Schleswig-Holstein & Hamburg

NS-Studie: Viele Juristen und Polizisten stark verstrickt

NS-Studie: Viele Juristen und Polizisten stark verstrickt

NS-Studie: Viele Juristen und Polizisten stark verstrickt

dpa
Kiel (dpa/lno) -
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Muss man Verbrecher integrieren, wenn man einen neuen demokratischen Staat aufbauen will? Wie sollen Opfer das ertragen? Eine neue Studie fördert beklemmende Fakten zur NS-Vergangenheit von Juristen und Polizisten im Norden zutage. Der Landtag diskutiert nachdenklich.

In Schleswig-Holstein sind Juristen und Polizisten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten noch häufiger und tiefer in das NS-Regime verstrickt gewesen als von Experten erwartet. Dies ergab eine umfassende Studie, die ein Team unter Leitung des Historikers Uwe Danker von der Europa-Universität Flensburg erarbeitet hat. In diesen Gruppen und auch in der Sozialverwaltung des Landes seien Verstrickung und Belastung exorbitant hoch gewesen, sagte Danker bei der Vorstellung der Ergebnisse am Donnerstag in Kiel. Teilweise waren hohe Funktionsträger extrem vorbelastet.

Der Landtag hatte die Studie zur «personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945» in Auftrag gegeben und mit 200 000 Euro finanziert. Eine fast 1200 Seiten starke, zweibändige Buchversion erscheint am 26. Mai. Die Wissenschaftler hatten 482 Lebensläufe detailliert untersucht. Demnach hatten von 91 Juristen 80 Prozent eine NSDAP-Vergangenheit und 50 Prozent waren bei der SA. Viele von ihnen hatten lange - untersucht wurden die Jahre bis 1967 - Führungspositionen inne, zum Beispiel in Staatsanwaltschaften. Von den infrage kommenden 120 Polizeioffizieren sei 1965 die Hälfte extrem belastet gewesen, sagte Danker. Dies habe ihn in diesem Ausmaß sehr überrascht.

«Die teilweise beklemmenden Ergebnisse unserer Arbeit werfen Fragen auf, deren Antworten zugleich verstören wie optimistisch stimmen können», sagte Danker. «Offenkundig gelang es in Schleswig-Holstein, zu erheblichen Teilen belastete, ehemals massiv in NS-Unrecht verstrickte Funktionseliten zu reintegrieren und wieder mit funktionaler Macht auszustatten sowie ausgerechnet mit diesem Personal eine funktionierende Demokratie und einen stabilen Rechtsstaat zu errichten.»

Dies sei gerade für ehemals Verfolgte ein unermesslich hoher, ethischer Preis. Aber demokratische Herrschaft könne auch mit schwer belastetem Ex-Personal aus diktatorischer Gewaltherrschaft aufgebaut werden. Verstrickten und Berufskarrieristen aus einem vorherigen Regime müsse man Integrationsangebote machen, wenn man eine neue Gesellschaft aufbauen wolle, sagte Danker.

Der SPD-Abgeordnete Martin Habersaat bekannte darauf im Blick auf die Opfer ein «Störgefühl». Dieses Spannungsfeld spielte auch in der anschließenden Landtagsdebatte zu dem Thema eine wichtige Rolle.

«An vielen zentralen Stellen saßen NS-belastete Menschen, ehemalige Nationalsozialisten und sogar Männer, die in schwerste und bis heute einmalige Verbrechen verstrickt waren», sagte Barabara Ostmeier (CDU). Wohl wegen großen Personalbedarfs habe die britische Besatzungsmacht auch solche Personen in den Wiederaufbau eingebunden. «Für die Opfer des Nationalsozialismus muss das schrecklich gewesen sein. Und noch heute schaudert es uns bei der Vorstellung, wie viele Personen mit schwerer Schuld an zentralen Stellen in unserem Land saßen.»

«Schleswig-Holstein gehörte früh zu den Hochburgen des Nationalsozialismus und war zum Ende und nach dem Krieg Rückzugsort für führende Nazis», sagte SPD-Fraktionschef Ralf Stegner. «Neben der strafrechtlichen Aufarbeitung stand die neue demokratische Gesellschaft vor der Herausforderung, beim Aufbau des neuen demokratischen Staates auf Menschen angewiesen zu sein, die im Herzen oftmals Demokratiefeinde waren».

Der Grüne Burkhard Peters äußerte den Wunsch, die Studie möge in der Ausbildung von Juristen und Polizisten genutzt werden. «Denn sie zeigt uns auf: Exekutive Funktionseliten stehen in der Gefahr, missbraucht zu werden, sie sind aber auch in hohem Maße anpassungsfähig.»

Der Jurist Jan Marcus Rossa von der FDP zeigte sich angesichts der Fakten erschüttert für seinen Berufsstand. Dass Beteiligte an NS-Sondergerichten nach 1945 wieder Verantwortung trugen, sei besorgniserregend für den Rechtsstaat. Über Jahrzehnte hätten die Gerichte in Deutschland Schreibtischtäter des NS-Regimes vor harten und gerechten Strafen geschützt.

Lars Harms vom SSW sagte, belastetes Personal sei oft ohne Umschweife in Justiz und Polizei übernommen worden. «Nur wer nachweisbar schwerste Verbrechen begangen hatte, musste mit einer Art Wartezeit rechnen. Aber selbst dann war eine spätere Übernahme in den Staatsdienst nicht ausgeschlossen.» Die Studie habe extreme Abgründe offenbart. «Menschen, die verfolgt und gequält wurden, sahen sich nicht nur diesen Altnazis in Justiz, Verwaltung und Politik ausgesetzt, sondern manchmal war man genötigt, mit diesen beruflich zusammenzuarbeiten.» Man habe im gleichen Büro gesessen oder Tür an Tür. «Heute kann man sich das nicht mehr vorstellen.»

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