Europawahl

Minderheiten in der EU: Nicht alle sind bei Debatte im Grenzland einer Meinung

Minderheiten in der EU: Nicht alle sind bei Debatte im Grenzland einer Meinung

Minderheiten in der EU: Nicht alle sind einer Meinung

Harrislee/Harreslev
Zuletzt aktualisiert um:
Maylis Roßberg vom SSW stellte sich mit fünf Mitbewerbern fürs EU-Parlament am Montagabend den Fragen des Publikums in Harrislee. Foto: Cornelius von Tiedemann

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Brüssel statt Kopenhagen und Berlin: Wie wichtig ist die internationale Bühne für autochthone Volksgruppen? In Harrislee wurde am Montag deutlich: Es gibt viel zu besprechen und noch mehr zu entscheiden. Für manche dürfte der Abend die Wahlentscheidung am 9. Juni erleichtert haben.

Keine Zeit für Sonntagsreden am Montagabend in Harrislee: Fünf Kandidaten und eine Kandidatin für das Europaparlament aus Deutschland und Dänemark sind anlässlich der EU-Wahl am 9. Juni vom Publikum aus minderheitenpolitischer Sicht in die Mangel genommen worden. 

Bei der von der Schleswigschen Partei (SP) aus Nordschleswig und dem Südschleswigschen Wählerverband SSW veranstalteten Podiumsdiskussion wurde von den Chefredakteuren Gwyn Nissen („Der Nordschleswiger“) und Søren Munch („Flensborg Avis“) launig, aber stringent moderiert: kurze Fragen aus dem Publikum – kurze Antworten aus der Runde.

„Nützt die EU den Minderheiten?“, lautete dabei die Leitfrage des Abends, die wenig überraschend nicht bloß mit knappen Jas und Neins beantwortet, sondern in einem prall gefüllten Konferenzsaal im Hotel des Nordens hurtig, aber differenziert erörtert wurde. 

Rasmus Andresen
Der Flensburger EU-Abgeordnete Rasmus Andresen (links) im Gespräch mit SP-Parteisekretärin Ruth Candussi und dem BDN-Hauptvorsitzenden Hinrich Jürgensen Foto: Cornelius von Tiedemann

Minderheitenrechte auf EU-Ebene? Zweifel bei Venstre

Einer eindeutigen Antwort am nächsten kam noch Rasmus Andresen, der einleitend sagte: „Die EU macht nichts Gutes für die Minderheiten.“ 

Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU/EVP) habe sich mehrfach dagegen gesperrt, so der Flensburger EU-Abgeordnete der Grünen, dass Minderheitenrechte auf EU-Ebene verankert werden. Und dies, obschon er und die große Mehrheit des EU-Parlamentes sich eben für diese Minderheitenrechte-Initiative ausgesprochen hatten. 

Die EU als minderheitenpolitische Plattform abschreiben will aber auch er nicht – im Gegenteil: Wenn die Kommission sich etwa vom Gesamtpaket Minority Safepack Initiative (MSPI) nicht überzeugen lasse, „sollten wir auch einzelne Forderungen aus der MSPI nehmen und versuchen, sie durchzusetzen. Auch Punkte, von denen nicht nur Minderheiten etwas haben, zum Beispiel beim Thema Geoblocking“.

 

MSPI

Die Minority Safepack Initiative (kurz: MSPI) umfasst ein Paket von Gesetzesvorschlägen, die den Schutz nationaler Minderheiten gewährleisten sollen. Hierzu müsste eine Reihe von EU-Rechtsakten beschlossen werden, die die Förderung und Kontrolle von Minderheitenrechten, Sprachrechten und den Schutz der Kultur der nationalen Minderheiten ermöglichen. Dadurch würde die rechtliche Sicherheit von nationalen Minderheiten EU-weit gewährleistet werden.

minority-safepack.eu
Carsten Kissmeyer war aus Ikast angereist. Foto: Cornelius von Tiedemann

Dafür sorgen, dass das Thema Minderheiten in der Kommission präsent bleibt, will auch Maylis Roßberg, die als SSW-Mitglied für die EFA als Spitzenkandidatin zur Europawahl antritt. 

Sie sieht sich als Herausforderin von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) – wenngleich sie einräumte, dass ihre Chancen begrenzt seien. Sie wolle ihre Kandidatur denn auch vorwiegend dazu nutzen, um von der Leyen in Wahlkampfdebatten herauszufordern und als Sprachrohr der Minderheiten zu agieren. 

Es könne „nicht sein, dass Minderheiten von Nationalstaaten abhängig sind“ und diese von der EU nicht sanktioniert werden können, so Roßberg zur Absage der Kommissionspräsidentin an die autochthonen Minderheiten, die Forderungen der MSPI umzusetzen.
 

Europäische Freie Allianz (EFA)

Die Europäische Freie Allianz (EFA) ist eine europäische politische Partei, die nationale, regionale und autonome Parteien der Europäischen Union umfasst. Heute sind 47 europäische Regionalparteien Mitglied der EFA, darunter die Schleswigsche Partei (SP) aus Dänemark und der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) aus Schleswig-Holstein.

Parteivorsitzende ist Lorena Lopez de Lacalle von der Eusko Alkartasuna (Baskenland/Spanien). Schatzmeisterin ist Anke Spoorendonk (SSW).

Die Partei hat derzeit zehn Abgeordnete im Europaparlament, wo sie keine eigenständige Fraktion bildet, sondern mit den Grünen kooperiert. Fünf der zehn Europa-Abgeordneten der EFA sind jedoch in anderen Fraktionen organisiert.

Der Venstre-Kandidat Carsten Kissmeyer, der ganz aus Ikast angereist kam, warnte als Einziger in der Runde davor, die MSPI in Europa 1:1 umzusetzen. „Einige der Themen der MSPI sind in Dänemark gefährlich, denn es geht dabei darum, nationale Souveränität abzugeben“, so Kissmeyer. „Da müssen wir vorsichtig sein, um nicht dem rechten Flügel Vorschub zu leisten.“

Niclas Herbst aus Scharbeutz, der für die CDU/EVP bereits im Europaparlament sitzt, machte derweil deutlich, dass die Frage des Abends, ob „die EU“ den Minderheiten nütze, kaum zu beantworten sei, da es „die EU“ so nicht gebe. Denn während sich das Parlament zum Beispiel sehr wohlwollend mit der MSPI auseinandergesetzt habe, habe sich die EU-Kommission dann jedoch „nicht mit Ruhm bekleckert“. 

Die wahre Herausforderung sei jedoch der innerhalb des EU-Systems mächtige Rat der Europäischen Union, in dem sich die nationalen Regierungen versammeln. Denn in der Meinungsbildung sei die nationale Politik noch immer ausschlaggebend. Damit die Minderheiten auf Europaebene nicht mehr übersehen werden können, fordere er deshalb einen EU-Minderheitenkommissar.
 

Andi Helbo Sejersen von der dänischen Sozialdemokratie Foto: Cornelius von Tiedemann

Sollen die Minderheiten in die EU-Kommission?

Nach dem Motto: Wenn die EU-Kommission nicht auf die Minderheiten zugeht, dann müssen die Minderheiten eben in die Kommission einziehen, unterstützte auch Andi Helbo Sejersen von der dänischen Sozialdemokratie diese Idee. Schließlich würde ein bedeutender Teil der EU-Bürgerinnen und -Bürger einer autochthonen Minderheit angehören, was angemessene Repräsentation verdiene. 

Für ihn gehören sowohl die Flagge als auch zweisprachige Ortsschilder zur Identität von Minderheiten – auch in Dänemark. „Da können wir noch besser werden“, räumte der Sozialdemokrat zu den beiden Themen ein, die zuletzt in Dänemark einige Aufmerksamkeit genossen.

Engagiert dabei waren auch Vertreterinnen und Vertreter der Jungen Spitzen, der Nachwuchsorganisation der Schleswigschen Partei. Foto: Cornelius von Tiedemann

Rechtsruck in Europa – was das für die Minderheiten bedeuten würde

Apropos Aufmerksamkeit: Das Ringen um diese sei derzeit ohnehin ein schwieriges Thema. Denn die Agenden der Rechtspopulisten würden mehr besprochen als Themen wie Minderheiten und offene Grenzen. „Der rechte Flügel kann nach der Wahl mehr Einfluss gewinnen, und es ist wichtig, sich in die politische Debatte einzumischen und wählen zu gehen“, so Rasmus Andresen. Ein ermutigendes Beispiel seien die Demonstrationen für Demokratie in Deutschland. 

Andi Helbo Sejersen warnte davor, den „substanzlosen Erzählungen Nährboden“ zu geben und mahnt: „Wir dürfen bei den Schlammschlachten nicht mitmachen. Wir müssen anständig bleiben.“

 

 

Niclas Herbst (rechts) möchte erneut für die CDU/EVP ins Europaparlament einziehen. Foto: Cornelius von Tiedemann

„Wir dürfen uns von denen nicht in Angst versetzen lassen“, sagte Niclas Herbst. Für den CDU-Politiker steht nach fünf Jahren im Europaparlament fest: „Die arbeiten überhaupt nicht mit und kommen dann nur am Ende zur Parlamentssitzung und reden, egal, worum es eigentlich geht, über Migration.“ 

Man müsse den Menschen offen sagen, dass „die Fragen, die wir im Europaparlament diskutieren, teilweise sehr kompliziert sind“. Aber: „Es bringt nichts, diese Parteien zu wählen.“

Für den Holsteiner, der im Hinblick auf die Wahl „optimistisch“ ist, steht fest: Die demokratischen Parteien im Europaparlament haben zuletzt nicht immer gut genug zusammengearbeitet, um den Einfluss der extremistischen Bewegungen zu verhindern  – „wir dürfen ihnen jetzt aber keine Spielräume und keine Macht mehr geben“.

Das sieht auch Maylis Roßberg so. „Die demokratischen Parteien sind mitschuldig am Aufstieg der Rechtspopulisten, die keine Lösungen haben, sondern nur noch mehr Probleme schaffen. Wir müssen sehr klar kommunizieren, worum es in Europa überhaupt geht.“

Sie machte früh deutlich: „Es sieht schlecht aus für die Minderheitenrechte in der EU, wenn man sich die Wahlprognosen ansieht. Denn die Rechtspopulisten sind sehr stark.“  

Ein großer Teil des Publikums, wie hier Hinrich Jürgensen, war im Vorwege politisch in der Grenzland- oder Minderheitenpolitik engagiert. Dennoch zeigten sich die Veranstaltenden über das rege Interesse erfreut. Foto: Cornelius von Tiedemann

Was tun, wenn die Nation vielen wichtiger ist als Europa?

Dies allerdings nicht nur auf EU-Ebene – auch in den nationalen Parlamenten Europas. Zum Verhängnis der autochthonen Minderheiten. Sie sei „es müde, dass die EU auf die Nationalstaaten zeigt, wenn es um Minderheitenpolitik geht“, so Roßbach. „Die EU-Kommission blockiert, während sich das Parlament sehr progressiv gezeigt hat“, sagte die Sylterin, die in Kiel lebt.

Dass vieles in Europa „blockiert“ wird, führt sie wie zuvor Herbst auf die starke Position der Nationalregierungen in Brüssel und nationale Macht-Interessen in den Mitgliedsstaaten zurück. 

Mikael Hertig, Kandidat der dänischen Alternative, die sich gerne der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament anschließen möchte, würde daran gerne etwas ändern – zumindest in Dänemark. Ja, die Souveränität stehe im Grundgesetz, doch seit 1953 habe sich die Welt verändert. „Dänemark ist ein kleines Land. Es ist komplett unrealistisch, einen Nationalstaat wie 1953 zu haben, vergesst es!“, so der Sonderburger. 

Er wünscht sich für die EU ein neues Traktat, das sich das deutsche Grundgesetz zum Vorbild nimmt und wo demnach das Volk die Parteien wählt und diese dann eine Regierung wählen. 

Andi Helbo Sejersen trat bei dem Thema ein wenig auf die Europa-Bremse: Dänemark sei einer der wettbewerbsfähigsten Arbeitsmärkte Europas. Die EU solle die nationale Politik deshalb zum Beispiel in diesem Bereich nicht zu sehr beeinflussen. 

Eine Meinung, die er sich mit Carsten Kissmeyer von Venstre/Renew Europe teilte. Sozialpolitik und Arbeitsmarkt, wo es kulturelle und religiöse Unterschiede gebe, sollten nicht auf europäischer Ebene gelöst werden. 

 

Mikael Hertig
Mikael Hertig von der Alternative Foto: Cornelius von Tiedemann

Zwei gegen vier: Beim Thema Souveränität war das Ende der Gemeinsamkeiten erreicht

Damit stand er in deutlichem Gegensatz zu Rasmus Andresen, der dazu aufrief, gerade den sozialen Aspekt auf EU-Ebene stärker zu gewichten. Zudem sollten auch nationale Regierungen mehr nach europäischen Lösungen suchen. „Die EU muss demokratischer werden, das Parlament mehr Kompetenzen haben, und es muss über Grenzen hinweg debattiert werden“, so Andresen.

Genau dies war am Montagabend in Harrislee geschehen. Eine Ausnahme, wie die EU-Parlamentarier und -Wahlkämpfer Andresen und Herbst attestierten. Beide unterstützten Maylis Roßberg denn auch in ihrem Wunsch nach einem Europa der Regionen, in dem Politik von unten nach oben gedacht wird. 

„Wenn etwas lokal gelöst werden kann, dann soll das geschehen. Doch in Bereichen wie den Minderheitenrechten funktioniert das einfach nicht, weil sie nicht eingehalten werden“, so Roßbach, die sich wie Niclas Herbst als Anhängerin eines Europas der Regionen outete. „Die Staaten geben doch freiwillig Souveränität an die EU ab. Das erzählen die Populisten oft falsch“, so Herbst, der Zusammenarbeit bei großen Themen wie Sicherheit, Migration und Entwicklungshilfe für wichtig hält und für andere Themen wie Interreg regionale Kompetenzen sieht. 

Mehr Minderheitenrechte in Europa, Minderheiten in der Kommission verankern, mehr über Europapolitik aufklären und Politik nicht mehr vorwiegend national denken: Für die beiden Abgeordneten und die Kandidatin aus Deutschland sowie den Sonderburger Alternativen ist das der Weg. Auch bei anderen debattierten Fragen, wie den Grenzkontrollen („abschaffen!“) herrschte hier zumindest in den Grundzügen fraktions- und grenzüberschreitende Einigkeit, während bei den Kandidaten von Venstre und dänischer Sozialdemokratie diesbezüglich doch immer ein dänisch-freundliches, aber doch unmissverständliches „Aber“ dabei war. 

Ein Aber, das den Zielen der Minderheitenpartei EFA im Weg steht. Entsprechend Maylis Roßbergs hoffnungsvoller Aufruf an die Mitdebattierenden am Ende des Abends: „Nutzt, was ihr heute gelernt habt über Minderheiten, wenn ihr ins Parlament kommt. Ich werde dasselbe in der EU-Kommission tun!“

Mehr lesen