Gespalten wie ein Atomkern

In der EU ist ein Streit um die Atomkraft entbrannt

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In der EU ist ein Streit um die Atomkraft entbrannt

SHZ
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Foto: Markus Hibbeler Foto: 90037

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Frankreich, Japan und andere Staaten setzen im Kampf gegen den Klimawandel, aber auch in der Absicht einer sicheren Stromversorgung weiter oder verstärkt auf Kernenergie. Deutschland hält dagegen am Atomausstieg fest. Was ist der bessere Weg?

Deutschland am 31. Dezember 2021. Es ist die Nacht, in der drei weitere Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet wurden, darunter das in Brokdorf. „Damit enden über 35 Jahre sichere und zuverlässige Stromproduktion in Schleswig-Holstein“, erklärte Preussen Elektra – bisher Betreiber, nun Abwickler der Anlage – zum Abschied.

Umweltaktivisten heulten dem Meiler keine Träne nach. Sie warfen ihre Sicht der Dinge mit Hilfe eines Beamers und einer Portion Sarkasmus auf die Kuppel des Kraftwerks: „Glück gehabt! Brokdorf hat es ohne Super-Gau geschafft.“ Sven Giegold, der Staatssekretär von Klimaschutzminister Robert Habeck, jubelte auf Twitter: „Heute geht ein Jugendtraum in Erfüllung.“ Erneuerbare Energien ersetzten Atomkraft, Kohle und Erdgas. „Endlich!“

Deutschland verzichtet als einzige Industrienation der Welt vollständig

Längst nicht alle sehen das so. Es gibt Kritik, ob Deutschland tatsächlich den richtigen Weg gewählt habe. Die Debatte über den Ausstieg aus dem Atomausstieg ist voll entbrannt. Denn die Bundesrepublik ist die einzige Industrienation der Welt, die vollkommen auf Kernenergie verzichten und zugleich rasch aus der Kohle will, ohne ein ausgefeiltes und erprobtes Alternativkonzept zu haben.

Die Gesellschaft ist in der Frage gespalten wie ein Atomkern im Kraftwerk. Wortmeldungen unter Giegolds Statement bildeten den Stand der Diskussion ab, die durch deutlich gestiegene Strompreise im Herbst an Fahrt gewann. Befeuert wurde sie durch die Entscheidung der EU, Kernenergie und Erdgas mit dem Gütesiegel der Nachhaltigkeit zu versehen.

Giegold wurde auf Twitter gefragt, ob er die Verantwortung übernehme, wenn es „durch die Abschaltung der KKW zu einem Blackout kommt“ und „wir im Dunkeln sitzen“. Eine Gegenstimme erklärte, Frankreich riskiere permanent Totaleinbrüche bei der Stromversorgung, „weil die Atomkraftwerke dort ständig durch Störungen ausfallen“.

Untergangsfantasien auf beiden Seiten

Begleitet wird der Disput von Untergangsfantasien, wie sie mittlerweile typisch sind für politische Konflikte. Die einen warnen vor dem Ende Deutschlands als Industriestaat, weil es zu wenig Strom geben könnte, die anderen vor der Klimaapokalypse.

Fakt ist: Die Erzeugung einer Kilowattstunde Strom aus Atomkraft verursacht im Vergleich zu Braunkohle und Gas deutlich geringeren Ausstoß an klimaschädlichem Kohlendioxid. Die Bundesrepublik setzt auf Sonne und Wind. Was aber ist an einem Herbst- oder Wintertag, an dem Flaute herrscht und dicke Wolken den Himmel verdecken?

Noch ist das Problem ungelöst, grünen Strom lange und ausreichend genug zu speichern, um tage- oder wochenlange Engpässe zu überbrücken.

Anteil der Erneuerbaren soll bis 2030 um 80 Prozent steigen

Der Energiebedarf steigt aber absehbar rasant an. Schon bald sollen Millionen Autos mit Elektroantrieben Fahrzeuge mit Diesel- und Benzinmotoren ersetzen, was die Nachfrage nach Strom vervielfachen wird. Die Ampelkoalition will den Anteil der erneuerbaren Energien bis 2030 auf 80 Prozent erhöhen, da dann auch noch die Kohlekraftwerke vom Netz gehen sollen. Vergangenes Jahr dürfte er bei rund 42 Prozent gelegen haben.

Der Ausbau der Windkraftanlagen kommt allerdings nur schleppend voran. Dafür sorgen schier endlose Planungsverfahren, Widerstand aus der Bevölkerung und Unsicherheit über die weitere Subventionierung älterer Anlagen. Naturschützer schlagen vielerorts Alarm. Vor allem Rotmilane – 50 Prozent des Weltbestandes der Art leben in Deutschland – sind häufig Opfer der Rotorblätter.

Abstandsregeln halten Bayern frei von Windkraftanlagen

Ein krasses Beispiel liefert Bayern. Vom 1. Januar bis Ende September 2021 waren in dem Bundesland nach Angaben des Wirtschaftsministeriums in München zwar sechs neue Anlagen genehmigt worden. Im selben Zeitraum wurde aber erstmals nicht ein einziger Antrag gestellt, weitere Rotoren aufzustellen. Grund dafür ist eine neue Abstandsregel.

In Schleswig-Holstein kamen vergangenes Jahr nach Darstellung des Bundesverbands Windenergie 67 Anlagen hinzu. Es hat unter den Flächenländern die mit Abstand höchste Leistungsdichte. In Mecklenburg-Vorpommern wurden 2021 den Angaben zufolge 19 Windräder neu installiert, aber 18 vom Netz genommen.

Habeck kündigte Mitte Januar an, den Ausbau Erneuerbarer Energien zu forcieren, auch durch einen Abbau an Bürokratie. Julia Verlinden, stellvertretende Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, meinte zum Ende von Brokdorf:

Künftig wird es „endlich weniger Abschaltungen von Windenergieanlagen geben“, weil deren Strom „jetzt besser nach Süden abgeleitet werden“ könne. Der Aufstellung weiterer Rotoren stünden „nun keine Atomkraftwerke mehr im Weg“.

So oder so: Der Ausbau der Erneuerbaren wird dauern, weshalb die Versorgung zunächst mit Strom aus konventionellen Kraftwerken abgesichert werden muss. Denn Ende des Jahres sollen drei weitere – die letzten von ehemals acht – Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz gehen. Was das heißt, machte Guido Knott, Chef von Preussen Elektra, mit einem Verweis auf die bisherige Leistung von Brokdorf deutlich:

Japan, Finnland und Frankreich wählen den umgekehrten Weg

Zahlreiche Staaten wählen den umgekehrten Weg der Bundesrepublik. Dazu zählen die allermeisten europäischen Länder und Japan – trotz der Reaktorkatastrophe von Fukushima nach einem Tsunami vor elf Jahren, der Ex-Kanzlerin Angela Merkel laut ihren offiziellen Aussagen zum Atomausstieg bewogen hatte. Finnland etwa nahm kurz vor Neujahr einen neuen Atommeiler in Betrieb. Motiv der Staaten ist der Kampf gegen den Klimawandel, aber auch Angst vor Stromknappheit, gar Blackouts, rasant wachsende Energiepreise und in Europa Abhängigkeit von russischem Gas.

Den Atomkraftbefürwortern verlieh der Weltklimarat IPCC Aufwind. Er bezeichnete Kernenergie als eines der Instrumente, um das global verabredete Pariser Ziel zu erreichen, die menschengemachte Erderwärmung bis Ende des Jahrhunderts möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen – statt befürchteter 4,0 Grad.

Das aber heißt nicht, dass sämtliche Mitglieder des IPCC in der Atomkraft Zukunft sehen. Der Klimaforscher Hans-Otto Pörtner, Professor am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, gehört dem Rat an.

Schon von Berufs wegen ist er unverdächtig, den Klimaschutz zu torpedieren. Trotzdem spricht er der Technologie die Nachhaltigkeit ab. Pörtner sagte der „FAZ“, die EU lenke mit dem grünen Gütesiegel für Atomkraft Investitionen in die falsche Richtung – weg von solar- und wasserstoffbasierten Projekten.

Der deutsche Sonderweg

Während sich die FDP zurückhält, schimpfen Grüne und SPD ebenfalls auf Brüssel. Der Klage Österreichs und Luxemburgs schließt sich Deutschland dennoch nicht an. Schließlich will die EU auch Gaskraftwerke als nachhaltig subventionieren lassen, obwohl Methan weitaus klimaschädlicher ist als CO2. Die Bundesrepublik betrachtet Gaskraftwerke als Brückentechnologie, bis die Erneuerbaren so weit seien.

Hans-Josef Fell, Leiter des Expertengremiums Energy Watch Group (EWG), nennt es „völlig absurd, den Wechsel von Kohle und Öl zu Erdgas als Klimaschutzmaßnahme zu betrachten”. Nach Berechnungen der Uni Köln müssen bis 2030 Gaskraftwerke mit einer installierten Leistung von 23 Gigawatt (GW) neu gebaut werden, um die Ziele der Ampel zu erreichen. Das entspreche 23 Atomkraftwerken.

Die Grünen halten an ihrem Kurs fest. Für sie gehört der Kampf gegen die Atomkraft zum Markenkern. Habeck spricht von einer „Hochrisikotechnologie“. Er sagt:

Umweltministerin Steffi Lemke, ebenfalls Mitglied der Grünen, verweist auf einen „parteiübergreifenden Konsens“ gegen die Kernkraft. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sekundiert: „Atommeiler produzieren Abfälle, die über Jahrmillionen radioaktiv strahlen und damit das Leben auf unserer Erde gefährden. Ihre sichere Endlagerung ist und bleibt ungelöst.“

Zudem verweisen alle Gegner des Atomstroms auf die Ausgaben für Wartung, neue Kraftwerksbauten und die Endlagerung, die dem „Märchen von der billigen Energie“ widersprächen. Die Kosten für das finnische Olkiluoto-3 seien von den 1995 angesetzten drei Milliarden auf mehr als elf Milliarden Euro gestiegen, schrieb das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 2019 in einer Studie. Ein Fazit lautete: „Privatwirtschaftliche Investitionen waren in der Vergangenheit stets unrentabel; dies gilt auch für Neuinvestitionen.“

Kernkraftforscherin wirbt für ein Verschieben des Ausstiegs

Die Kernkraftforscherin Veronika Wendland lässt das alles nicht gelten. Im Sommer 2020 verfasste sie gemeinsam mit Rainer Moormann, einer einstigen Ikone der Anti-AKW-Bewegung, einen Appell, in dem beide dafür warben, den Atomausstieg zu verschieben – im Interesse des Klimaschutzes. Ihr Motto lautet: erst raus aus der Kohle, danach aus der Atomkraft.

Wenn es nicht gelinge, signifikante Fortschritte bei Großspeichern zu erzielen, müsse gar über den Neubau von Kernkraftwerken nachgedacht werden, um die Klimaziele zu erreichen, schrieben sie. Wendland meint:

Der Reaktorunfall in Fukushima wäre nach ihrer Einschätzung nicht passiert, wenn japanische Anlagen wie deutsche gebaut worden wären. Hiesige Meiler sind der Wissenschaftlerin zufolge so ausgelegt, dass sie theoretisch einem 10.000-jährigen Hochwasser standhalten müssten. „Fukushima wurde nur für das 100-jährige maximale Flutereignis ausgelegt.“

Anders ausgedrückt: „Hätte Isar-2 in Fukushima gestanden, wäre es glimpflich ausgegangen.“ Das AKW nahe Landshut, das einzig verbliebene in Bayern, soll Ende 2022 abgeschaltet werden.  

„Unwissenschaftliche Irgendwas-kann-immer-passieren-Logik“

Die Expertin, die bis vor einem Jahr dem wissenschaftlichen Beirat der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung angehörte, verweist auf die übrigen Branchen. „Opfer und Umweltbelastungen aus Kernenergie sind gering im Vergleich mit anderen Industrien, die wir auch nicht abwickeln.“ Sie nennt den Einwand eine „unwissenschaftliche Irgendwas-kann-immer-passieren-Logik“, die sich nicht mit den Fakten decke.

Wendland widerspricht auch dem Vorwurf einer „angeblichen Blockade“ der Erneuerbaren durch Atomenergie. Schließlich sei die gesamte politische Förderung auf Wind- und Solarkraft ausgerichtet, Atomkraft habe keine Lobby mehr. Das von den Grünen geforderte Tempolimit brächte ein Zwanzigstel bis Dreißigstel an CO2-Einsparung, die die deutschen Atomkraftwerke bewirkt hätten.

Auch für die Endlager-Frage gibt es eine Lösung

Für regelrecht aufgebläht und „total überhöht“ hält die Forscherin das Problem des Atommülls. Wissenschaftlich spreche viel für eine Langzeitlösung tief im Inneren eines Gesteins, das „die Isolierungs- und Wächterfunktion übernimmt“. In Deutschland existiere längst ein funktionierendes Endlager für hochtoxischen Chemieabfall, über das überhaupt nicht diskutiert werde, „obwohl dieser Abfall um Größenordnungen mehr Volumen hat und selbst in einer Million Jahre immer noch so daliegen wird. Radionuklide zerfallen in dieser Zeit.“ 

Umfragen belegen ein zunehmendes Unbehagen in der Bevölkerung mit dem Atomausstieg: Vor zehn Jahren fanden ihn drei von vier Deutschen richtig, inzwischen ist es ungefähr die Hälfte. Wäre ein Aufschub generell noch möglich? „Dazu bräuchte man eine Atomrechtsänderung und eine Weisung an die Betreiber“, sagt Wendland, wohlwissend, dass auch bei den Energiekonzernen die Meinung vorherrscht: „Das Ding ist durch.“ Sie haben sich längst auf die neue Lage eingestellt.

RWE etwa will nach Angaben seines Vorstandschefs Markus Krebber bis 2030 insgesamt 50 Milliarden Euro in Windkraft, Solarparks und grünen Wasserstoff investieren. Wie hoch ist das Interesse an einem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke? Die Antwort bei RWE ist eindeutig: Null.

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