Geoblocking

Schlagbaum im Computer

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Giuseppe Pitronaci
Berlin
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Geoblocking
Ein Europa der offenen Grenzen gibt es in der digitalen Welt nicht. Foto: Cornelius von Tiedemann

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Unser Autor Giuseppe Pitronaci wollte verstehen, warum die EU im Internet Grenzen durch Europa zieht. Dabei entdeckte er ein neues Wort und die Welt der Sprach-Minderheiten.

Die EU müsste mich toll finden. Vor EU-Wahlen poste ich Fotos mit Europa-Flagge. Ich bin Italiener, der in Deutschland geboren ist und in Berlin und Rom studiert hat. Typ Muster-EU-Bürger. Doch die EU wirft mir Steine an die Beine. Das kam so:

Vor einiger Zeit war ich länger als normalerweise in Italien, bei meiner Mutter, zwei Monate vielleicht. Auf RAI Uno – sowas wie die italienische ARD – begann eine Serie.

TV-Serie zieht den Muster-EU-Bürger in ihren Bann

Ich sah den ersten Teil, den zweiten, und die Serie packte mich. Es ging um vier erwachsene Geschwister, um ihre Kinder und Eltern. Diese waren in Rente und schon ewig ein Paar.

Serien-Thema waren Familie, Alltag, Konflikte. Nix Spektakuläres, aber toll gespielt. Irgendwann zog der Rentner-Vater von der Mutter weg, Kinder und Enkel waren entsetzt – und ich ging nach Deutschland zurück.

Dort wollte ich natürlich wissen, wie es weitergeht und surfte auf die RAI-Mediathek im Internet. Aber immer, wenn ich auf das Play-Dreieck einer Folge klickte, kam ein weißer Bildschirm, auf dem sich die RAI entschuldigte. Dafür, dass das Video nicht außerhalb von Italien zu sehen ist.

RAI
Hier gibt es nichts zu sehen: Wer aus dem Ausland bestimmte Programme bei der RAI sehen möchte, wird mit dieser Entschuldigung abgespeist. Foto: cvt

Ich informierte mich und lernte ein neues Wort: Geoblocking. Das besagt, dass Multimedia-Inhalte im Internet nur innerhalb eines Landes zu sehen sind. Wer in Portugal ist, kann die schwedische Tanz-Show nicht sehen, in Österreich kann man die Serie aus Bulgarien nicht angucken.

„Einreise verboten“

Früher gab es Schlagbäume zwischen Deutschland und Dänemark und wer am Brenner nach Italien wollte, wurde kontrolliert. In Ausnahmen ist das immer noch der Fall, wie ja auch an bestimmten Grenzübergängen zwischen Dänemark und Deutschland zu beobachten ist. Doch in der Regel ist das längst vorbei, man merkt kaum, wenn man von einem EU-Land ins andere fährt.

1971: Dänemark ist noch nicht Mitglied der EWG und an der Grenze in Krusau (Kruså) wird fleißig kontrolliert. Foto: Lars Hansen/Ritzau Scanpix

Im Internet aber, diesem revolutionären Welt-Begegnungs-Raum, gibt es nicht nur Schlagbäume und Grenzen, an denen man kontrolliert wird. Sondern man wird sogar zurückgeschickt. Einreise verboten.

Geoblocking trifft viele

Ich wollte mich damit nicht abfinden, probierte Tipps aus, um das Geoblocking auszutricksen. Es half nichts, aber mein Ehrgeiz war geweckt. Mittlerweile wollte ich nicht nur die Serie sehen, sondern verstehen: Warum tut mir die EU das an? Mir, dem Ideal-EU-Bürger?

Ich recherchierte und erfuhr, dass viele Menschen von Geoblocking betroffen sind. Menschen, die eine Sprache lernen. Migrantinnen und Migranten, die Fernsehen aus der Heimat sehen wollen. Serien-Fans, die in einem anderen Land leben.

Dauerfrust für die autochthonen Minderheiten in Europa

Und ich entdeckte eine Welt von Gruppen, für die Geoblocking eine ständige Frust-Quelle ist: Die autochthonen Minderheiten in Europa.

Damit ist zum Beispiel eine Gruppe in einem Land gemeint, die zwar nicht eingewandert ist, aber dennoch eine andere Sprache spricht als die der Mehrheit. Überall in Europa sind autochthone Minderheiten zu finden, nicht zuletzt im deutsch-dänischen Grenzgebiet.

Im Internet fand ich eine Landkarte, gesponsert von Bundes-Innenministerium und EU-Kommission, auf der sprachliche Minderheiten als Farbflecken zu sehen sind.

Man kann sie anklicken und vergrößern. Und zum Beispiel was lesen über die deutschen Nordschleswiger in Dänemark, die Dänen und Nordfriesen in Schleswig-Holstein. Oder die  Tornedalfinnen in Schweden, Pomaken in Griechenland.

Die Film-Lobby tut so, als käme ohne Geo-Blocking das Ende der Filmindustrie.

Herbert Dorfmann, Abgeordneter im EU-Parlament

Man erfährt sogar was über die Minderheit der Iren in Irland – die kein Englisch sprechen, sondern Irisch. Auf der Internetseite steht: „Jeder siebte von uns gehört einer Minderheit an. In Europa gibt es mehr als 400 Minderheiten, Volksgruppen und Nationalitäten. Wir sprechen mehr als 125 Sprachen.“

Die FUEN kämpft gegen das Geoblocking

Etliche Daten bekam das Karten-Projekt von der FUEN – eine europäische Dachorganisation für sprachliche Minderheiten, mit verschiedensten Einzelgruppen.

Vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in Deutschland bis zu Moldawiern in der Ukraine. Und es sind auch Organisationen dabei, welche die deutsche Minderheit in Dänemark und die dänische Minderheit in Deutschland vertreten.

Die FUEN arbeitet mit UNO und EU zusammen, organisiert eine „Fußballeuropameisterschaft der autochthonen nationalen Minderheiten“ – und kämpft gegen Geoblocking.

So hat die FUEN über eine Million Unterschriften gesammelt, um sprachliche Minderheiten in der EU besser zu schützen, die Aktion heißt Minority Safe Pack Inititiative. Eine der Forderungen: das Internet soll frei sein.

Mediatheken der Fernsehsender weiterhin nicht grenzüberschreitend

Selbst Waren-Flüsse der EU verlaufen im Internet entlang von Landesgrenzen. Für Online-Käufe gelten Sonder-Regeln und -Preise, sobald eine Landesgrenze zwischen Kunde und Laden liegt.

Einige Regeln hat die EU 2018 verbraucherfreundlicher gemacht: Jetzt können zum Beispiel Bürger ihr Netflix-Abo weiternutzen, wenn sie ins EU-Ausland gehen.

Die EU hat zwar die Möglichkeit für die grenzüberschreitende Nutzung kommerzieller Streaming-Angebote gelockert, doch bei den Mediatheken der traditionellen Fernsehsender gilt das Geoblocking weiterhin. Foto: Glenn Carstens-Peters/Unsplash

Aber die Mediatheken der TV-Anstalten sind nach wie vor nicht hinter der Grenze empfangbar, nur zum Teil. So kann ich den Nachrichten-Kanal der RAI in Deutschland empfangen, wegen einer Sonder-Regel zu Nachrichten-Formaten.

Aber bei den meisten Sendungen im Gemischt-Programm begrüßt mich der weiße Entschuldigungs-Bildschirm, quer durch die Genres: Ob Talkshow oder Doku-Fiction, ob von der RAI selbst produziert oder eingekauft, ob alt oder neu: Schlagbaum unten, kein Durchkommen.

Hintergrund Rechte-Vermarktung

Doch was ist der Grund? Der EU-Abgeordnete Herbert Dorfmann meint, dass es um viel Geld geht, konkret: um Rechte-Vermarktung. Bestimmte Interessen-Gruppen verdienen am Geo-Blocking. Zum Beispiel Filmproduzenten und Rechte-Vermarkter. „Die Film-Lobby tut so, als käme ohne Geo-Blocking das Ende der Filmindustrie“ sagt Dorfmann.

Es gab sehr starkes Lobbying von bestimmten Unternehmen innerhalb der Kulturindustrie gegen die Einbeziehung der urheberrechtlich geschützten Inhalte.

Patrick Breyer, Abgeordneter im EU-Parlament

Er selbst gehört zur Südtiroler Volkspartei und vertritt im EU-Parlament die Interessen der deutsch-sprachigen Minderheit Italiens. Durch das Geo-Blocking kann diese zum Beispiel die meisten deutsch-sprachigen TV-Programme aus Deutschland oder Österreich im Internet nicht empfangen. Dorfmann beklagt sich besonders über große Sport-Verbände, die eh schon viel Geld verdienen würden. Durch das Geo-Blocking könnten sie Übertragungsrechte „Land für Land“ verkaufen, sagt er.

Weniger Filmkunst ohne Geo-Blocking?

Man nennt das Territorialitäts-Prinzip. In Gesprächen mit Fachleuten der Medien-Branche erfuhr ich, dass Film-Produzierende nicht darauf verzichten wollen. Ihre Sicht: Je weniger Länder, an die ein Produzent einen Film oder eine Serie verkaufen kann, umso weniger Lizenz-Einnahmen. Es würden dann weniger Nischen-Filme entstehen, mehr Filme nach Massengeschmack, weil das finanzielle Risiko zu groß wäre. Schließlich müssen europäische Arthouse-Filme konkurrieren mit High-Tech-Produktionen von US-Riesen wie Netflix, Disney, Amazon. Also weniger Filmkunst ohne Geo-Blocking?

Zumindest für Sport-Events greift das Argument nicht. Ich schrieb Mails an die Presse-Abteilungen von UEFA und DFB, fragte nach ihrer Sicht auf Sport-Übertragungsrechte und Geo-Blocking. Aber es kam keine Antwort. Und was Filme, Serien, Shows betrifft: Selbst wenn man bezahlen wollen würde für Inhalte der TV-Sender jenseits der Grenze – diese Möglichkeit gibt es nicht.

EU-weites Copyright als Alternative zum Territorialitäts-Prinzip

Die Alternative zum Territorialitäts-Prinzip wäre ein einheitliches EU-Copyright. Dafür kämpft Patrick Breyer, Richter aus Kiel und einziger deutscher Piraten-Vertreter im EU-Parlament. Er meint: „Es gab sehr starkes Lobbying von bestimmten Unternehmen innerhalb der Kulturindustrie gegen die Einbeziehung der urheberrechtlich geschützten Inhalte.“

Gemeinsames Singen aus dem Volkshochschulliederbuch live auf DR2 auch südlich der Grenze? Das ist derzeit nicht möglich. Foto: Nils Baum

In seinem Bundesland Schleswig-Holstein gibt es eine der größten sprachlichen Minderheiten Deutschlands, die Dänen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Zwischen 15 000 und 50 000 schwanken die Schätzungen über deren Zahl. Ihre Partei ist seit neuestem auch wieder im Bundestag vertreten, durch einen Abgeordneten des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW).

Die deutschen Dänen haben aber auch eine eigene Kultur-Vereinigung namens SSF. Deren Presse-Sprecher, Rasmus Meyer, zweifelt, dass es nur Lobby-Interessen sind, die das Geo-Blocking am Leben erhalten. Er sieht auch eine Art Zuständigkeits-Wirrwarr: „Politiker verweisen auf TV-Sender, TV-Sender verweisen auf Politiker. Man kommt nicht weiter.“ Meyer würde dafür bezahlen, dänische Programme sehen zu können – wenn es nur die Möglichkeit dazu gäbe.

Verpatztes Finale wegen Geoblocking

Er rät mir, bei einem deutsch-dänischen Paar anzurufen, das er kennt. Bei dem Anruf erfahre ich diese Geschichte: Das Ehepaar schaute mit dem Töchterchen eine Sendung aus Dänemark an – ein Kinderlieder-Festival, das in der dänischen Bevölkerung ein Medienereignis ist, mit Popcorn, Party, Freunden. Die Familie aber wohnt in Deutschland, etwa drei Kilometer von der dänischen Grenze entfernt.

Politiker verweisen auf TV-Sender, TV-Sender verweisen auf Politiker. Man kommt nicht weiter.

Rasmus Meyer, Pressesprecher beim SSF

Die Live-Sendung war zwar empfangbar, ohne Blocking. Aber vor den letzten zehn Minuten brach sie ab. Grund: sie hatte überzogen, war länger als geplant. Da die Folge-Sendung aber unter das Geo-Blocking fiel, waren die überzogenen Minuten der Kinder-Sendung auch schon geblockt. Das große Finale war verpatzt.

Im Widerspruch zu Zielen und Geist der EU

Dorfmann ist sicher: Geo-Blocking kann sich nicht halten. Zu sehr widerspricht es Zielen und Geist der EU. Aber er befürchtet, dass es noch etliche Jahre dauert bis zur Abschaffung, wegen der Lobby-Arbeit der Geo-Blocking-Profiteure. Das EU-Parlament mag in der Klemme sein zwischen konkurrierenden Interessen: Filmproduzenten, Sprach-Minderheiten, Sport-Funktionäre...

Aber warum ist es so schwer, Lösungen zu finden? Zum Beispiel einen Fonds, um wegbrechende Einnahmen von Filmkunst-Machern zu kompensieren. Und was ist mit den Rundfunk-Gebühren, könnte man die nicht ausgleichend einsetzen? Könnte es nicht zumindest eine Pflicht geben für öffentlich-rechtliche Sender, gegen Gebühren das Geo-Blocking umgehen zu lassen?

Meine persönliche Geschichte mit dem Geo-Blocking steckt in der Sackgasse. Selbst in Italien zeigt mein Laptop den weißen Sorry-Bildschirm. Vermutlich, weil Laptop oder W-Lan aus Deutschland eingereist sind.

Ich werde oft gefragt, ob ich mich mehr als Italiener oder als Deutscher fühle. Meine Antwort: Als Europäer. Aber ich weiß bis heute nicht, was aus den vier TV-Geschwistern und ihren Eltern geworden ist.

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