 1916 erlitt er schwere Verwundungen – Durchschüsse und einen Oberschenkelknochenbruch – und geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Dort heilten seine Verwundungen langsam aus. Er war jedoch fortan zeitlebens darauf angewiesen, sich beim Gehen auf einen Stock zu stützen, weil sein rechtes Bein verkürzt blieb.

Ernst Reuter Vermisstenmeldung
Ernst Reuter galt als vermisst. Foto: Archiv

In „Lemvig Folkeblad“ als Kriegsgefangener

In Apenrade galt er jedoch zunächst als vermisst. Am 15. November 1916 meldete „Lemvig Folkeblad“ die Namen von Kriegsgefangenen – und darunter aus Apenrade auch Ernst Reuter. 

1918 wurde er zum ersten Vorsitzenden des Volga-Kommissariats gewählt, und Lenin empfahl den jungen Reuter als „brillanten und klaren Kopf“, doch nach der deutschen November-Revolution 1918 kehrte Ernst Reuter nach Deutschland zurück, gewann 1933 ein Reichstagsmandat für die SPD, doch schon wenig später wurde er als Oberbürgermeister von Magdeburg von den Nazis verhaftet, seine zweimalige KZ-Haft endete im September 1934. Anschließend floh er vor den Nazis mit seiner Familie über England 1935 ins Exil in die Türkei. 

Ende 1946 kehrte Ernst Reuter nach Berlin zurück, amtierte zunächst als Stadtrat für Verkehr und Versorgungsbetriebe. Im Nachkriegs-Berlin entwickelte er sich jedoch rasch zum wichtigsten sozialdemokratischen Politiker. Seine Wahl zum Oberbürgermeister durch die Berliner Stadtverordnetenversammlung im Juni 1947 erkannte die sowjetische Besatzungsmacht nicht an. Während der Berliner Blockade (Juni 1948 bis Mai 1949), als Berlin von den Alliierten durch eine Luftbrücke versorgt wurde, stieg Reuter zum international bekannten Repräsentanten Berlins auf. Nach der Spaltung der Stadt übte er sein Amt als Regierender Bürgermeister nur in den Westsektoren aus. 

Ihr Völker der Welt schaut auf diese Stadt 

Am 9. September 1948 appellierte Ernst Reuter in einer weltberühmt gewordenen Rede vor der Ruine des Reichstages vor mehr als 300.000 Berlinerinnen und Berlinern an die „Völker der Welt“, als er unter anderem folgende historische Worte ausrief: „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“

Ernst Reuters Brief an Harboe Kardel

1951 schrieb Ernst Reuter aus Berlin in einem Brief an Redakteur Dr. Harboe Kardel, er habe seine Geburtsstadt nicht vergessen und fügte hinzu: „Ich bin des Öfteren in Schleswig-Holstein gewesen, kenne Kiel und Flensburg und bin also innerlich Ihren Verhältnissen nicht so ganz fern. Aber ob ich einmal durch Apenrade kommen kann, wer kann das heute sagen und wissen. Einstweilen haben wir nur eine Sorge, alles zu tun, dass wir wieder frei werden, und ich glaube, dann werden auch Sie alle miteinander von manchen Sorgen befreit sein.“

Ernst Reuter und der berühmte Runenstein

Ernst Reuter erwarb sich als Berliner Bürgermeister historische Verdienste auch auf dänischer Seite um den Hairulf-Stein/„Hœrulvstenen“ bei Haberslund/Hovslund, der 1864 nach dem Krieg von dem preußischen Heeresführer Prinz Friedrich Karl nach dem Schloss Dreilinden zwischen Potsdam und Berlin entführt wurde. Lange Jahre bemühte man sich auf dänischer Seite, den Runenstein aus der Wikingerzeit des 9. Jahrhunderts wieder zurückzuholen, doch dies gelang erst durch Ernst Reuter, der sich seiner Geburtsstadt erinnerte und unermüdlich tätig war, um nach 1945 die Besatzungsmächte zur Auslieferung zu bewegen. 

1951 rollte der altersgraue Stein per Zug aus Berlin eines Tages bei Pattburg (Padborg) über die Grenze. Als der Stein am 12. November 1951 in feierlicher Weise an seinem alten Platz am Ochsenweg wieder aufgestellt wurde, gedachten mehrere Hunderte von Teilnehmenden in Dankbarkeit des Mannes, der seiner Geburtsgegend in so schöner Weise gedacht hatte.  

Der Hairulf-Stein
Der Hairulf-Stein Foto: Hjart/Wikimedia/CC BY-SA 4.0

Brennpunkt der Weltgeschichte

Einem Apenrader gegenüber äußerte Ernst Reuter 1951 in Berlin den Wunsch: „Ich würde mich freuen, bei einer Reise nach Schleswig-Holstein auch Apenrade wiederzusehen.“ 

Eine höhere Macht verhinderte diesen Wunsch: Am 29. September 1953 starb Ernst Reuter. „Die ganze Welt trauert“, schrieb „Der Nordschleswiger“ und berichtete: „Hunderttausende von Berlinern standen Spalier, grüßten Ernst Reuter mit entblößtem Haupt auf seinem letzten Weg zum Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf.“ 

In seinem Nachruf schrieb „Der Nordschleswiger“ ehrende Worte: „Heute können wir nur des wunderbaren Lebensweges dieses Mannes gedenken, den das Schicksal aus der kleinen Nordschleswigschen Fördestadt an einen Brennpunkt der Weltgeschichte führte.“

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