Interview

Verdient jeder eine zweite Chance, Jussi Adler-Olsen?

Verdient jeder eine zweite Chance, Jussi Adler-Olsen?

Verdient jeder eine zweite Chance, Jussi Adler-Olsen?

Sonderburg/Sønderborg
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Das neue Buch von Jussi Adler-Olsen heißt „Natrium Chlorid“ – die chemische Bezeichnung für Salz. Hier befindet sich der Autor im kommunalen Streusalzdepot von Frederiksberg. Foto: Stine Bidstrup/Ritzau Scanpix

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Schriftsteller Jussi Adler-Olsen hat in Sonderburg sein neues Buch vorgestellt. Im Interview verrät der Kriminalautor, warum er gerne Gespräche mit Psychopaten führt und weshalb er für eine Recherche schon mal ins Gefängnis gekommen ist.

Schriftsteller Jussi Adler-Olsen hat am Sonntag Sonderburg besucht und im Sønderborghus auf Einladung des Buchcafés von Allan Breckling eine Lesung gegeben. Im Interview mit dem „Nordschleswiger“ verrät der 71-Jährige, wie weit er für eine gute Recherche geht, warum er nach Hørsholm gezogen ist und wie er seine Corona-Infektion erlebt hat.

Während du dein neues Buch „Natrium Chlorid“ geschrieben hast, war Dänemark von Corona-Restriktionen geprägt. Und auch dein Ermittlerteam rund um die Abteilung Q wird von Abstandsregeln, Lockdown und Mund-Nasen-Schutz nicht verschont. War das eine bewusste Wahl, die Wirklichkeit im Buch abzubilden?
„Ja, denn auch die Polizeiarbeit stand plötzlich vor ganz neuen Herausforderungen. Verhöre mussten übers Telefon geführt werden, die Arbeitsbedingungen änderten sich. Diesen neuen Arbeitsalltag wollte ich auch in der Abteilung Mørck abbilden, die von Homeoffice natürlich gar nicht begeistert war. Da das Buch 2020 spielt, konnte ich die neue Wirklichkeit nicht einfach außer Acht lassen.“

Hat das Coronavirus auch deinen Arbeitsalltag verändert?
„Es hat die Arbeit beschwerlich gemacht. Ich konnte nicht wie gewohnt zum Schreiben einfach mal nach Barcelona fliegen. Meine Frau und ich kamen im Februar 2020 aus unserer Wohnung in Barcelona zurück, und wir waren beide die meiste Zeit im März krank. Damals musste man Fieber haben, um einen Test machen zu können, daher weiß ich nicht, ob wir damals schon Corona hatten. In der Zeit danach waren wir nicht wirklich fit, wir waren beide sehr müde und hatten nicht viel Energie. Aber ich wollte ja mein Buch fertig schreiben! Erst Ende Oktober habe ich ernsthaft damit begonnen.“

Der Autor arbeitet derzeit am zehnten und letzten Band der Carl-Mørck-Reihe. Foto: Bax Lindhardt/Ritzau Scanpix

Hattest du eine Deadline?
„Normalerweise lasse ich mir keine Deadlines geben. Aber da der deutsche Verlag DTV in diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen feierte, gab es einen guten Anlass, mein neues Buch 2021 zu veröffentlichen. Und die deutschen Verlage arbeiten bei Herausgabe eines Buches besonders gründlich und langsam und wollen die Texte lange vor der Veröffentlichung haben.“

Im November 2021 bist du kurz nach der Buchmesse im Bella Center in Kopenhagen  an Corona erkrankt. Wie hast du den Krankheitsverlauf erlebt?
„Ich habe mich offenbar bei meiner Frau angesteckt, nachdem wir auf derselben Veranstaltung waren. Ich hatte kurz vor der Buchmesse am Freitagabend noch einen Corona-Test gemacht, der negativ war. Erst am Montag nach der Messe war er positiv. Wir waren beide doppelt geimpft, aber offenbar war der Impfschutz nicht mehr voll vorhanden. Wir waren krank, mit Grippe-Symptomen, und für 18 Tage in Quarantäne. Wir waren sehr erschöpft, ich hatte Probleme mit der Balance und der Geschmacks- und Geruchssinn war weg. Aber wir sind wieder gesund, und auf der Tournee passe ich jetzt besonders gut auf.“

Jussi Adler-Olsen auf der Kopenhagener Buchmesse im November 2021 Foto: Kim MatthÄi Leland/Gonzales Photo/Ritzau Scanpix

Wie viel investierst du für deine Bücher in die Recherche?
„Recherche spielt für mich eine große Rolle. Im Herbst 2020 habe ich beispielsweise an einem Kurs für Journalisten teilgenommen, die Kriminalstoff bearbeiten. Da ging darum, wie das Rechswesen funktioniert, wie die Ermittlungsarbeit aufgebaut ist. Das meiste davon war mir aber schon bekannt. Im Herbst 2021 habe ich mich ausschließlich mit den Gegenspielern des Rechtswesen aueinandergesetzt. Ich habe an einem Prozess von Bandenmitgliedern teilgenommen, wo es im Gerichtssaal zu Tumulten gekommen ist. Ich habe darum gebeten, im Gefängnis zu sitzen, um das Gefühl besser nachempfinden zu können. Ich saß in Slagelse und im Vestre Gefängnis ein, und ich kann dir sagen: Kaum fällt die Tür ins Schloss, weiß man, wie es sich anfühlt, eingesperrt zu sein! Und die Zellen in Dänemark sind nicht etwa klinisch sauber. Im Gegenteil, es ist sehr dreckig und die Wände sind beschmiert, auf dem Boden liegen Hinterlassenschaften. Das wünscht man wirklich keinem.“

Hast du mit Inhaftierten gesprochen?
„Ja, ich habe einige Interviews geführt, auch mit bekannten dänischen Straftätern, die in Sicherheitsverwahrung sitzen. Ich habe einmal einen Vortrag über Rache gehalten, an dem auch Peter Lundin teilgenommen hat. Meiner Assistentin war ganz mulmig zumute, mit 30 Schwerverbrechern und einem Polizisten in einem Raum zu sein.“

Jussi Adler-Olsen nimmt sich feste Schreibzeiten, um an seinen Büchern zu arbeiten. Foto: Les Kaner/BAM/Ritzau Scanpix

Knapp 4.000 Menschen sitzen in Dänemark im Gefängnis, Hunderte befinden sich in Sicherheitsverwahrung. Würdest du sagen, jeder hat eine zweite Chance verdient?
„Nein, das finde ich bestimmt nicht. Es gibt Täter, da ist es sehr gut, dass sie nie wieder freikommen. Da ist die Verwahrung auf Lebenszeit sehr sinnvoll. Psychopathen sind oft sehr nette Menschen, die erst in bestimmten Situationen gefährlich werden. Ich finde es aber wichtig, dass diese Menschen in Gefangenschaft ein würdiges Leben führen können. Aber vergeben um jeden Preis? Das habe ich nie gutgeheißen. Verstehen, ja, das ist etwas anderes. Denn für die meisten Menschen gilt: Wir müssen nur in eine Situation kommen, in der wir stark genug unter Druck geraten. Dann sind wir zu Dingen fähig, die wir unter normalen Umständen nie tun würden.“

„Natrium Chlorid“ ist die neunte Folge rund um die Abteilung Q und die Ermittlungen von Carl Mørck. Zehn Bücher wirst du insgesamt verfassen. In welchem Arbeitsprozess steckst du aktuell?
„Ich bin jetzt gerade mit der Recherche fertig und sortiere das Wichtigste. Dann beginnt der Schreibprozess. Mein Ziel ist es, dass das Buch nächstes Jahr an Weihnachten auf dem Markt ist.“

Jussi und Hanne Adler-Olsen Foto: Bax Lindhardt/Ritzau Scanpix

Wie und wo hast du „Natrium Chlorid“ geschrieben?
„Anfang 2020 wohnten wir in unserer schönen Wohnung im Kopenhagener Carlsberg-Viertel, nahe an Kinos und Theatern, wie wir das mochten. Dann hat unser Sohn uns gefragt, ob wir nicht zu ihnen nach Hørsholm ziehen wollten. Das wollten wir nicht, aber er war hartnäckig, das zweite Enkelkind ist unterwegs. Eines Tages waren wir in Hørsholm und ich sah auf der Straße gegenüber ein schönes, großes Haus aus roten Ziegelsteinen auf einem Hügel stehen. Und ich habe gesagt: Wenn das Haus einmal frei wird – das kann ich mir vorstellen. Und was soll ich sagen – kurz darauf wurde das Haus frei und jetzt wohnen wir seit April in Hørsholm. Mitten im Umzug ein Buch zu schreiben, war keine leichte Sache. Aber ich habe mich jeden Tag von 18 bis 20.30 Uhr an den Schreibtisch gesetzt und geschrieben, und so habe ich das Buch vollendet.“

Wie verbringst du Weihnachten – in Hørsholm?
„Ja, mit meiner Frau, unserem Sohn und Familie und engen Freunden. Es gibt Ente, Krustenbraten und Medisterwürste, das ganze Programm. Ich habe durch Corona zehn Kilo abgenommen, ich kann mir das also leisten …“

Der Autor hat am Sonntag im Sønderborghus nicht nur das Publikum begeistert – sondern auch dem Veranstalter des Buchcafés, Allan Breckling, ein Geschenk vermacht: 10.000 Kronen für die Durchführung weiterer Buchcafés.

Das neue Buch von Jussi Adler-Olsen ist auf Deutsch im Verlag DTV erschienen: www.dtv.de.

Im Gespräch auf der Buchmesse in Kopenhagen Foto: Philip Davali/Ritzau Scanpix
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