Deutsch-Dänisch

Korrespondent über wilde Nächte und die bizarren Aspekte deutscher Kultur

Korrespondent über wilde Nächte und die bizarren Aspekte deutscher Kultur

Korrespondent über bizarre Aspekte deutscher Kultur

Kopenhagen
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Wenn Michael Reiters Gesicht am Bildschirm erschien, wusste man: Es geht um Deutschland. Foto: Walter Turnowsky

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Michael Reiter kann auf fast 15 Jahre als „der Mann in Berlin“ für den öffentlich-rechtlichen Sender „DR“ zurückblicken. Bei seinen unzähligen Berichten ist es ihm ein Anliegen gewesen, das Vorurteil vom langweiligen Deutschen ein wenig zurechtzurücken – zum Beispiel mit einem Beitrag über Amateur-Pornos.

Wer regelmäßig die Nachrichtensendungen von „DR“ verfolgt, für den ist das Gesicht von Michael Reiter schon fast gleichbedeutend mit Deutschland. Seit 2009 berichtet er für den öffentlich-rechtlichen Sender mit Base in Berlin über die Bundesrepublik, häufig mit – für einen Großteil des Publikums – überraschenden Informationen.

„Ich wollte zeigen, dass Deutschland auch schräg, bunt und spannend sein kann; mit dem Vorurteil aufräumen, dass Deutschland grau und ein bisschen langweilig ist“, so Reiter.

Rückkehr in das exotische Dänemark

Das Präsens im ersten Satz ist jedoch nicht ganz korrekt; der in Sonderburg (Sønderborg) geborene und zum Teil in Tondern (Tønder) aufgewachsene Reiter lebt seit Anfang August wieder in Kopenhagen – nach 22 Jahren in Berlin.

„Dänemark ist für mich Ausland geworden. Jetzt mache ich das, was ich vor 22 Jahren machte, als ich nach Berlin zog, um ein neues Land kennenzulernen – nur umgekehrt. Jetzt ist Dänemark das exotische Land“, sagt Reiter.

Doch Moment mal, wir würfeln die Geschichte ja vollkommen durcheinander. Denn bevor Reiter nach Kopenhagen zurückkehren kann, muss der junge Michael schließlich erst einmal nach Berlin ziehen. Und dorthin hat es ihn bereits seit seiner Jugend gezogen.

Die Faszination von Berlin

Als 14-Jähriger konnte er bei einer Klassenreise seiner Mutter, die Handelsschullehrerin war, mitfahren. Das war drei Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer.

„Da habe ich Berlin in den letzten Zuckungen des Kalten Krieges das erste Mal erlebt und war sofort extrem fasziniert von dieser Stadt“, erinnert er sich. 

Die Liebe wächst mit der Loveparade

Reiters Mutter stammt aus der Nähe von Varde, sein Vater kommt aus Köln. Die ersten vier Jahre seines Lebens hat er in Hostrup bei Apenrade (Aabenraa) und in Tondern (Tønder) verbracht. Nach der Scheidung der Eltern zog seine Mutter mit ihm in die Nähe von Herning; er besuchte jedoch weiterhin jedes zweite Wochenende den Vater in Tondern. Süderlügum (Sønderløgum) war eine feste Anlaufstelle südlich der Grenze.

Zum Studium in Film- und Medienwissenschaften ging Reiter nach Kopenhagen, doch seine Liebe galt Berlin. In den 90er-Jahren fuhr er regelmäßig zur Loveparade.

„Ich fand das irre spannend und ganz anders, als was man hier so erlebt hat.“

Unverständnis der Studienkollegen

Die Wahrnehmung seiner Studienkolleginnen und -kollegen war ein vollkommen andere: „Sie sagten ‚Was willst du in Berlin?‘ Die sind alle nach London oder Paris gefahren, keiner wollte nach Berlin.“ Das sollte sich ungefähr zehn Jahre später ändern.  

Nach dem Studium war ihm klar, er will für einige Zeit in der deutschen Hauptstadt leben. Einen genauen Plan hatte er nicht: „Vielleicht für ein Jahr oder so“.

Party in Berlin

Die erste Zeit schlug er sich mit Klein- und Kleinstjobs durch. Er war nicht zum Arbeiten, sondern zum Feiern nach Berlin gekommen.

„Es gab viele illegale Partys in irgendwelchen Bruchbuden. Das fand ich spannend. Alles war viel schmutziger, chaotischer und verrückter als in Kopenhagen.“       

Aus dem „oder so“ wurden 22 Jahre. Reiter verliebte sich in Berlin. Er hatte dort sein Zuhause gefunden, konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Die Frau aus Italien

„Es ist einfach schon immer eine super spannende Stadt gewesen, in der man viel Freiraum hatte, die Person zu sein, die du sein wolltest – auch mehr Freiraum als in Kopenhagen.“

Die Liebe galt nicht nur der Stadt, sondern auch einer Frau aus Italien, die wie Reiter zum Feiern nach Berlin gekommen war: „Und dann gab es nur noch mehr Grund, diese Stadt gemeinsam auszuforschen.“  

Ein entscheidender Anruf

Über einige Ecken ist Reiter dann zum Journalismus gekommen. Zunächst berichtet er als Freiberufler für unterschiedliche dänische Zeitschriften und Zeitungen aus Berlin. Er will gerne auch für den großen öffentlich-rechtlichen Sender „DR“ arbeiten. Doch „zig Mails“ an unterschiedliche Redaktionen bleiben unbeantwortet, bis eines Tages im Jahr 2009 doch das Telefon klingelt.

Die deutsche Kultur ist aus dänischer Warte in manchen Aspekten recht bizarr.

Am anderen Ende Leitung ist der langjährige Redakteur beim Radionachrichtenmagazin „Orientering“ Tage Baumann, ein ausgesprochener Deutschlandkenner. Ob Reiter nicht eben für ihn einspringen und einen Expertenkommentar zur Krise bei Opel in den Nachwehen der Finanzkrise abgeben könne.

„Da wurde mir erst einmal ganz mulmig, weil ich dachte, das kann ich überhaupt nicht. Klar weiß ich so ungefähr, worum es geht, aber ich kann jetzt nicht live im Radio als Experte auftreten. Das war für mich vollkommen gaga.“

Zettel an der Wand

Dennoch sagt er Ja, die Chance ist  zu gut, um sie nicht zu ergreifen. Reiter bereitet sich akribisch vor, liest alles über das Thema, vermerkt Notizen auf unzähligen Zettelchen und klebt diese in seinem Zimmer an die Wand. „Dann haben wir die Livesendung gemacht, und ich stand da mit all meinen Zetteln und habe mich dann doch ganz gut geschlagen“, erinnert sich der damals angehende Korrespondent.

Der Korrespondent

Er hat sich nämlich gut genug geschlagen, dass das Telefon nun immer wieder klingelte, und allmählich waren auch andere Redaktionen des großen Medienhauses an der Strippe. 2012 schrieb „DR“ dann eine Stelle als Deutschland-Korrespondent aus, die Michael Reiter bekam.

„Ich finde, wir haben in Dänemark das eigenartige Phänomen, dass wir ein kleines Land mit diesem riesengroßen Nachbarn sind, über den wir kaum etwas wissen. Und auch – aus irgendeinem Grund – kaum etwas wissen wollen.“

Deutschland sei fast ein weißer Fleck auf der Landkarte. Der Korrespondent nahm sich vor, dies zumindest ein wenig zu ändern: „Ich wollte versuchen herauszufinden, wie man Deutschland den Däninnen und Dänen schmackhaft machen kann, und darüber so erzählen, dass der Blick Richtung Süden sich etwas mehr etabliert. Ich habe versucht, überraschende Geschichten aus Deutschland zu erzählen.“

Das bizarre Deutschland

Selbstverständlich habe er über die politischen Entwicklungen berichtet, die wirtschaftliche Bedeutung für Dänemark erklärt. Das Pflichtprogramm, wie Reiter sagt. Wichtig ist ihm jedoch vor allem „die Kür“ gewesen. Er wollte zeigen, dass die Deutschen, in einigen Aspekten nicht so anders sind, oder – und vielleicht vor allem – das Publikum mit dem Anderssein der Deutschen faszinieren.

„Die deutsche Kultur ist aus dänischer Warte in manchen Aspekten recht bizarr. Zum Beispiel der Kölner Karneval, wo die Leute, nicht wie hier, hübsch im Samba durch die Straßen tanzen, sondern sich eine Woche lang sinnlos besaufen und sich irgendwelche Schlumpf-Kostüme anziehen. So etwas wollte ich zeigen.“

Ein Bein in beiden Lagern

Und so hat Reiter in einem Beitrag eine Person in einem blauen Monsterkostüm verfolgt, die über den Kölner Karneval „turnt“, sich volllaufen lässt, an den Umzügen teilnimmt und auch versucht zu erfahren, wo die Tradition herkommt. Am Ende stellt sich heraus, – man hat es vielleicht schon erraten – dass der Korrespondent selbst sich in dem Kostüm verbirgt. Bis heute einer seiner Lieblingsbeiträge.

„Als halber Deutscher habe ich den Eindruck, ich kann auch diese bizarren Seiten vermitteln, ohne, dass es herablassend wirkt.“

Wursthotel und Amateur-Porno

Auch mit einem Bericht über das Heavy-Metall-Festival in Wacken, wollte Reiter mit dem Vorurteil vom immer langweiligen Deutschen aufräumen. Gerne erinnert er sich auch an einen Beitrag über ein Wursthotel in Franken, wo auf den Tapeten ausschließlich Wurst zu sehen ist und auf der Speisekarte auch.

Viel Aufmerksamkeit hat er mit einem Bericht über Amateur-Pornos erzielt. Eine Studie hätte gezeigt, dass Deutsche sich besonders für selbstproduzierte Sexfilme begeistern können.

„Ich hatte erwartet, dass es viele Klagen geben könnte; die sind aber komplett ausgeblieben. Mein Eindruck war, dass die Leute das im positiven Sinne faszinierend fanden.“

Cooles Deutschland – oder cooles Berlin

Und so hat der Korrespondent elf Jahre lang Beitrag für Beitrag ein etwas bunteres Bild von Deutschland gemalt. Hat versucht, die Vielfalt des Landes zu vermitteln, indem er das Publikum überrascht.

„Sie haben gesagt: spannend, lustig, witzig – Deutschland kann auch cool sein.“

Ich habe das Gefühl, dass es den Dänen insgesamt besser geht als den Berlinern oder den Deutschen.

Reiters geliebtes Berlin ist in der Optik vieler Dänen nach der Jahrtausendwende allmählich cool geworden. Zunächst kamen, von Billigflügen angelockt, viele jungen Menschen wie er zehn Jahre früher zum Feiern in die Stadt. Ihnen folgten die nicht mehr ganz so jungen, die sich eine Ferienwohnung zulegten. Kneipen mit deutschen Namen tauchten plötzlich in Kopenhagen auf.

„Ich erlebte da auch einen Unterschied im Interesse, aber spezifisch ein Interesse für Berlin und nicht Deutschland. Das Image von Deutschland insgesamt ist bis auf wenige Ausnahmen bis zum heutigen Tag weitgehend dasselbe geblieben.“

Und das findet der 48-Jährige schade: „Es gibt in Deutschland so unglaublich viel zu erleben. Ich hatte das Glück als Korrespondent viele Ecken des Landes zu erleben, wo ich mir dachte, ich würde mir wünschen, dass andere Leute das auch sehen.“

Abschied von Berlin

Das Interview findet an Michael Reiters neuer Arbeitsstätte, der „DR-Byen“ statt. Vor gut zwei Wochen hat er hier seinen Job als Redakteur beim TV-Nachrichtenmagazin „21 Søndag“ angetreten. Es bleibt die Frage, warum er sein geliebtes Berlin verlassen hat; eine gute Frage, wie er meint, um ein wenig Zeit zu gewinnen.

„Ich bin älter geworden und Berlin ist auch älter geworden.“ Älter meint in Bezug auf die Stadt: „schöner, netter, mainstreamiger und damit auch langweiliger“. Als Familienvater nutzt er das Angebot auch nicht mehr so.

„Berlin hat für mich das verloren, was mich seinerzeit hingezogen hat.“

Unzufriedenheit mit der Schule

Doch es geht noch ein wenig tiefer. Denn nicht in allen Punkten fällt der Vergleich zwischen Deutschland und Dänemark zugunsten seines bisherigen Zuhauses aus.

„Als ich als Vater zweier Kinder mit dem deutschen Bildungssystem und insbesondere den Berliner Schulen in Kontakt kam, habe ich realisiert, hier gibt es etwas, was in diesem Land nicht funktioniert und was für meine Familie und vor allem meine Kinder nicht gut ist.“

Pandemie als Auslöser

Während der Pandemie wurde ihm und seiner Frau dies besonders deutlich. Das Homeschooling seines Sohnes habe unter anderem aufgrund mangelnder Digitalisierung überhaupt nicht funktioniert. Auch den Unterricht empfand er als „altmodisch“.

„Während der Pandemie hatten wir sehnsüchtig nach Dänemark geguckt und festgestellt, im Bildungssystem laufen unseres Erachtens einige Dinge sehr viel besser.“

Erste Erkenntnisse im exotischen Land

Zudem war Reiter an einem Punkt in seiner Karriere, an dem er noch einmal etwas Neues probieren wollte. Und so reifte der Entschluss, in das ihm mittlerweile fremde Kopenhagen zu ziehen. So ganz ist er noch nicht in der dänischen Hauptstadt angekommen. Da kann es schon mal passieren, dass er „hier“ sagt und Berlin meint. Er scheint so einiges an jenem „hier“ jedoch nicht zu vermissen.

„Ich habe das Gefühl, dass es den Dänen insgesamt besser geht als den Berlinern oder den Deutschen“, sagt der nun ehemalige Korrespondent mit leicht fragender Stimme.

Niedergangsstimmung in Deutschland

Hier denkt er nicht nur daran, dass die Anmeldung beim Borgerservice dank Digitalisierung glatt und schmerzfrei über die Bühne gegangen ist. „Sieben Minuten für zwei Kinderpässe. Das ist so absurd schnell, dass das in Deutschland kein Mensch glauben würde“, hat er auf X (Twitter) geschrieben.

„In den späteren Jahren in Deutschland habe ich erlebt, dass die Menschen immer unzufriedener werden. Das hängt wohl mit der wirtschaftlichen Lage zusammen. Es gibt eine verbreitete Stimmung, dass Deutschland sich im Niedergang befindet.“

Und so wurde auch die Familie Reiter Teil jener Statistik, die zeigt, dass in den vergangenen beiden Jahren immer mehr Menschen aus Deutschland nach Kopenhagen und Nordschleswig gezogen sind. In seiner Erforschung des exotischen Dänemarks ist Michael Reiter eines bereits aufgefallen.

„Hier geht es den Leuten wesentlich besser, und deshalb sind sie vielleicht auch netter und höflicher zueinander – zumindest höflicher als in Berlin“, meint er mit Blick darauf, dass die Kopenhagener auch nicht unbedingt aufgrund ihrer großen Zuvorkommenheit zu Weltruhm gelangt sind.

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