Leitartikel

„Über Liebe auf den ersten Blick und Untreue“

Über Liebe auf den ersten Blick und Untreue

Über Liebe auf den ersten Blick und Untreue

Tondern/Tønder
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Beim Tønder Festival herrscht immer gute Stimmung (Archivbild). Foto: Karin Riggelsen

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Ist das nicht einfach ein stinknormales Musikfestival wie alle anderen? Eben nicht, meint Chefredakteur Gwyn Nissen, der zum 50. Geburtstag des Tønder Festivals statt eines üblichen Leitartikels gleich eine Liebeserklärung schreiben wollte.

Es war Liebe auf den ersten Blick, damals, vor 45 Jahren. Als Teenager stand ich spätabends vor einem Musikzelt, lauschte den schottischen Klängen und wartete nur darauf, dass mir jemand aus dem Publikum eine Eintrittskarte für den Rest des Konzerts verkaufte. Schließlich klappte es, und ich wurde hineingelassen – ins Zelt und in die wunderbare Welt der Folkmusik.

Eigentlich war ich in Tondern, um Handball zu spielen. Der deutsche Sportverein vor Ort – die SG West – veranstaltete damals noch das Turnerbund-Tondern-Feldhandballturnier, und ich war mit meiner Mannschaft vom DRG Gravenstein dabei. An das Turnier kann ich mich heute nicht mehr erinnern, aber an die Musik und meine erste Begegnung mit dem Tønder Festival schon. Ich spürte sofort eine tiefe Verbundenheit – eine Verbundenheit, die bis heute anhält.

Zwischenzeitlich bin ich dem Festival zwar untreu gewesen – eigene Kinder und andere Arbeitsfelder kamen dazwischen, und die Zeit reichte nicht ganz aus. Aber die Liebe zum Festival ist geblieben, trotz Fernbeziehung. Die Musik lebte in mir – oder auf dem CD-Player – weiter.

Die Leidenschaft und die Zuneigung zum Festival haben mich durch mein Leben begleitet. In meinen ersten Jahren als Journalist beim „Nordschleswiger“ und später in der Tonderner Redaktion von „Jydske Tidende“ und „JydskeVestkysten“ war es schon eine feste Beziehung.

Unvergessen sind die vielen Backstage-Interviews mit Musikerinnen und Musikern, die internationale Atmosphäre und die lebendige Folkmusik. Vor allem aber die neuen musikalischen Begegnungen. Denn bis heute ist dem Tønder Festival gelungen, sich musikalisch weiterzuentwickeln und Musik nach Tondern zu bringen, die man vorher nicht gekannt hat.

Aber nicht nur die Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne faszinieren. Auch die Menschen davor, dahinter und daneben. Die 3.500 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, überraschende Begegnungen mit fremden Menschen und natürlich die vielen bekannten Gesichter, denen man manchmal nur einmal im Jahr begegnet: Das Tønder Festival verbindet all diese Menschen und sorgt vier Tage lang für eine familiäre Atmosphäre. 

Und was für andere „janz weit draußen“ ist, da, wo Dänemark gleich aufhört, ist für mich und ganz viele andere ein Herzensstück. 

Eine Beziehungskrise hat es zwischen mir und dem Tønder Festival nie gegeben, obwohl die Veranstaltung selbst einige große Krisen durchleben musste. Immer wieder fehlte das Geld, aber irgendwie hat das Festival wiederholt die Melodie gefunden und den Weg in die Zukunft.

Früher war das Festival noch über die ganze Stadt verteilt: In der Turnhalle, im Seminar, in der Wassermühle, in den Zelten, in der Schweizerhalle – ganz Tondern tanzte mit. Stadtfest und Festival schaukelten sich gegenseitig hoch. 

Die Beschränkung auf einen zentralen Festivalplatz war ein großer Einschnitt, aber auch der große Durchbruch. Das Tønder Festival war nie schöner, dynamischer, sportlicher oder besser – und meine Liebe zum Festival ist dadurch nur gewachsen.

Das Tønder Festival ist nicht „irgendein Festival“. Hier werden keine Hits aus der Radio-Konserve gespielt, hier entdecke ich jedes Jahr neue, spannende Musik. Das gibt es vielleicht auch beim Festival aller Festivals in Dänemark, dem Roskilde Festival, aber sonst nirgendwo im Land. 

Der internationale Stellenwert des Tønder Festivals ist nicht zu unterschätzen – und wenn Musikerinnen und Musiker dem Tønder Festival Anerkennung und Lob aussprechen, dann sind es nicht die üblichen „We-love-you-Tønder“-Floskeln. Wer mit dem Tønder Festival mithalten möchte, muss früh aufstehen. Inzwischen kommen sogar andere Veranstalterinnen und Veranstalter nach Tondern, um sich inspirieren zu lassen.

Das Tønder Festival ist wie nach Hause kommen. Hier gibt es Wärme, Geborgenheit, Hygge, Freundschaft, natürlich Musik und eine herzliche Umarmung – und ja, eben auch unzertrennliche Liebe. Tondern, ich häng an dir.

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