Zeitgeschichte
75. Jahrestag: Erinnerung an elf hingerichtete Soldaten in Sonderburg
75. Jahrestag: Erinnerung an elf hingerichtete Soldaten
75. Jahrestag: Erinnerung an elf hingerichtete Soldaten
Am 5. Mai 1945 kam es auf dem Minensuchboot „M 612“ zur Hinrichtung von elf deutschen Soldaten. Ein Rückblick auf die tragischen Ereignisse vor 75 Jahren.
Der Übersichtsplan des Ostfriedhofs an der Christianskirche in Sonderburg, Ringgade 98, verzeichnet auf dem Feld D „Tyske flygtninge“, deutsche Flüchtlinge. Es sind aber nicht nur aus dem Baltikum und Ostpreußen Geflohene, die auf dem Wege nach Dänemark oder nach ihrer Ankunft gestorben sind. Sieben der Toten sind gemeinsam Anfang Mai 1945 umgekommen.
Es handelt sich um sieben der elf Besatzungsmitglieder des Minensuchboots M 612, die in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1945 wegen „militärischen Aufruhrs“ im Hafen von Sonderburg erschossen wurden – und das, obwohl schon am 4. Mai 1945 die Kapitulation aller deutschen Streitkräfte im Norden Europas unterzeichnet worden war.
Es war ein Kriegsverbrechen, das trotz einiger Strafprozesse in Hamburg ungesühnt blieb.
Was war am 4./5. Mai 1945 passiert?
Die Kapitulation trat am 5. Mai 1945 um 8 Uhr in Kraft und galt für alle deutschen Truppenteile in Holland, Belgien, Nordwestdeutschland und Dänemark gegenüber den englischen Truppen, nicht aber gegenüber den sowjetischen Truppen.
Die Kapitulation umfasste alle Schiffe in den Häfen, nicht aber die Schiffe auf See, die in einem laufenden Einsatz waren.
Trotzdem fand am Abend des 5. Mai im Hafen von Sonderburg auf dem Schiff „M 612“ ein deutscher Kriegsgerichtsprozess gegen angebliche Meuterer statt.
Während die Dänen in der Stadt die Niederlage der Besatzungsmacht und ihre Befreiung feierten, wurden vor der Stadt elf junge Soldaten im Alter von 20 bis 24 Jahren erschossen, und die Toten mit Hilfe von Torpedoteilen im Alsensund versenkt. Im Laufe der nächsten fünf Monate wurden sieben Leichen an den Strand geschwemmt.
Sonderburg war während der Besatzungszeit ein Stützpunkt der deutschen Marine. In der Sonderburger Kaserne, einer ehemaligen Marinestation, waren 450 Marineinfanteristen untergebracht, im Gymnasium der Stadt weitere 350.
Zahlreiche öffentliche und private Gebäude waren zu Kriegszwecken beschlagnahmt. Auch ein Teil des Sonderburger Schlosses wurde von den Deutschen militärisch genutzt.
Anfang Mai 1945 war hier der Sitz der Führung für die Marine und die Luftwaffe für die deutschen Truppen in Südjütland. Am Abend des 4. Mai wurde die Nachricht von der Teilkapitulation in Sonderburg über das englische Radio bekannt.
Die „Meuterei“ auf der M 612
Die meisten Besatzungsmitglieder des Minensuchboots M 612 befanden sich in ihrem ersten Kriegseinsatz. Sie kamen aus dem Lager Rostock-Bramow. Die jungen Leute im Alter von 18 bis 25 Jahren stammten aus ganz Deutschland, so auch der 1922 in Milaschew/Polen geborene Volksdeutsche Gustav Ritz, der erst 1940 nach dem deutschen Überfall auf Polen als sog. Rückkehrer die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatte.
Am 11. April 1945 wurde das Minensuchboot M 612, das in der Rostocker Neptun-Werft gebaut worden war, in Dienst gestellt. Es war das letzte Kriegsschiff, das die Werft vor Kriegsende verließ. Das Schiff mit seiner jungen, meist unerfahrenen Mannschaft, die aus 98 Matrosen und Offizieren bestand, startete am 25. April 1945 von Rostock, zu einem Zeitpunkt, als Hitlerdeutschland praktisch schon besiegt war.
Das Schiff unter der Führung des Kommandanten, Oberleutnant zur See Dietrich Kropp, wurde nach Kiel verlegt und lag dort einige Tage mit noch einem weiteren Schiff, das auf den Einsatz wartete, im Hafen.
Eigentlicher Plan war die Fahrt ins Baltikum
Während dieser Zeit wurde am 3. Mai um 18.25 Uhr Hamburg den Engländern praktisch kampflos übergeben.
Am Nachmittag desselben Tages stieß die M 612 von Kiel aus in See. Der Kapitän hatte der Mannschaft erklärt, dass er Befehl habe, sich an der Evakuierungsaktion für die eingeschlossenen Truppen im Kurland/ Baltikum zu beteiligen.
Zuerst fuhr das Schiff allerdings in Richtung Norden und kam am Abend des 3. Mai 1945 im dänischen Sonderburg an. Dort im Hafen lagen 14 Schnellboote und einige deutsche Minensuchboote und U-Boote.
Die Nachricht von der bevorstehenden Teilkapitulation hatte sich am 4. Mai auch unter den deutschen Mannschaften herumgesprochen. Trotzdem ließ sich Oberleutnant Kropp von der M 612 nicht vom Kommandanten des Schwesterschiffs M 601 umstimmen, der Kropp erklärte, „der Krieg ist zuende“ , die Aktion Kurland sei jetzt „Quatsch“ .
Am Nachmittag des 4. Mai ging die Fahrt für die M 612 weiter, zuerst aber nach Norden, da Kropp die Absicht hatte, in Fredericia, etwa 70 Kilometer nördlich von Sonderburg, am nächsten Morgen Dieseltreibstoff für die Fahrt nach Kurland zu bunkern. In Fredericia nahm das Schiff im Hafen auch tatsächlich Dieselöl auf und verließ anschließend das Hafenbecken, um an dessen äußeren Teil zu ankern.
Ziel war Kiel – die Endstation Sonderburg
Über Funk erfuhren die Matrosen am Abend des 4. Mai von der Teilkapitulation, die am nächsten Morgen um 8 Uhr in Kraft treten sollte. Sie verabredeten, den Kapitän und die Offiziere am nächsten Morgen festzusetzen
und auf diese Weise den Kurland-Einsatz zu verhindern.
So geschah es auch am Morgen des 5. Mai gegen 8 Uhr, als die Meuterer dem Matrosen Rolf Grümmert, der „Aufklarer“ des Kapitäns (eine Art persönlicher Steward) war, bei seinem morgendlichen Gang zum Kapitän folgten. Anschließend wurden auch die anderen Offiziere festgesetzt.
Die Mannschaft kam zum Ergebnis, das Schiff zurück nach Kiel zu führen. Als das Schiff sich dem Sonderburger Hafen aus Richtung Norden näherte, versperrten deutsche Schnellboote in Höhe der Brücke die Fahrrinne und hinderten die M 612 an der Durchfahrt.
Gefangennahme, Todesurteile, Hinrichtungen
Ein Offizierskommando von den Schnellbootbegleitschiffen „Herrmann von Wissmann“ und „Carl Peters“ unter Leitung des Korvettenkapitäns Georg Stuhr-Christiansen enterte das Schiff.
Die Mannschaft ließ sich ohne Gegenwehr entwaffnen und musste sich auf dem Vorderdeck versammeln. Der I. Offizier, Leutnant Süß, suchte die 20 „Rädelsführer“ heraus, die anschließend sofort eingesperrt wurden.
An Bord des Schiffes, das weiterhin vor dem eigentlichen Hafen lag, fand ab 18.10 Uhr ein Standgericht statt, das von Marine-Oberstabsrichter Dr. Franz Berns geführt wurde. Beisitzer waren Korvettenkapitän Dr. Hans Mettenheimer und Oberbootsmaat Roeder.
Elfmal die Todesstrafe wegen „militärischen Aufruhrs“
Die Urteile entsprachen den Anträgen des 33jährigen Anklägers, Marine-Stabsrichter Adolf Holzwig: Wegen „militärischen Aufruhrs“ elfmal die Todesstrafe und viermal drei Jahre Zuchthaus. Fünf Angeklagte wurden freigesprochen.
Die Urteile wurden durch den Führer der Minenschiffe, Kapitän zur See Hugo Pahl, der im Sonderburger Schloss amtierte, am Abend des 5. Mai bestätigt. Zum Teil wurde berichtet, dass die Urteile auch von Hitler-Nachfolger
Dönitz bestätigt worden seien.
Für das Exekutionskommando meldete sich auf den im Hafen liegenden Schiffen kein deutscher Matrose freiwillig. So kamen am späten Abend des 5. Mai Zwangsrekrutierte auf die M 612, um die Todesurteile zu vollstrecken.
Das Erschießungskommando wurde von Kapitänleutnant Karl-Heinz MerkeI, dem Adjutanten des Führers der Schnellboote, Rudolf Petersen, befehligt. Zwischen 23.25 Uhr und 1 Uhr deutscher Sommerzeit wurden die Soldaten jeweils zu zweit durch das Erschießungskommando auf Deck ihres Schiffes hingerichtet.
Tod nach drei Salven
Die Mannschaft des Schiffes musste antreten und der Erschießung ihrer Kameraden zusehen. Auf den Feuerwerker Helmut Nuckelt wurden drei Salven abgefeuert, ehe er starb.
Drei oder vier zum Tode Verurteilte bekamen von einem Offizier, wahrscheinlich vom Leiter des Erschießungskommandos Karl-Heinz Merkel, einen „Fangschuss", wenn es der Arzt verlangte. Die zu Zuchthaus Verurteilten mussten nach jeder Exekution die Leichen mit Torpedoteilen beschweren und über Bord werfen.
Dann mussten sie für die nächste Exekution das Deck vom Blut reinigen. Als letzter wurde der Kopf der Meuterei, Maschinenmaat Heinrich Glasmacher, erschossen.
Im Sommer 1945 begannen die Leichen der erschossenen Matrosen an Land zu treiben. Die erste wurde am 1. Juni in Møllebugten, der Mühlenbucht, in unmittelbarer Nähe des Erschießungsorts, gefunden. Der Marinesoldat war nicht mehr zu identifizieren. Auch die eigentliche Todesursache war unklar.
„5 Skud“, fünf Schüsse, wurde im Polizeibericht verzeichnet. Am folgenden Tag wurde ein weiterer Matrose bei Arnkilsbro, etwas weiter nördlich, gefunden; am 4. Juni wieder eine Leiche in der Mühlenbucht. Alle drei wurden am 5. Juni 1945 auf dem Ostfriedhof von Sonderburg beerdigt. Zwei weitere Tote, die bei Kær Vig und Kær Vestermark gefunden worden waren, wurden am 8. und 9. Juni beerdigt.
Pastor Jørgensen, Pastor des deutschen Teils der Gemeinde, hatte inzwischen einen Verdacht und schrieb ins Kirchenbuch als Todesursache: „Hinrichtung?“ .
Im Herbst wurden zwei weitere Leichen an Land getrieben und am 29. Oktober 1945 begraben. Zu diesem Zeitpunkt bestand über die Todesursachen kein Zweifel mehr. Im Beerdigungsprotokoll hieß es jetzt kurz und lakonisch „Tötung durch Erschießen“.
Marinejustizmorde ohne Folgen für die Verantwortlichen
Die Todesurteile für die Matrosen der M 612 waren im Übrigen nicht die einzigen, die nach der Kapitulation gefällt wurden. Wie viele der etwa 16.000 Todesurteile der NS-Militärjustiz nach der Kapitulation verhängt wurden, ist aber unbekannt.
Bekannt wurden zum Beispiel die Erschießungen in der Geltinger Bucht. Dort wurden sogar noch am 10.Mai 1945 drei Matrosen wegen „Fahnenflucht“ zum Tode verurteilt und auf dem Schiff „Buea“ erschossen. Die Akteure waren teilweise dieselben wie in Sonderburg.
Vorsitzender des Gerichts war Stabsrichter Adolf Holzwig, der der Ankläger beim M 612-Standgericht gewesen war. Kapitän zur See Rudolf Petersen, der Chef der Schnellboote, bestätigte die Todesurteile gegen die drei fahnenflüchtigen Matrosen.
Das Erschießungskommando wurde wie in Sonderburg von Kapitän zur See Karl-Heinz Merkel geleitet. 1948 kam es vor dem Hamburger Landgericht wegen der Vorgänge auf der „Buea“ zu einem ersten Prozess gegen die Kriegsrichter und Rudolf Petersen.
Die milden Gefängnisstrafen wurden vom damaligen Obersten Gerichtshof der Britischen Zone aufgehoben, da das Hamburger Gericht den Angriff „gegen Menschenwert und Menschenwürde“ nicht hinreichend gewürdigt habe.
Ein zweiter Prozess vor dem Hamburger Landgericht im August 1949 endete mit mehrjährigen Haftstrafen für die Angeklagten. Dieses Urteil wurde nicht umgesetzt, da die Angeklagten beim neu geschaffenen Bundesgerichtshof Revision einlegten. Am 29. Mai 1952 hob der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil mit der Begründung auf, dass eine Rechtsbeugung nicht festzustellen sei.
Die „Meuterer“ der M 612 und deutsche Öffentlichkeit
Die Morde an den jungen Soldaten sind in Deutschland lange kein Thema gewesen. Erst 1966 erfuhr die ostdeutsche Öffentlichkeit davon. In einer groß aufgemachten Serie mit 29 Folgen veröffentlichte die FDJ-Tageszeitung „Junge Welt“ vom 29. Oktober 1966 bis zum 26. Mai 1967 unter dem Titel „Rottenknechte“ detailreiche Einzelheiten vor allem zu den Ereignissen auf der M 612 und zu den Erschießungen in der Geltinger Bucht.
Es folgte 1970 im Deutschen Fernsehfunk der DDR eine fünfteilige Fernsehfilmdokumentation unter dem Titel „Rottenknechte“ . Die ersten drei Teile beschäftigten sich ausführlich mit den Sonderburger Standgerichtsurteilen. Es war eine der umfangreichsten des DDR-Fernsehens.
Die westdeutsche Öffentlichkeit erfuhr von den Ereignissen auf der M 612 durch einen Bericht der Illustrierten STERN im Jahre 1967, Heft 47. Dieser Bericht war vermutlich durch die Veröffentlichungen in der „Jungen Welt“ angeregt worden. Möglicherweise ging er sogar auf identische Quellen zurück.
Lenz verarbeitete Erschießungen in einer Novelle
Der Schriftsteller Siegfried Lenz veröffentlichte 1984 die Novelle „Ein Kriegsende“ als literarische Verarbeitung der Erschießungen. Angeregt hierzu wurde Lenz sicherlich, weil er in dieser Zeit häufig den Sommer in einem Ferienhaus auf der Insel Alsen verbrachte.
Auch in Dänemark sind die Sonderburger Erschießungen literarisch beschrieben worden. Der Schriftsteller Christi an Skov aus Sonderburg verfaßte 1990 die Novelle „Majaften, Maiabend“.
Für beide hervorragenden Schriftsteller gilt, dass sie mitreißende Novellen geschrieben haben, die wirklichen Begebenheiten aber viel grausamer waren als die Fiktion der Erzählungen.
Die Gräber auf dem Sonderburger Friedhof
Zu Beginn der 70er Jahre hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge das Gräberfeld auf dem Ostfriedhof mit 226 deutschen Flüchtlingen, überwiegend Frauen und Kindern, und Soldaten neu angelegt. Die Toten der M 612 kamen nicht alle in benachbarte Gräber, wie sie es sicherlich gewünscht hätten.
Offensichtlich hatten weder der Verein noch dänische Stellen Kenntnis von den gemeinsamen Todesumständen der jungen Matrosen. Die Namen finden sich verstreut über das gesamte Gräberfeld:
Grab Name geboren
52 Bootsmannsmaat Reinhold Kolenda 20.11.1924
53 Matrose Wilhelm Bretzke 20.10.1922
56 Matrosenobergefreiter Rolf Peters 06.02.1924
57 Maschinenmaat Bruno Rust 01.03.1923
58 Matrosenobergefreiter Gustav Kölle 14.07.1923
74 Maschinenmaat Heinrich Glasmacher 21.02.1924
75 Matrosenobergefreiter Gustav Ritz 05.08.1922
Die Leichen der vier anderen Erschossenen, Feuerwerkshauptgefreiter Helmut Nuckelt (geb. am 19.4.1921), Matrosenobergefreiter Gerhard Prenzler (1.4.1924), Matrosenobergefreiter Anton Roth (22.10.1924) und Matrosenobergefreiter Heinz Wilkowski (25.10.1923), wurden nie gefunden. An sie erinnert nichts, weder auf dem Friedhof noch an anderer Stelle der Stadt.
Tatort Sonderburger Hafen – Gedenkstein im Gespräch
50 Jahre nach den Ereignissen fand am 5. Mai 1995 auf dem Friedhof eine kleine Gedenkveranstaltung statt, die auf Initiative Günter Weitlings, des Pastors des deutschen Teils der Gemeinde in Sonderburg, und mir zustande gekommen war.
Jetzt endlich, nach 75 Jahren, besteht nach einem Gespräch mit Sonderburgs Bürgermeister Erik Lauritzen berechtigte Hoffnung, dass – wenn Corona es erlaubt – noch in diesem Jahr am Tatort im Sonderburger Hafen an die ermordeten jungen Soldaten erinnert werden soll.
Zur Einweihung soll auch, wie 1995, die mittlerweile 87-jährige Ida Gatz aus Helmstedt eingeladen werden. Ihr Bruder Gustav Ritz war einer der erschossenen Matrosen.