Dokumentation

Das ungewollte Kind: 75 Jahre Schleswig-Holstein

Das ungewollte Kind: 75 Jahre Schleswig-Holstein

Das ungewollte Kind: 75 Jahre Schleswig-Holstein

Uwe Danker
Schleswig
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Uwe Danker hielt die Festrede zum 75. Geburtstag des Landes Schleswig-Holstein. Foto: Frank Peter, Land Schleswig-Holstein

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Eine historiografische Geburtstagsrede von Uwe Danker zum 75. Geburtstag des Landes Schleswig-Holstein. Die Rede wurde am 22. August in Schleswig im Rahmen des Bürgerfestes zum Landesgeburtstag gehalten.

Die meisten Menschen hatten 1946 ganz persönliche Sorgen. Ernährungsnot, oft verbunden mit Hunger und Schwarzhandel, Wohnraummangel mit Einquartierungen oder Leben in Baracken, knappe Kohlen in harten Wintern bestimmten den materiellen Alltag vieler; auseinander gerissene Familien und Trauer um Getötete die Gefühle, zudem, wenn auch individuell unterschiedlich, das Ende der rauschartig-gewalttätigen Zeit des Nationalsozialismus.  – Überleben, Weiterleben, Umorientierung standen an.

Dabei hatten sie es hier im Norden nicht am schlechtesten getroffen: Die preußische Provinz war im Mai 1945 von britischen Truppen eingenommen und zum Teil ihrer Zone erklärt worden. Alle Herrschaftsgewalt lag zunächst bei einer Militärregierung, ab Mai 1946 bei einem zivilen Regional Commissioner.

Zur Bewältigung der dringlichsten Aufgaben übernahmen die Briten die preußischen Verwaltungsstrukturen und beauftragten demokratische Deutsche. So wurde der ehemalige Rendsburger Landrat und Widerstandsangehörige Theodor Steltzer zum Oberpräsidenten der Provinz. Aber jeder wusste, Preußen würde keine Zukunft haben, bald waren Begriffe wie „Landesverwaltung“ üblich, eine vorläufige Landesverfassung war bereits im Juni 1946 entwickelt.

Am 23. August 1946 schließlich diktierte die Verordnung Nr. 46 der britischen Control Commission for Germany in Berlin die staatsrechtliche Umwandlung preußischer Provinzen in Länder.

Das Land Schleswig-Holstein war geboren, der Anlass unserer Feier.

Manchem erscheint dieser Moment – trotz der desaströsen Rahmenbedingungen – als Vollendung der Landesgeschichte.

Frohlockende Landeshistoriker betonen gern lange Linien: Die Verbindung der Herzogtümer Schleswig und Holstein geht ja bis 1386 zurück und im Privileg von Ripen 1460 garantierte die dänische Krone den Herzogtümern „dat se bleven ewich tosammende und ungedeelt“. Nun, das ist alles kompliziert, Schleswig war ein dänisches, Holstein ein deutsches Lehen, aber beide sahen sich für Jahrhunderte herrschaftlich mit Dänemark verbunden. Über nationale Zugehörigkeiten, die uns seit 200 Jahren aufwühlen, sollte man hier eher schweigen.

Zum „geschichtlichen Erbe“ gehört das Landeswappen mit den schleswigschen Löwen und dem holsteinischen Nesselblatt. Es verschweigt jedoch manches, etwa dass 1920 nach Volksabstimmungen Nordschleswig Teil Dänemarks wurde oder dass 1937 mit Wandsbek und Altona wichtige holsteinische Städte an Hamburg gingen. Andererseits finden wir das seit 1815 zugehörige Herzogtum Lauenburg nicht in der Traditionslinie, auch die 1937 integrierte ehemals Freie und Hansestadt Lübeck sowie Eutin weisen eigene Geschichten auf.

Völlig gradlinig und räumlich klar umrissen verlief die Landesgeschichte jedenfalls nicht!

Auch können wir heute kaum historisches Handeln der Schleswig-Holsteiner*innen feiern. Denn die Verordnung Nr. 46 war schlicht ein britisches Oktroi – mit eigener Geschichte.

Die erfahrene Kolonialmacht Großbritannien hatte sich während des Krieges auf die Besatzungsarbeit vorbereitet. Höchste Priorität sollte Sicherheit vor einem möglicherweise wieder kriegerischen Deutschland besitzen; alles andere wurde von diesem Ziel abgeleitet. „The German Character“, so britische Analysen, neige zum Autoritären und zum Extremen; vor allem Preußen, der mächtigste deutsche Teilstaat, habe diese Mentalität befördert. – Eine Bewertung, die man nicht teilen muss, die aber modifiziert später auch in die deutsche Geschichtsforschung fand.

Zwei strategische Folgerungen zog man in London: Preußen wäre auf jeden Fall zu zerschlagen und ein neues Deutschland solle aus zu schaffenden Ländern erwachsen, es habe föderal, also komplex gesteuert zu sein – und demokratisch.

Das Besatzungsziel einer Demokratie beeindruckt schon, wenn man bedenkt, dass die Deutschen ihre Weimarer Demokratie preisgegeben, ja aktiv und mit Mehrheit abgeschafft hatten – mit verheerenden Folgen. Welch innere Überzeugung, wieviel Zuversicht und Toleranz mussten jene Briten mitbringen, die ab 1945 hier tätig wurden! Es waren schließlich mehr als 26.000, gesteuert von der Control Commission for Germany in Berlin.

Die Besatzungsoffiziere waren meist nicht feindselig, sondern agierten offen, engagiert – und pragmatisch. Denn ihre Aufgaben erschienen oft kaum lösbar oder widersprüchlich: Personelle Reinigung und Aufrechterhaltung des öffentlichen Dienstes, Sicherstellung von Ernährung, Wohnraum, Energie und Infrastruktur in Schleswig-Holstein, wo sich die Bevölkerung fast verdoppelte. Wiederaufbau landwirtschaftlicher und industrieller (Friedens-)Produktion, damit die Deutschen sich selbst ernährten.

Bereits die regulären Besatzungskosten belasteten den britischen Haushalt; trotzdem wurden anfangs auch Nahrungsmittel zur Versorgung der Deutschen exportiert. – Ein Handeln, das uns eine gehörige Portion Achtung entlocken darf! Denn es war Rücksicht zu nehmen auf die eigene Bevölkerung, die einen furchtbaren Krieg erlitten hatte: Strafjustiz über Kriegsverbrecher, Demontagen der Industriezweige, die so schwere Schäden angerichtet hatten – das erwartete die britische Heimat jetzt. Die Besatzungspolitik sah sich parlamentarischer und medialer, also demokratischer Kontrolle in einem gebeutelten Heimatland ausgesetzt.

Zunächst ging es um „De-Nazifikation“, die Unschädlichmachung der NS-Eliten und eine politische Säuberung. Schnell handelten die Briten pragmatisch und tolerant, um andere Besatzungsziele nicht zu gefährden.

Längeren Atem brauchte die „Re-Education“, die „Säuberung der Köpfe“ – die Demokratisierung. Diese Neuorientierung umfasste Reformen im Bildungswesen, die Schaffung freier Medien – sowie einen demokratischen Herrschaftsaufbau: Ab September 1945 durften sich erste politische Parteien gründen. Nach deren Vorschlägen ernannte die Besatzungsmacht einen „Provinzialbeirat“, der am 26. Februar 1946 im Neuen Stadttheater in Kiel zusammentrat. Als Repräsentant der britischen Militärregierung eröffnete Brigadier Gail Patrick Henderson die Sitzung, Noch-Oberpräsident Theodor Steltzer (CDU) verlas anschließend ein Manuskript, das vorher zur Bewilligung vorlag. Angeleitete Demokratisierung eben, die aber rasch voranschritt. Vorsitzende der Hauptausschüsse dieses „Ersten Ernannten Landtages“, wie wir ihn heute nennen, bildeten quasi Ministeriumsspitzen einer Koalition von CDU bis KPD.

Auf kommunaler Ebene hatte die politische Mitwirkung der Deutschen früher begonnen. Hier fanden ersten freien Wahlen im Herbst 1946 statt. Ein demokratischer Aufbau strikt von unten also. Nach den Resultaten korrigierten die Briten auch die Zusammensetzung des „Zweiten Ernannten Landtages“. Für Monate, denn am 20. April 1947 fanden erste Landtagswahlen statt. Die SPD gewann, sogar eine Zweidrittelmehrheit der Mandate, konnte folglich die „Landessatzung für Schleswig-Holstein“, eine – vorläufige dann aber doch 40 Jahre geltende – Landesverfassung gestalten, die am 12. Januar 1950 in Kraft trat, nachdem sie – immer noch – vom britischen Zivilgouverneur genehmigt worden war. 

Bereits 1950 löste eine bürgerliche Koalition die Regierung demokratisch ab – auf lange Zeit, wie sich zeigen würde.

Ich erwähne all das, weil mir wichtig ist: Für unsere Feier erscheint spektakulärer und historisch relevanter als die Landesgründung an sich der oktroyierte und begleitete Aufbau einer neuen Demokratie. Wem wir dieses großartige Geschenk zu verdanken haben, sollte nicht in Vergessenheit geraten! – Ich begrüße sehr, dass in diesem Jahr der schleswig-holsteinische Demokratiepreis an Großbritannien geht.

War waren 1946 eigentlich die Schleswig-Holsteiner*innen? Im Herbst 1946 zählte man 2,6 Millionen Menschen, eine Million mehr als 1939. Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene sorgten für einen Anstieg um zwei Drittel, den höchsten in ganz Deutschland!

Die Zugereisten erlebten Beispiele von Solidarität, auch administrative Unterstützung. Aber zumeist waren sie nicht willkommen; alles andere ist Legende. 1946 schrieb der Landeshistoriker Otto Kähler dem Landesbibliothekar Volquart Pauls: „Die Flüchtlinge gehören nicht in unser Land hinein. Daß wir Preußen los sein sollen, die Preußen aber bekommen haben, ist eine schauerliche Ironie der Weltgeschichte. In allem widerstrebt uns dieses Volk.“ – Ja, die in der NS-Zeit beschworene Volksgemeinschaft war wenig belastbar!

Die Flüchtlinge selbst wollten zurück in ihre Heimat nach Schlesien, Pommern oder Ostpreußen, sie wollten keine Schleswig-Holsteiner werden.

Aber die meisten von ihnen blieben und integrierten sich so erfolgreich, dass sie bald keine Flüchtlingspartei mehr wählten. Das Land wurde aufgebaut mit einer Bevölkerung, die fast zur Hälfte aus – meist unerwünschten und unfreiwilligen – Binnenmigranten bestand!

Auch hier gestrandete Zwangsarbeitende aus Osteuropa könnte ich erwähnen, die unter Aufgabe ihrer Identität bleiben konnten. Seit den späten 1950ern wurden Gastarbeiter aus Mittelmeeranrainerstatten angeworben, die oft blieben ihre Familien nachholten. Zahlenmäßig relevant ist die (bald: deutsch-)türkische Minderheit.

Bis heute kamen viele weitere Fremde und Flüchtlinge.

Ich will diese Gruppen nicht gleichsetzen und komplexe Problemlagen nicht schönreden, aber nüchtern festhalten: Schleswig-Holstein war und ist ein Migrationsland.

Landesgeschichte sollte nicht nur autochthone Stämme und Volksgruppen oder vormoderne Herzogtümer thematisieren, sondern Diversität und Kraft, aber auch Herausforderungen, Probleme und Grenzen von Migration und Integration.

Als Reflex auf Flüchtlinge lässt sich auch erklären, dass für kurze Zeit eine Mehrheit der Menschen im Landesteil Schleswig den Anschluss an Dänemark wünschte, das neue Land verlassen wollte. 1945, nach der bedrängenden NS-Zeit hatte die dänische Minderheit noch aus 2.700 Mitgliedern bestanden, 1946 waren es fast 70.000! Die neudänische Bewegung wurde die stärkste Kraft in dieser Region, im April 1947 votierte die Mehrheit der Einheimischen in Südschleswig dänisch! Diese eigentümliche Hinwendung zur dänischen Krone ist schon deshalb erklärungsbedürftig, weil in der gleichen Region die Nationalsozialisten 1932 Zustimmungen von 70 Prozent erzielt hatten.

Speckpakete, in Hungerjahren gewiss nicht zu unterschätzen, waren wohl nicht das wichtigste Motiv, eher ging es um ein Herausstehlen aus der deutschen Geschichte und das Loswerden der Flüchtlinge.

Das deutsche Rollback kam auf dem Fuß, für einige Jahre herrschte große Unruhe in der Region! Aber die Musik spielte woanders: Weise Zurückhaltung in Kopenhagen, wo man ein Kuckucksei befürchtete, und Druck der Briten auf die schleswig-holsteinische Landespolitik, führten zur Lösung, die mit der Kieler Erklärung 1949 und dann 1955 den Bonn-Kopenhagener Erklärungen und dem berühmten subjektiven Nationalitätenprinzip „Däne ist, wer Däne sein will.“ den Grenzkonflikt befriedete und in vorbildlichen Minderheitenschutz überführte.

Wegstrebende Vertriebene und Dänen – will 1946 überhaupt jemand das neue Land?

Gewiss die junge Landespolitik, dürfen wir annehmen. Aber auch das Fehlanzeige! Schleswig-Holstein wurde geschaffen gegen massive Skepsis vieler deutscher Akteure. Die wirtschaftliche Randlage, eine prekäre Ausrichtung der südlichen Landeshälfte auf Hamburg und jetzt die Bevölkerungsexplosion: Sie hielten das Land für nicht lebensfähig und unternahmen auch in den Folgejahren Vorstöße für eine Länderneugliederung.

Oberpräsident und später erster Ministerpräsident Theodor Steltzer (CDU) vertrat mit der Landtagsmehrheit im Rücken bei den Planungen der Ländergründungen im Zonenbeirat diese Position und plädierte für ein Ostsee-Land mit Mecklenburg, was aufgrund dessen Lage in der sowjetischen Besatzungszone abwegig war; realistischere Vorschläge brachte er zu spät ein. Weil Hamburg seine Eigenständigkeit betonte, Nordrhein-Westfalen eine den Briten wichtige Schöpfung darstellte und in Hannover der spätere Ministerpräsident Kopf sein aus vier Teilen konstruiertes Land „Niedersachsen“ erfolgreich propagierte, blieb Schleswig-Holstein schlicht über. Steltzers Nachfolger Hermann Lüdemann (SPD) kämpfte noch jahrelang umsonst für sein Konzept eines „Landes Unterelbe“:  Es setzte die Umgestaltung der westdeutschen Länder voraus und brauchte Hamburg und Niedersachsen; all das war unrealistisch. Schleswig-Holstein blieb bestehen. – Immer mal wiederkehrende Nordstaatsdebatten versiegen seither stets, aber die länderübergreifende Kooperation profitiert.

Insbesondere die kulturelle und wirtschaftliche Ausrichtung des Hamburger Speckgürtels auf die Elbmetropole ist regelmäßig auf der Agenda. – Gerade dort, wo die Identität der Schleswig-Holsteiner am schwächsten ausgeprägt ist, leben die meisten; hier im Nordteil ist es umgekehrt.

Das ungewollte Kind Schleswig-Holstein hat sich als zäh und nachhaltig, als lebensfähig und lebenslustig erwiesen.

Der bundesdeutsche Länderfinanzausgleich und Anpassungszwänge des europäischen Marktes wirkten nachhaltig positiv. Das Land hat den Strukturwandel recht erfolgreich bewältigt: Trug die Landwirtschaft um 1950 noch mit 19 Prozent zur Wirtschaftskraft bei, sind es heute 1,5; ähnlich bildmächtige Werften beschäftigten 1958 über 30.000 Menschen, seit den 90ern weniger als ein Viertel. Das „Programm Nord“ und Werftenhilfen federten den Wandel sozial ab. Aber nicht jede Planung ging auf: Eine Anfang der 70er Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU) und noch stärker Oppositionsführer Jochen Steffen (SPD) propagierte hochindustrialisierte, mit Kernkraftwerken gepflasterte Boomregion an der Elbe wurde so nicht realisiert. Die Bundeswehr kam seit Mitte der 50er und ging ab 1990 weitgehend wieder; bis zu 100.000 Soldaten standen für den größten, anfangs garnicht willkommenen Arbeitgeber im Land. Heute dominiert der Dienstleistungssektor mit über 2/3 der Wirtschaftskraft, möglicherweise zu stark.

Schleswig-Holstein gehört nicht zu den wohlhabenden Bundesländern, aber es behauptet sich im Konzert der 16, auch immer wieder mit in der Bundespolitik beachteten Stimmen.

Das junge Land hatte erheblich an den Lasten der NS-Vergangenheit zu tragen: Als Provinz war es eine Hochburg der NS-Bewegung gewesen, was auch für die Herkunftsgebiete der späteren Vertriebenen gilt. Der Frontverlauf machte 1945 die Region zu einer letzten Fluchtburg der NS-Eliten. Schleswig-Holstein produzierte mehrfach Negativschlagzeilen, man denke nur die Affäre Heyde-Sawade, den Skandal, dass der gesuchte NS-Euthanasie-Hauptverantwortliche, also Massenmörder Heyde in den 1950ern mit Kenntnis vieler Juristen, Wissenschaftler und Mediziner kaum getarnt als gefragter Gutachter tätig sein konnte, gesellschaftlich eingebettet sozusagen. Wir wissen heute – auch durch Studien, die der Landtag selbst ausschrieb – einiges über biografische Beteiligungen am NS-Unrecht von Landespolitik und administrativen Nachkriegseliten. Wissen, das belastet, wenn man sich die Dimensionen der geteilten Verstrickung ansieht. Vor allem Polizei und Justiz wiesen für Jahrzehnte höchst problematisches Personal auf.

Mehrfach mussten sich Politik und Gesellschaft bitteren Bewährungsproben stellen: 1967 gelangte die NPD in den Landtag, 1992 die ebenfalls rechtsextreme DVU. 1994 brennt die Lübecker Synagoge, 1992 werden in Mölln zwei von Deutschtürken bewohnte Häuser in Brand gesetzt. Bahide Arslan und zwei ihrer Enkeltöchter sterben. Die demokratische Landespolitik rückt in einer großen Debatte zusammen. Im Prozess gegen die Brandstifter ergreift der Witwer Nazim Arslan 1993 so sachlich wie eindrucksvoll, ja beschämend das Wort; Literatur, die ins Schulbuch gehört!

„Mehr Demokratie wagen“, das Schlagwort des gebürtigen Lübeckers Willy Brandt, korrespondierte auch hier mit dem Druck zur gesellschaftlichen Demokratisierung.

Ja, an meiner Hochschule, der damaligen PH-Flensburg gab es schon 1964 Streiks von Studierenden – für ein verbessertes Studium übrigens. Demokratisierung des Bildungsbereichs, Bürgersprechstunden der Ämter, Staatsbürger in Uniform – all das zeitgleich in ganz Westdeutschland.

Aber während der schwere Abschied Adenauers, die Spiegel-Affäre und politisierte Literaten auf Bundesebene in den 60ern auch die Modernisierung des politischen Systems einläuteten, schien sich hier der Wandel zu verzögern: 37 Jahre christdemokratische Ministerpräsidenten führten am Ende offenbar bei einzelnen zu einem Missverständnis über die eigene Rolle in diesem Land. Erst die Bewältigung der Pfeiffer-Barschelaffäre 1987 hat auf herrschaftlich-administrativer Ebene Normalität herbeigeführt.

Und zwar im demokratischen Konsens aller: Ich denke an die einstimmige Verfassungsreform. Landesverwaltungen sind personell bunter geworden, Parteibücher werden bei Schulleitungswahlen nicht mehr als zentral erachtet, ja, Regierungswechsel gelten als ganz normal. – Herr Ministerpräsident, ich will Sie im Jahr vor der Wahl nicht verunsichern; als Historiker gucke ich nur nach hinten: auch Ihr Erfolg stützt diese Aussage.

Man denkt vielleicht nicht zuerst an unser Land, wenn es um das Erfolgsmodell der westlichen Demokratie geht. Aber: Die schleswig-holsteinische Demokratie hat einige Bewährungsproben gemeistert, Leistungen vollbracht:

Die erst im Nachhinein konsensuale Minderheitenpolitik habe ich erwähnt, nach langem Ringen genießen seit 2012 hier auch Sinti und Roma Schutz mit Verfassungsrang. Auch Umgang mit Migration war immer strittig; ohne Beschönigung, und ohne Mölln zu vergessen, lässt sich doch festhalten, dass Manches gelingt. Die Auseinandersetzungen um die zivile Nutzung der faust-schen Kernenergie fanden in Brokdorf einen bundesweiten, teilweise gewalttätigen Kulminationspunkt. Außerparlamentarische Bürgerinitiativen und das Parteienspektrum sind im Kontext des Konfliktes gewachsen, die Freiheiten des öffentlich-rechtlichen Journalismus wurden verteidigt.

Und als harmonisches Ende: Der Nationalpark Wattenmeer bildet ein Musterbeispiel neuer Perspektiven, extrem divergierender Interessen und der Kraft des demokratischen Herrschaftsmodelles. Nach erbitterten Konflikten ist er heute weitgehend befriedet, fraglos wunderschön und zudem UN-Weltnaturerbe.

Wir werden – auch über all dies – weiter streiten und ringen. Lassen Sie uns genau das feiern: die zunächst geschenkte und gelenkte, dann in 75 Jahren, manchmal mühselig etablierte, lebensfähige und starke Demokratie des rüstigen Landes Schleswig-Holstein.

 

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Leitartikel

Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
„Wenn Minderheiten als Gefahr für andere dargestellt werden“